Tunesien: "Kleine Diktatur" gefällig?
Der Präsident des nordafrikanischen Landes wurde bisher kaum für Missstände verantwortlich gemacht. Durch ein Referendum mit geringer Beteiligung bekam er nun deutlich mehr Macht.
Man kennt diesen Spruch aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Kontexten: "Wir fürchten eine kleine Diktatur nicht, die das Land in Ordnung bringt"
Auch in Tunesien – das nordafrikanische Land gilt als Wiege des "Arabischen Frühlings" von 2011 – hat diese Devise derzeit ihre Anhänger und Anhängerinnen, hier zitiert in einer Reportage des französischen Auslandsfernsehsenders France 24.
Hintergrund für die relative Popularität dieser Auffassung ist natürlich auch im tunesischen Fall eine schwere soziale und ökonomische Krise. Erheblich verschärft wurde diese in den letzten beiden Jahren durch die globale Corona-Krise die auch Tunesien vor allem 2021 stark heimsuchte, und das damit einhergehende Ausbleiben der Tourismusströme, die sonst für einen wesentlichen Teil der Deviseneinnahmen des Staates sorgen.
Ein wenig Erleichterung verschafft in diesen Tagen die Wiederöffnung der Landgrenze zwischen Tunesien und Algerien – auch aus dem Nachbarstaat kommen viele Urlauberinnen und Urlauber an Tunesiens Strände, und der kleine Grenzverkehr im Warenhandel spielt eine wichtige Rolle bei der Versorgung der küstenfernen Regionen in Tunesien.
Zum Anwendungsfeld der Maxime von der "kleinen Diktatur" droht das Land mit knapp zwölf Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern tatsächlich zu werden, nachdem am gestrigen Montag die Abstimmungsvorlage des im Oktober 2019 gewählten Staatspräsidenten Kaïs Saïed mit formal breiter Mehrheit angenommen wurde.
Mehr als 90 Prozent der Teilnehmenden stimmten der Referendumsvorlage zu. Allerdings muss dieser Erfolg des Amtsinhabers insofern relativiert werden, als die Abstimmungsbeteiligung auch nach offiziellen (eventuell nicht manipulationsfreien) Angaben bis zur Schließung der Stimmlokale um 22 Uhr insgesamt nur 27,5 Prozent betrug.
Der Anstimmungstext sieht eine sehr weitgehende Rückkehr zu einem Präsidialsystem ohne institutionelles Gegengewicht zum Staatsoberhaupt vor. Die Machtfülle des Präsidenten würde erneut jener ähneln, die seine Amtsvorgänger bis zum Umsturz im Januar 2011 und der damaligen Flucht des inzwischen im saudi-arabischen Exil verstorbenen autoritären Ex-Staatschefs Zine el-Abidine Ben Ali innehalten.
Abgeordnete und Richter kaltgestellt
Passenderweise wurde das Referendum am gestrigen Montag jüngst auf den ersten Jahrestag des "institutionellen Putschs" anberaumt, mit dem Amtsinhaber Saïed das Parlament beurlaubt und die Abgeordneten nach Hause geschickt hatte. Bei diesem Schritt ist es keineswegs geblieben. Im Juni dieses Jahres entließ der Staatspräsident eigenmächtig mehr als 50 Richterinnen und Richter auf einen Schlag
Er wirft ihnen "Korruption" vor, doch offenkundig ging es vielen Fällen auch ebenso schlicht wie eindeutig darum, politisch unliebsame Figuren loszuwerden. Auch änderte der Präsident, der seit der Aussetzung des Mandats der Abgeordneten auf dem Verordnungsweg regiert und in eigener Vollmacht sonst dem Gesetzgeber vorbehaltene Eingriffe vornimmt, die Zusammensetzung der obersten Kontrollbehörde für Wahlen.
