Türkei vor Stichwahl: Erdogans Thron wackelt

Ausgezählt und eingespeist wurden zuerst die Ergebnisse aus den Hochburgen der Regierungspartei. Foto: ANF

Keine absolute Mehrheit für den Noch-Präsidenten. Manipulationsvorwürfe stehen im Raum: Er soll die staatliche Nachrichtenagentur angewiesen haben, falsche Zahlen zu verbreiten.

Der türkische Wahlkrimi dürfte mit einer Stichwahl am 28. Mai fortgesetzt werden: Nach Auszählung von mehr als 90 Prozent der Stimmen hatte der bisherige Präsident Recep Tayyip Erdogan keine absolute Mehrheit erreicht. Er lag nach Zahlen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu knapp unter 50 Prozent und nur gut fünf Prozentpunkte vor seinem Hauptherausforderer Kemal Kilicdaroglu.

Die Opposition hatte Anadolu im Laufe des Abends vorgeworfen, falsche Zahlen zu verbreiten. Nach ihren Angaben lag Kilicdaroglu am Sonntagabend nach Auszählung von rund 130 000 Wahlurnen bei 47,7 Prozent – Erdogan nur bei 45,8 Prozent.

Der Journalist Murat Yetkin erhebt schwere Vorwürfe gegen Erdogan und Anadolu: Nach seinen Informationen habe der Präsident die Agentur angewiesen, solange eine Differenz von mindestens zehn Prozent zu seinen Gunsten anzugeben, bis er eine Erklärung abgebe, berichtete am Sonntagabend die Zeitung Birgün. Gewählt wurde an diesem Sonntag sowohl ein neuer Präsident als auch ein neues Parlament.

Homepage der Wahlbehörde plötzlich nicht mehr erreichbar

Gegen 21 Uhr war die Homepage der türkischen Wahlbehörde YSK plötzlich nicht mehr erreichbar gewesen. Oppositionelle glaubten nicht an eine technische Störung, sondern gingen von einem Täuschungsmanöver und Manipulationen zugunsten des Noch-Präsidenten Recep Tayyip Erdogan aus. Kemal Kilicdaroglu (CHP), Kandidaten eines Sechs-Parteien-Bündnisses, schien auch nach staatsoffiziellen Zahlen gegenüber Erdogan aufzuholen, da zuerst die Ergebnisse aus den Hochburgen der Regierungspartei AKP ausgezählt und veröffentlicht worden waren.

"Die Taktik ist seit Jahren die gleiche", erklärt dazu der österreichische Journalist Max Zirngast, der die Türkei kennt und 2019 drei Monate dort inhaftiert war. "Zuerst werden jene Urnen ins System gespeist, bei denen Erdogan bzw. die AKP vorne ist."

Erdogan lag zwar offiziell noch knapp über 50 Prozent, bevor die Homepage der Wahlbehörde ausfiel. Gesungen und Halay getanzt wurde da aber schon im Lager der Opposition – zum Beispiel auf der Berliner Wahlparty der Grünen Linkspartei (Yesil Sol Parti) und des "Bündnisses für Arbeit und Freiheit", das Kilicdaroglus "Sechsertisch" unterstützt, weil die Abwahl Erdogans für alle Beteiligten Priorität hat.

Auch die Frauenbewegung will Erdogan dringend loswerden

Das ist auch ein zentrales Anliegen der Frauenbewegung. So fiel auf der Wahlparty immer wieder die kurdische Parole "Jin Jiyan Azadi" –"Frau, Leben, Freiheit!"

Auch das kurdische Wort "Berxwedan" für "Widerstand" war mehrfach zu hören. Auf Türkisch wurde gerufen: "Katiller halka hesap verecek" - "Die Mörder werden vom Volk zur Rechenschaft gezogen".

Viele der im Kreuzberger Südblock versammelten türkisch- und kurdischstämmigen Berlinerinnen und Berliner hatten bei der letzten Türkei-Wahl in den Konsulaten für die Demokratische Partei der Völker (HDP) gestimmt, die inzwischen kurz vor einem Verbot steht und daher dieses Mal beschlossen, unter dem Dach der Grünen Linkspartei anzutreten.

Etliche Linke mit familiärem Bezug zur Türkei und den kurdischen Gebieten, die in Deutschland leben, mussten in letzter Zeit auf Reisen zu Angehörigen verzichten, weil das unter Umständen längere Haft wegen Vergehen wie "Präsidentenbeleidigung" in Sozialen Netzwerken oder vermeintlicher "Terrorpropaganda" in Form von Regierungskritik bedeutet hätte. So freuten sich im Zusammenhang mit dieser Wahl viele auf ein Ende der drohenden Repression, auch wenn eine Präsidentschaft Kilicdaroglus noch keine Revolution wäre.

Am späteren Abend gestand auch die Nachrichtenagentur Anadolu ein, dass Erdogan bei zunehmender Auszählung auf weniger als 50 Prozent gefallen war. Nach 23 Uhr lag Erdogan nach Anadolu-Zahlen bei 49,67 Prozent, sein Hauptkonkurrent Kilicdaroglu bei 44,59 Prozent und der dritte Kandidat Sinan Ogan bei 5,29 Prozent. 93 Prozent der Wahlurnen galten zu diesem Zeitpunkt als ausgezählt.

Opposition wirft AKP Sabotage der Auszählung vor

Knapp unter 50 Prozent blieb auch die bisherige Regierungskoalition aus der islamo-nationalistischen AKP und der ultranationalistischen MHP, deren Anhänger auch als "Graue Wölfe bekannt sind. Dabei entfielen im "Cumhur"-Bündnis 35,67 und 10,33 Prozent auf die MHP. Das von der CHP geführte "Millet"-Bündnis kam auf 34,88 Prozent, das "Bündnis für Arbeit und Freiheit" auf 9,98 Prozent. Weitere Parteien scheiterten deutlich an der Sieben-Prozent-Hürde.

Manipulationsvorwürfe gibt es reichlich: Die führende Oppositionspartei CHP warf am Wahltag auf einer Pressekonferenz in Ankara der AKP vor, mit einer gezielten Blockiertaktik die Auszählung von Stimmzetteln zu sabotieren. Dafür sei ein standardisiertes Einspruchsschreiben vorbereitet worden, um in allen Wahllokalen, wo die Opposition deutlich vorn liegt, ohne Angabe von Gründen eine neue Auszählung zu verlangen.

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