Türkei: Neue Studentenproteste in Istanbul

Bosporus-Universität in Istanbul. Bild: Bertil Videt, CC BY-SA 3.0

Präsident Erdogan setzt "Zwangsverwalter" für englischsprachige Bosporus-Universität ein. Die Reaktionen sind deutlich

Erneut greift der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Wissenschaftsfreiheit an. Diesmal trifft es die renommierte, englischsprachige Bogazici Universität in Istanbul. Per Dekret bestimmte Erdogan seinen AKP-Gefolgsmann Melih Bulu zum neuen Rektor der Hochschule, die auch als Bosporus-Universität bekannt ist. Bulu gehört zu den Gründern des AKP-Bezirksverbands im Istanbuler Stadtteil Sarıyer und versuchte 2015 in Istanbul für die AKP ein Direktmandat zu erlangen.

Die Studierenden der Universität begehren auf und bezeichnen Bulu in Anlehnung an die per Dekret abgesetzten HDP-Bürgermeister als "Zwangsverwalter". Sie spielen damit auf einen politischen Vorgang an: Überwiegend im Osten der Türkei hatte die türkische Regierung die gewählten Bürgermeister der Opposition abgesetzt und durch AKP-treue Verwalter ersetzt.

Ein Video der Süddeutschen Zeitung zeigt die Proteste der Studenten gegen die Einflussnahme des Präsidenten.

Bis 2016 war es üblich, dass die Rektoren der Universitäten intern gewählt werden. Doch 2016 versuchte die AKP-Regierung mit Massenentlassungen vermeintlich oppositioneller Lehrkräfte an Schulen und Universitäten sowie Zwangsexmatrikulationen den Bildungssektor auf Linie zu bringen.

Rund 2.200 Akademiker unterzeichneten 2016 einen Friedensaufruf für die Kurdengebiete. Statt sich ernsthaft mit dem Begehren der Professoren und Lehrkräfte zu befassen, begannen Massenentlassungen und Verhaftungen. Wie üblich wurde auch ihnen "Unterstützung und Propaganda für eine terroristische Vereinigung" vorgeworfen. Einigen Akademikern gelang die Flucht ins Ausland, bevor die Regierung ihre Pässe einzog. Sie gründeten die Gruppe "Akademiker für den Frieden - Deutschland" und machten auf die Situation ihrer Kollegen und Kolleginnen aufmerksam.

Unter dem üblichen Vorwand, entweder den Islamprediger Gülen oder die PKK oder beide gleichzeitig zu unterstützen, verloren Tausende ihre Jobs und ihre Pensionsansprüche. Es folgten die Verbannung der Evolutionstheorie aus den Schulbüchern und die schrittweise Islamisierung der Lehrpläne. Seit 2016 wurden insgesamt 15 private Hochschulen geschlossen und ihre Vermögenswerte konfisziert.

Eliteuniversität ist Erdogan ein Dorn im Auge

Doch diesmal könnte die erneute Einflussnahme Erdogans einen Flächenbrand unter den Studierenden auslösen. 1863 wurde die Bogazici-Universität unter dem Namen Robert College als erste US-amerikanische Universität außerhalb der Vereinigten Staaten gegründet. 1971 wurde sie nach dem Bosporus (türk. Boğaziçi) benannt, an dessen europäischem Ufer sie liegt. Die Uni hat den Ruf einer liberalen, weltoffenen Eliteuniversität mit hohem akademischem Standard. Nur Abiturienten mit Bestnoten können dort studieren.

Viele in Deutschland lebende türkische Akademiker haben an dieser Universität studiert. Seit 1980 wurde der Rektor der Universität von den Universitätsangehörigen selbst gewählt. Die Lehrkräfte der Universität bezeichneten die Ernennung Bulus per Dekret als Verletzung der Wissenschaftsfreiheit und Verstoß gegen die demokratischen Werte der Universität.

Rund tausend Studierende versammelten sich am Montag vor der Bogazici-Universität und skandierten Parolen wie "Er wird gehen, wir bleiben!" Studenten anderer Universitäten solidarisierten sich mit den Studierenden der Bosporus-Universität. Die Polizei versuchte die Proteste mit Gummigeschossen, Tränengas und Wasserwerfern zu unterbinden. 17 Personen wurden festgenommen, nach elf weiteren wurde gefahndet. Die Zeitung Cumhuriyet veröffentlichte die Folgen von durchsuchten Studentenwohnungen: durchbrochene Wände, zerstörte Wohnungstüren.

Für die nächsten Tage wurden ungeachtet der Verhaftungen weitere Proteste angekündigt. Erdogan war die Bogazici-Universität schon länger ein Dorn im Auge, galt sie doch "als eine der letzten Bastionen intellektueller Entfaltung ohne Angst vor Repressalien". Die Studenten der Uni beteiligten sich immer wieder an Protesten und Kritik an der nationalistisch-islamistischen Ausrichtung der AKP. 2018 protestierten Studierende der Uni gegen den türkischen Einmarsch in Afrin in Nordsyrien. Über 20 Studenten wurden daraufhin festgenommen.

Den Ausnahmezustand in der Türkei, der quasi seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 anhält, benutzt Erdogan nach wie vor für Säuberungsaktionen in allen gesellschaftlichen Bereichen. So hofft er, einem Sturz entgegenwirken zu können. Denn wenn er einmal abgesetzt ist, lauern, ähnlich wie beim abgewählten US-Präsidenten Donald Trump, zahlreiche Verfahren zu Korruption, Geldwäsche, Justizbehinderung sowie Beeinflussung, Machtmissbrauch, Menschenrechtsverletzungen etc. auf ihn. Ein Gefängnisaufenthalt in einer Luxuszelle unbestimmter Dauer wäre ihm fast sicher. Oder wartet der internationale Gerichtshof in Den Haag schon?

Immerhin aber kann sich Erdogan der Unterstützung Deutschlands sicher sein. Der CDU-Anwärter auf den Kanzlerposten, Friedrich Merz erklärte schon vorausschauend, er wolle die Türkei stärker an die EU binden, ähnlich der Großbritannien-Politik Brüssels.

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