Türkei: Regierung enteignet Tausende von Häusern in Cizre

Karte: OpenStreetMap/CC-BY-SA-2.0

Vor der UN-Untersuchungskommission kommen die Abrissbagger

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Die mehrheitlich von Kurden bewohnte Stadt Cizre war bis vor ein paar Monaten in Deutschland kein Begriff. Nun gerät sie immer wieder in die Schlagzeilen. Anfang dieses Jahres wurden mehr als hundert Menschen in den Kellern von Cizre im Stadtteil Nur von der türkischen Armee bei lebendigem Leibe verbrannt. Die Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisation erhoben schwere Vorwürfe gegen die türkische Regierung, die aber Menschenrechtsverletzungen stets dementierte. Nun hat sie einer Untersuchung durch eine UN-Kommission zugestimmt. Aber vorher kommen die Abrissbagger.

Cizre unterlag 79 Tage einer Ausgangssperre, wo das türkische Militär und Spezialeinheiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit wüteten. Viele Häuser wurden zerbombt, das zeigen zahlreiche Videos im Netz wie beispielsweise das von BBC-Reporter Jeremy Bowen, der in der Bostanci-Straße die Verwüstung filmte.

Nun soll das, was noch steht, dem Erdboden gleich gemacht und damit zugleich die Spuren des Staatsterrors vernichtet werden. Rund 4000 Häuser und Gebäude, vor allem im Stadtteil Nur, wurden enteignet und zu öffentlichem Eigentum erklärt. Die Besitzer und Mieter wurden dazu aufgefordert, die Gebäude binnen drei Tagen zu räumen. Offizielle Stellen begründeten dies damit, dass die Häuser stark beschädigt seien.

Die Zeitung Yükesekova haber berichtete am 1. Juni, dass viele betroffene Bewohner Widerspruch beim Gouverneursamt einlegten. Nach ihren Aussagen waren viele Gebäude nicht oder nur wenig beschädigt. Der Widerspruch wurde aber nach Aussage von Rechtsanwalt Mehmet Tül ohne Angabe von Gründen abgelehnt. Stattdessen begannen am Donnerstag die Abrissarbeiten unter militärischem Schutz. Begonnen wurde in der Straße Kolami. In der Bostanci-Straße, wo sich einige der Keller befanden in denen die Menschen in den Kellern verbrannten, haben die Bulldozer schon die Spuren beseitigt.

Ob in der Kolami- Strasse ähnliche Gräuel stattfanden, die schnell vertuscht werden sollen, ist unklar.

Diese Karte von Cizre zeigt, wie groß das Gebiet ist (blaue Felder), das enteignet wurde und dem Erdboden gleichgemacht werden soll. Auch in Cizre befinden sich viele historisch wertvolle Gebäude, unter anderem auch das Grabgebäude von Mem û Zin, eines kurdischen Liebespaares, das nicht zusammen sein durfte. Die Sage stammt vermutlich aus dem 14. Jahrhundert und hat für die kurdische Bevölkerung eine große symbolische Bedeutung. Für die Kurden symbolisiert Mem das kurdische Volk und Zîn das kurdische Land, die durch unglückliche Umstände voneinander getrennt bleiben und keine Einheit werden können.

Das Grab von Mem û Zin, Cizre, 2014. Bild: Elke Dangeleit

Viele junge Liebespaare trafen sich an dem Grab. Es würde nicht verwundern, wenn auch diese Gedenkstätte den Baggern zum Opfer fiele, verkörpert sie doch eine wichtige kurdische Komponente ihrer Kultur.

Die verbliebenen Menschen in Cizre sind aufgebracht. Sie haben ihre Kinder verloren, oder Kinder ihre Eltern. Sie haben 79 Tage unter der Ausgangssperre ausgeharrt, ohne Strom, Wasser, Nahrungsmittelversorgung. Die türkischen Militärs schossen auf alles, was sich bewegte. "Diese Dinge kommen von Erdogans Kopf. Mein Vater war kein Terrorist, er war ein Zivilist, ein Bürger", sagt ein junger Kurde. Er zeigt die ID-Karte seines Vaters. "Schau, die türkische Flagge ist auf seiner ID-Card, nicht die der PKK."

Rojnewsagency hat ein sehr bewegendes Video veröffentlicht, in dem Überlebende und Augenzeugen von dem Staatsterror berichten (mit englischen und türkischen Untertiteln).

Die Oppositionspartei HDP hat nun ein Fotoalbum zu den Zerstörungen an die Abgeordneten des Europaparlaments und die parlamentarische Versammlung des Europarates gesandt. Rund 92 Fotos dokumentieren das Ausmaß der Zerstörungen. Nachdem die Ausgangssperre aufgehoben wurde, begab sich eine Delegation der HDP nach Cizre. Im Anhang des Fotoalbums gibt es noch mündliche Berichte in Türkisch und Englisch, die von zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammengestellt wurden.