Türkei: Weiter auf dem Weg zum Polizeistaat?
Sogenannte Nachbarschaftswächter werden mit Befugnissen von Hilfspolizisten ausstattet und bewaffnet
Es steht schlecht um das einst beliebte Urlaubsland der Deutschen. Das bescheinigen Erdogan mittlerweile sogar konservativ-nationalistische Politiker der Opposition. Trotz sinkender Wählergunst setzt Erdogan weiterhin auf Nationalismus, Unterdrückung und Bespitzelung der Bevölkerung. Mit einer ihm loyalen Hilfspolizei will er den Staat vor der Bevölkerung schützen.
"Blockwarte" als Hilfspolizisten
Mitte Juli verabschiedete das türkische Parlament mit den Stimmen der regierenden Allianz aus AKP und MHP ein Gesetz, das künftig die sogenannten Nachbarschaftswächter (türk.: Bekciler) mit Befugnissen von Hilfspolizisten ausstattet und sie bewaffnet. Dies sei ein direkter Wunsch des türkischen Präsidenten gewesen, bestätigte Innenminister Süleyman Soylu.
Anfang Januar erklärte Erdogan, sie könnten die Ordnung in den Städten nicht länger nur mit den traditionellen Sicherheitskräften gewährleisten, sie bräuchten neue Methoden. Die Opposition kritisiert, damit würde man eine parallele Erdogan-treue Polizeitruppe schaffen und einem Polizeistaat wieder ein Stück näherkommen. "Ein Nacht-Beobachtungshorror hat begonnen", twitterte Lütfü Türkkan, Abgeordneter der oppositionellen nationalistischen IYI-Parti.
Die ca. 30.000 Nachbarschaftswächter rekrutieren sich meist aus jungen Männern mit Verbindung zu den Jugendverbänden der AKP und MHP. Sie kommen in Großstädten wie Istanbul, Ankara, Izmir und im kurdischen Südosten, wie z.B. in Diyarbakır und Mardin zum Einsatz. In den kurdischen Städten hat die Bevölkerung bereits schlechte Erfahrungen mit den Bekcis gemacht. Die Taz berichtet, es gebe "mehrfach Berichte, wonach Leute zusammengeschlagen oder unberechtigt festgehalten wurden".
Erst im November 2019 entschied zuletzt ein Gericht in Izmir, dass die Nachbarschaftswächter nicht das Recht haben, Ausweiskontrollen durchzuführen. Das Gericht bezog sich auf einen Vorfall in einem Park in Izmir, bei dem Wächter zwei junge Leute festgehalten und ihre Ausweise verlangt hatten.
Nachbarschafts- oder Nachtwächter gibt es schon lange. Bereits im Osmanischen Reich engagierten Gewerbetreibende meist ältere Männer 'Amcas' (dt. Onkel), die nachts unbewaffnet mit Trillerpfeifen ausgestattet in ihren Vierteln durch die Straßen patrouillierten und Einbrüche verhindern sollten. In türkischen Romanen fanden sie Erwähnung wie z.B. in der historischen Volkserzählung über den Istanbuler Nachtwächter Bekci Bâbâ von 1875.
In Filmen der 1950er und 1960er Jahre firmierten sie als Statisten. 2008 wurden die ca. 8000 Bekciler auf Weisung von Erdogan als antiquiert abgeschafft und in den Polizeidienst übernommen. Nach dem Putsch 2016 wurden sie vom AKP-Regime wieder eingeführt und mit wesentlich mehr Rechten ausgestattet.
Erdogan sagte damals, er wolle "die Trillerpfeifen der Nachbarschaftswache nachts wieder hören," und führte sie per Dekret wieder ein. 2017 wurden 9.000 Wächter rekrutiert, 2018 und 2019 je weitere 10.000. 2020 sollen sie um weitere 20.000 Mitglieder aufgestockt werden.
Nicht älter als 30 Jahre - "eine Art Frühwarnsystem"
Waren es damals ältere Herren, die ihren Kiez vor Einbrechern schützten, dürfen die Bekcis heute nicht älter als 30 Jahre sein. Waren die Bekciler damals unbewaffnet, sind sie heute uniformiert und mit Schusswaffen ausgestattet. Sie dürfen nun Ausweiskontrollen, Personen- und Fahrzeugdurchsuchungen vornehmen und Verdächtige bis zum Eintreffen der Polizei festhalten. Sie sollen polizeilich gesuchte Personen lokalisieren und 'öffentliche Zusammenkünfte' verhindern, die die öffentliche Ordnung stören könnten.
Die Taz berichtet, die Wächter würden "als eine Art Frühwarnsystem genutzt, die melden, in welchem Viertel sich widerständisches Verhalten entwickelt". Das erinnert an die Blockwarte in Nazideutschland, die ebenfalls in den Nachbarschaften nach potenziellen Gegnern des Naziregimes und Zusammenkünften Ausschau halten sollten. Der Denunziation ist damit Tür und Tor geöffnet. Kritik kommt interessanterweise nicht nur von der demokratischen Opposition.
Die Junge Welt berichtet, der Abgeordnete der IYI-Parti, Mehmet Metanet Culhaoglu, hätte vergangene Woche im Parlament kritisiert, die Wächter würden sich in den Lebensstil der Bevölkerung einmischen, "ähnlich den Sittenwächtern im Iran". Die Erdoganschen Hilfspolizisten werden daher in Anlehnung an die berüchtigten iranischen Revolutionsgarden auch als "türkische Pasdaran" bezeichnet.
Der HDP-Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioglu kritisierte, die Wächter würden während der dreimonatigen Ausbildung nur kurz über Menschenrechte aufgeklärt. "Das Gesetz zur Hilfspolizei sei nicht dazu da, die Menschen oder Städte zu schützen, das Gesetz schütze vielmehr den Staat vor seinen Bürgern."
Kontrolle
Das neue Gesetz diene vor allem dazu, die Opposition zu bespitzeln und unter Kontrolle zu halten, zumal es den Nachbarschaftswächtern auch die Befugnis erteilt, Demonstrationen und Kundgebungen zu verhindern.
Menschenrechtsaktivisten und Juristen kritisieren das neue Gesetz deswegen scharf. Die renommierte Anwältin und Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin befürchtet, dass in einer Zeit, in der Folter und Gewalt als legitimes Mittel eingesetzt wird, mit den neuen Befugnissen der Wächter die staatliche Gewalt noch weiter zunehmen wird. Eine Abgeordnete der Opposition befürchtet zudem, die Wächter könnten die nun erlaubten Leibesvisitationen zur sexuellen Belästigung von Frauen missbrauchen.
Murat Yılmaz vom Verein progressiver Juristen (ÇHD) ist der Meinung, die Regierung wolle sich eine Parallelarmee aufbauen:
"In diesem Land gibt es bereits genügend Polizeibeamte, in jeder Nachbarschaft steht eine Polizeiwache. Wenn dennoch neue Stellen für Hilfspolizisten geschaffen werden, obwohl sie nicht nötig sind, dann ist dies die Privatarmee der AKP."