Türkische Lira stürzt weiter ab
Die Regierungspartei AKP verliert an Wählergunst
Die türkische Lira ist im kontinuierlichen Abwärtstrend. Der Währungsverfall hat weitreichende Folgen: Einfuhren verteuern sich, Unternehmensgewinne sinken, die Kaufkraft nimmt ab. Die Inflationsrate liegt bei zwölf Prozent. Experten machen Präsident Erdogan dafür verantwortlich. Die Regierungspartei AKP verliert immer mehr an Wählergunst.
8,88 türkische Lira bekam man am 14. September für 1 Euro. Die Abwertung der Lira geht weiter. Ein Finanzexperte der Commerzbank sieht den Grund vor allem in der Haltung Erdogans. Um die Währung zu stabilisieren, müsste die Zentralbank CBT die Zinsen erhöhen. Erdogan ist jedoch als überzeugter Anhänger der Muslimbruder gegen jegliche Erhöhung der Zinsen.
Indirekt hat die CBT die Zinsen an Erdogan vorbei schon erhört, indem sie die Nutzung ihres Zinskorridors wieder aufnahm, um der Wirtschaft eine Verschnaufpause zu gewähren. Allerdings wird dies nicht von langer Dauer sein, da sind sich die Finanzexperten einig. Allein die im Jahr 2020 zurückzuzahlenden türkischen Auslandsschulden betragen derzeit rund 170 Milliarden Dollar. Verfügbar sind aber nur derzeit nur 11 Milliarden Dollar freie Devisenreserven.
Letztlich gäbe es keinen anderen Weg als Verhandlungen mit dem IWF aufzunehmen, um die türkischen Banken und die Wirtschaft zu retten, resümiert der Finanzexperte der Commerzbank.
Insgesamt beträgt die Auslandsverschuldung 430 Milliarden Dollar. Eigentlich sollte schon 2018 Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak mit dem 2016 gegründeten Staatsfonds die Türkei vor dem Bankrott retten. In dem Staatsfonds sind wesentliche Stützen der türkischen Wirtschaft wie zum Beispiel die türkische Post, die Erdölgesellschaft, die Bahn, die Börse und die staatliche Lotterie, Firmen und Ländereien enthalten, die zuvor vom Finanzministerium verwaltet wurden.
Der Fonds besitzt z.B. 49 Prozent von Turkish Airlines, 51 Prozent der Halk Bank und Anteile von Turk Telekom. Im Juni dieses Jahres nahm die Zahl der Firmenschließungen um 35 Prozent zu. Die Anzahl der Nicht-Erwerbstätigen übersteigt mittlerweile die der Erwerbstätigen.
Nach Angaben des staatlichen Statistikamts nahm die Zahl der Beschäftigten in diesem Jahr um rund 2,5 Millionen ab. Das ist beileibe nicht nur auf die Corona-Pandemie zurückzuführen. Die Wirtschaftspolitik Erdogans und seines Schwiegersohns Albayrak und die aggressive Außenpolitik mit den hohen Militärausgaben für seine völkerrechtswidrigen Militärinterventionen in Nordsyrien und im Nordirak haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass ausländisches Kapital im Eiltempo abgezogen wird.
Auch kleine Sparer meiden die türkische Lira und legen ihr Geld in Europa an. Da die Reserven der Zentralbank aufgezehrt sind, wirft die Regierung ein Auge auf die Devisenanlagen. Gut möglich, dass die Regierung die Ersparnisse der Bevölkerung per Dekret oder durch diverse Tricks einkassiert.
AKP sinkt in der Wählergunst
Die Umwandlung der Hagia-Sophia-Kirche in eine Moschee hatte für Präsident Erdogan nicht den gewünschten Effekt, in der Wählergunst zuzulegen. Auch die Umwandlung der aus dem sechsten Jahrhundert stammenden Chora-Kirche in Istanbul vermochte die Bevölkerung nicht für die Regierung begeistern.
Denn die Auswirkungen der Wirtschaftskrise bekommen die Menschen immer deutlicher direkt in ihrem Geldbeutel und auf ihrem Essenstisch zu spüren. Versprechen, durch die Erdgasfunde im Schwarzen Meer würde alles gut, erweisen sich als Luftnummer: Das dortige Erdgas kann frühestens in fünf Jahren gefördert werden und soll höchstens dreißig Milliarden Dollar einbringen, eine Summe, die lediglich den Verlust in der Tourismusbranche im laufenden Jahr ausgleichen könnte - im ersten Halbjahr 2020 brach die Zahl der Besucher aus dem Ausland um 75 Prozent ein.
So lässt sich die Verarmung der breiten Bevölkerung nicht bekämpfen. Eine Umfrage des Meinungsforschungszentrum Eurasien Akam ergab, dass für 99,7 Prozent der Befragten die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee keine Auswirkungen auf ihr Wahlverhalten habe. Eine Umfrage des Meinungsforschungszentrums Metro Poll veröffentlichte unlängst Umfrageergebnisse, wonach nur noch 30,3 Prozent der Wahlberechtigten für die AKP stimmen würden, wenn jetzt Wahlen wären.
