Türkei: Erdogans größte Angst sitzt hinter Gittern

Seite 2: Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei

Imamoglu und Erdogan haben eines gemeinsam: Sie stammen, wie FAZ-Türkei-Korrespondentin Frederike Böge berichtet, von der konservativen Schwarzmeerküste.

Doch damit nicht genug: Der Moloch Istanbul haben die Biografien der beiden immer wieder indirekt kreuzen lassen. Imamoglu, studierter Betriebswirt, trat 2008 der CHP bei. Er wurde 2014 zum Bürgermeister eines Stadtteils von Istanbul und 2019 erstmals zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt. Er setzte sich in zwei Wahlgängen (der erste wurde von der AKP juristisch angefochten) gegen den Erdogan-Günstling Binali Yildrim durch.

Yildrim ist eine illustre Figur der türkischen Politik: Die Namen seiner Söhne tauchen in den Panama Papers auf, und der türkische Halbweltbetrüger Sedat Peker behauptet, Ekram Yildrm sei in den internationalen Kokainhandel verwickelt.

Der politische Verlust Istanbuls an seine Gegner kann der AKP und Erdogan nicht gefallen haben – sie haben Imamoglu seinen Erfolg nie verziehen. Erdogans politische Karriere begann im Istanbuler Rathaus, und die Kontrolle der Metropole bestimmt den Herzschlag des Landes.

Laut Bülent Mumay wurden Imamoglus Befugnisse eingeschränkt, das Sozialbudget der Stadt Istanbul gekürzt (was eigentlich zu einem Popularitätsverlust aufgrund von Armut hätte führen müssen) und über tausend Durchsuchungen der Stadtverwaltung durch die Behörden. Fahndungserfolge: Fehlanzeige!

Imamoglu, vereint mit seiner CHP, hat die Kraft und den Willen, das politische Erbe des Staatspräsidenten Erdogan anzutreten. Wie die Bündnis 90/Die Grünen nahe Heinrich-Böll-Stiftung in Person ihres Büroleiters Dawid Bartelt einschätzt, ist Imamoglu "der Einzige, der Erdogan gefährlich werden kann".

Konkret: Die politische Landschaft der Türkei spaltet sich in einen säkularen und einen islamischen Teil. Erdogans AKP fischt in den konservativen Regionen, die kurdischen und linken Parteien sind kriminalisiert und marginalisiert. Die PKK ist bis heute politisch handlungsunfähig. Die faschistische Rechte um die MHP ist mit der AKP verbunden.

Übrig bleibt neben der DEM-Partei nur die CHP. Wie Yasar Aydin von der Stiftung Wissenschaft und Politik analysiert, erreicht Imamoglu die unterschiedlichsten Gruppen der Gesellschaft, darunter Religiöse und Säkulare, Männer und Frauen, Kurden und Aleviten. In aktuellen Umfragen liegt die CHP vor der AKP.

Alles eine Frage der Zeit

Der Zeitpunkt scheint nicht zufällig gewählt. Die CHP wollte Imamoglu zu ihrem Kandidaten machen, um für eine kommende Wahl gerüstet zu sein. Sie tat dies in Abwesenheit Imamoglus mit einem überwältigenden Ergebnis. In einem für alle offenen Plebiszit stimmten 15 Millionen, darunter Millionen Nicht-CHP-Mitglieder, für den Sozialdemokraten.

Nach der türkischen Verfassung dürfte Erdogan aufgrund der Amtszeitregelung ohnehin nur bei vorgezogenen Wahlen erneut antreten. Offiziell sind die nächsten Wahlen für 2028 angesetzt, mit einer vorgezogenen Wahl wird von allen Seiten gerechnet.

Denn selten waren die Zeiten so günstig, nach dem Regimewechsel in Syrien, dem Diktatfrieden zwischen Aserbaidschan und Armenien und der aktuellen Situation in der Ukraine erlebt die Türkei einen außenpolitischen Höhenflug, der historisch seinesgleichen sucht. Die Rolle der Türkei, ihr Expansionsdrang nach Afrika und in den Nahen Osten, dürfte zunehmen. Erdogan weiß, dass die Türkei in Zeiten transatlantischer Unruhe gebraucht wird.

Hinzu kommt, dass insbesondere Deutschland die Türkei in der Flüchtlingsfrage umwirbt. Rüstungsgüter im Wert von 250 Millionen Euro wurden 2024 für die Türkei genehmigt.

Der vermeintliche Rückzug der USA schafft ein sicherheitspolitisches Vakuum, Ankara kann es nutzen. Beim Besuch des polnischen Premiers Donald Tusk in Ankara unterstrich Erdogan einmal mehr seinen Anspruch auf eine türkische EU-Mitgliedschaft.

Die Türkei rüstet zudem massiv auf: Die türkische Armee ist laut Global Firepower mit über 2230 Panzern und 884.000 Soldaten bereits die neuntgrößte der Welt. Gleich zwei türkische Konzerne sind nach Zahlen des Sipri-Instituts unter den Top 100 der Rüstungsproduzenten. Zudem ist die Türkei zur Drohnen-Supermacht aufgestiegen.

Imamoglu steht als reformorientierter Sozialdemokrat für einen anderen Weg: soziale Sicherungssysteme statt Expansionsgelüste. Eine Quadratur des Kreises ist freilich in den engen Grenzen eines kapitalistischen Akkumulationsregimes unmöglich.

Spaltung, Crash, Folgen

Insgesamt muss analysiert werden, dass die Kriminalisierung der CHP zur Unzeit kommt. Noch Anfang des Monats sah es so aus, als könne die Türkei zu einem inneren Frieden und einer Einigung mit der PKK kommen. Nun scheint der Ausgang wieder offen.

Die Strategie der Regierung Erdogan scheint einfach: Teile und herrsche. Während Öcalan befriedet werden soll, wird die CHP in den Abgrund getrieben. Die erfolgreiche Spaltung einer multiethnischen Opposition?

Aber auch Erdogan hat Sorgenfalten: Der grassierende Autoritarismus verunsichert die Börse, das Wirtschaftswachstum kühlt ab, die Landeswährung Lira stürzte ab, der Leiindex Borsa Istanbul brach um 7 Prozent ein. Die Kombination aus galoppierender Inflation (Jahresdurchschnitt 2024: 55 Prozent) und drohender Verarmung breiter Gesellschaftsschichten liefert Zündstoff für eskalierende Sozial-Proteste.

Entscheidend dürfte die Frage nach dem Umgang des Westens mit der Türkei sein, denn es steht zu befürchten, dass bei aller Moral das materielle Interesse am Partner Türkei einer folgenschweren Politik im Wege steht.