Von Rechtsstaatlichkeit ist also schon jetzt wenig übriggeblieben, während bereits vor Saïeds Amtsantritt Ende der 2010er-Jahre die in der Ben-Ali-Ära verbreitete Folterpraxis wieder in den Polizeiwachen Einzug hielt. Von "Machtkonzentration" und der "Wiedergeburt einer Diktatur" war seit mehreren Monaten die Rede, auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty international äußerte Besorgnis
Dass Kaïs SaÏed dennoch mit seiner Abstimmungsvorlage glatt – wenn auch bei geringer Stimmbeteiligung – durchkam, hängt zuvörderst auch mit der Enttäuschung über die politischen Parteien zusammen, die seit 2011 das Land regierten und die Demokratisierung voranzutreiben hatten.
In Wirklichkeit verfolgte vor allem die an sämtlichen Koalitionsregierungen seit den ersten freien und pluralistischen Wahlen im Oktober 2011 beteiligte und bis vor einem Jahr mitregierende islamistische Partei eine weitgehend ideologische Agenda.
Votum gefühlt "für Veränderung"
An materiellen, positiven sozialen Veränderungen war sie weder wirklich interessiert, noch zeigte sie sich dazu in der Lage, in Ermangelung irgendeines ökonomischen Alternativkonzepts. Insofern erklärten viele Wählerinnen und Wähler, die für Kaïs Saïds Referendumsvorlage stimmten, dass sie "für Veränderung" votieren wollten, auch wenn dies vordergründig paradox klingt.
Tatsächlich trifft der Unmut der Bevölkerung über die sozioökonomischen Verhältnisse, die sich gegenüber dem Zeitpunkt des Umbruchs von 2011 verschlechtert haben, jedenfalls bisher vor allem die regierenden politischen Parteien – und noch kaum den Staatspräsidenten.
Letzterer bleibt zumindest ein relativer Sieger, auch wenn das rund um En-Nahdha gebildete Oppositionsbündnis in Gestalt der "Nationalen Rettungsfront" – es bestehen noch mehrere andere Oppositionsallianzen, die mit diesem Bündnis nicht zusammenarbeiten möchten, was eine der Schwächen der Saïed-Gegner ausmacht – von seiner "Niederlage" beim Referendum spricht und ihn zum Rücktritt auffordert.
Die von den Parteien unabhängige Zivilgesellschaft wachte erst relativ spät auf, doch auf einem Forum von Nichtregierungsorganisationen und Menschenrechtsgruppen am 14. Juli formulierten deren Köpfe ihre Bedenken gegenüber dem drohenden neuen autoritären Regime.
Das war reichlich spät. Allerdings war auch die Abstimmungsvorlage selbst kaum einen Monat vor dem Referendumstermin bekannt gegeben worden, um den Opponenten möglichst wenig Zeit zu lassen, sich genau zu positionieren.
Dass ein Gutteil der Kritikerinnen und Kritiker nicht zum "Nein", sondern zum Boykott des Referendums aufriefen, erlaubte den hohen Anteil an "Ja"-Stimmen, erklärt jedoch zugleich die geringe Stimmbeteiligung mit.
Die Feststellung, dass bislang die begründete Unzufriedenheit der Bevölkerung überwiegend die seit 2011 regierenden Parteien, jedoch kaum den autokratischen und zugleich zunehmend an religiös-konservative Werte appellierenden Präsidenten – dessen Verfassungstext verpflichtet die künftig Regierenden auf die Werte der islamischen Religion als Eckrahmen – trifft, könnte sich allerdings rapide ändern.
Tunesien muss derzeit mit dem IWF um neue Kredite verhandeln, dieser fordert vor allem eine starke Reduzierung der Subventionen auf Grundnahrungsmittel. Wenn nun Saïed auf manifeste Weise selbst die Politik diktiert, dürfte er aber zukünftig auch für deren Auswirkungen verantwortlich gemacht werden. Von der politischen Opposition hatte er zuletzt eher wenig zu befürchten, vor der sozialen sollte er sich wohl in Acht nehmen.