Im Südosten der Türkei hat die AKP nach den mittlerweile 5 Jahren andauernden erneuten Repressionen gegen die kurdische Bevölkerung kaum noch Rückhalt. Eine kürzliche Umfrage in den 13 kurdischen Großstädten Diyarbakır, Van, Batman, Hakkâri, Şırnak, Şanlıurfa, Ağrı, Bitlis, Iğdır, Kars, Muş, Siirt und Mardin ergab, dass momentan die HDP 63%, die AKP nur 9,4% und die CHP 4,6% bekommen würden, wird berichtet.
Bei aller Skepsis gegenüber der Objektivität von Umfragen in der Türkei zeigt die Umfrage im Südosten deutlich: Weder die AKP Erdogans, noch die kemalistische CHP, die gerne als demokratische Opposition ins Feld geführt wird, hätte eine realistische Chance, dort Mehrheiten zu erlangen.
Die Bevölkerung im Südosten hat nicht vergessen, dass die CHP die anti-kurdische Politik der AKP-Regierung, einschließlich der Entziehung der parlamentarischen Immunität von HDP-Abgeordneten, der Zerstörung kurdischer Städte und Stadtteile und die türkischen Annexionen in Nordsyrien unterstützte.
Die junge Generation: Auswanderungswünsche
Auch im Westen der Türkei rumort es. Während Erdogan mit seinen religiösen und nationalistischen Parolen und mit der Beschwörung angeblicher äußerer Bedrohungen bei der älteren Bevölkerung durchaus Erfolg hat, lehnt sich die junge Generation zunehmend auf.
Nach einem Unicef-Report über die Lage von Kindern in den OECD-Ländern leben "die unglücklichsten Kinder in der Türkei: Nur 53 Prozent der Fünfzehnjährigen seien zufrieden mit ihrem Leben. In Bezug auf die Todesrate bei Kindern steht die Türkei auf Platz zwei hinter Mexiko."
76 Prozent der jungen Leute gaben an, zur Ausbildung oder zum Arbeiten ins Ausland gehen zu wollen und 64 Prozent wollen die Türkei dauerhaft verlassen. Im vergangenen Jahr haben mehr als 330.000 Menschen die Türkei verlassen, 40 Prozent davon waren 20- bis 34-Jährige. 86 Prozent der jungen Menschen sind laut der Unicef-Studie verschuldet und fünf Millionen Universitätsabsolventen sind außerstande, ihre Studienkredite zurückzuzahlen. Jeder vierte türkische Staatsbürger unter 25 Jahren ist mittlerweile ohne Job.
Auch wenn die Erdogan-Regierung versucht, die Menschen durch die Zensur der sozialen Netzwerke vom Rest der Welt abzukoppeln - junge Leute finden immer Wege, sich zu informieren, wie es sich in anderen Teilen der Welt lebt. Bülent Mumay beschreibt in seinem "Brief aus Istanbul" in der FAZ, wie sie die Realität in der Türkei wahrnehmen.
Sie sehen, dass Erdogan in seinem Winterpalast Feste abhält, Nationalfeiertage wegen der Corona-Pandemie aber nicht festlich begangen werden dürfen... Dass die Angestellten seines 1000-Zimmer-Palastes täglich getestet werden, sie aber Schlange stehen müssen, um ihre Eltern testen zu lassen. Dass Erdogans Sohn ein Bogenschützen-Festival abhält, sie aber keine Konzerte besuchen dürfen. Sie erleben, dass in einem Land, in dem Mafiabosse per Amnestie aus der Haft entlassen werden, verhaftet wird, wer einen kritischen Tweet postet.
Bülent Mumay
In den unabhängigen Medien würden sie über Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen durch Soldaten, Imame und andere Funktionsträger lesen. Taten, die nicht geahndet würden, und Täter, die nach kurzer Zeit der Haft wieder ihr Unwesen treiben können. Sie lesen über die allgegenwärtige Korruption des Erdogan-Clans, der zum Beispiel Aykut Emrah Polat, einem Klassenkameraden von Erdogans Sohn Bilal, den Zuschlag für eine staatliche Ausschreibung im Wert von 32 Millionen Euro zukommen ließ.
Junge Menschen, die nicht heiraten und nicht mindestens drei Kinder bekommen wollen, würden zu Unruhestiftern erklärt. Die Frage, wovon die Kosten für die Hochzeit, die Kosten für die Kinder in der gegenwärtigen Situation bezahlt werden sollen, bleibt von der Regierung unbeantwortet. Bei einem Besuch Erdogans in seiner Heimatstadt Rize am Schwarzen Meer fragte kürzlich eine notleidende AKP-Wählerin ihren Präsidenten: "Drei (Kinder, Anm. d. Verf.) hast du gefordert, drei habe ich bekommen. Und meinen Sohn habe ich Tayyip genannt. Bitte hilf mir."