Tunesien, Sarkozy und der Sturz der französischen Außenministerin

Sarkozys Kabinettserneuerung gegen Glaubwürdigkeitskrise in Nordafrika

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Drei Monate nach der letzten Regierungsumbildung formiert Nicolas Sarkozy sein Kabinett neu. Er reagiert damit auf die Umwälzungen in Nordafrika. Die neuen Minister in den Schlüsselpositionen des französischen Staates sollen die Glaubwürdigkeitskrise der Außenministerin Michèle Alliot-Marie ausgleichen und auf die zu erwartenden Flüchtlingsströme reagieren. Claudia Hangen fragte den Spezialisten der Türkei und des Mittleren Orients Didier Billion Institut des Relations Internationales et Stratégiques (IRIS) in Paris, ob es bei der Entscheidung Sarkozys um den anstehenden G20-Gipfel oder um Wahlkalkül ging?

Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat am letzten Wochenende einiger seiner Minister in der Regierung ausgetauscht. Ist dies als eine Vorwahlaktion Nicolas Sarkozys auf die Präsidentschaftswahlen 2012 in Frankreich zu deuten oder eine unmittelbare Folge der Ereignisse in Tunesien?

Didier Billion: Beides trifft zu. Die wiederholten Fehler der Außenministerin Michèle Alliot-Marie haben zum einen zum Kabinettswechsel geführt. Andererseits haben wir gesehen, dass die Außenpolitik Frankreichs wie auch die der Europäischen Union während der letzten Wochen auf die Situation in Tunesien nicht schnell genug einzugehen verstand. Die Fehler von Michèle Alliot-Marie wurden aus mehreren Gründen zum Wendepunkt in der Regierung: Erstens, Monsieur Sarkozy musste im Kabinett auf seine, in die Kritik geratene Außenministerin verzichten, da er bereits über die nächsten Präsidentschaftswahlen nachdenkt. Deshalb musste zweitens ein geeigneter Nachfolger gefunden werden.

Alain Juppé wurde am Sonntag zum neuen Außenminister ernannt, ein Amt, das er bereits von 1993 bis 1995 erfolgreich ausgeübt hatte. Er ist der Mann der Stunde. Sarkozy hat nun die Einheit der Rechten im Blick. Daher resultiert die Notwendigkeit, die wichtigsten Ministerposten im Staat mit den richtigen Personen zu besetzen. Das Außenministerium ist ein bedeutendes Amt, um die Einheit der rechten französischen Parteien zu erwirken und damit einen effizienten Präsidentschaftswahlkampf zu führen.

Alain Juppé sieht sich selbst als Gaullist mit sozialem Engagement. Seinen Posten als Verteidigungsminister nimmt der Zentrumspolitiker und bisherige Fraktionschef der UMP im Senat Gérard Longuet ein. Beide Personen sollen die Regierung ausbalancieren und eine vereinheitlichte Rechte symbolisieren. So sind die Innen- und Außenpolitik Frankreichs eng miteinander verknüpft. Durch den Wechsel im Kabinett versucht Sarkozy, die Schwierigkeiten Frankreichs zu verdecken, auf die Ereignisse im Maghreb und Mittleren Orient adäquat einzugehen.

“Französische Politiker sehen eigene Fehler nicht”

Die Außenministerin Michèle Aliot-Marie wurde vor einigen Wochen von der Opposition angegriffen, da sie Ben Ali zu Beginn der Jasmin-Revolution polizeiliche Unterstützung aus Frankreich zugesagt hatte. Ist dies der hauptsächliche Grund für ihren Rücktritt?

Didier Billion: Ihr Rücktritt war vorhersehbar. Dennoch ist es erstaunlich, dass er sich so lange hingezogen hat. Im Januar hat sie vor dem französischen Parlament gesprochen. Es ging dabei um ihre Ferien in Tunesien, wobei sie sich offensichtlich von einem Geschäftsmann, der dem Clan Ben Alis nahestand, im Privatjet mitnehmen ließ. Seitdem sind fünf Wochen vergangen. Obgleich sie eine professionelle Politikerin ist, hat sie sich mit ihren Aussagen selbst ein Bein gestellt, indem sie die Realität leugnete. Somit war sie nicht mehr haltbar. Sie selbst hat jedoch bis zum Schluss behauptet, Opfer einer Verleumdungskampagne der Linken in Frankreich zu sein. Mit sich selbst geht sie nicht kritisch um. Es ist beunruhigend, wenn eine französische Ministerin eine Serie von Fehlern begeht und dann den Rücktritt nicht als einzige Lösung sieht. Das heißt, dass die französischen Politiker hinsichtlich ihrer eigenen Fehler immun sind.

In Tunesien schlägt die Stunde der Geschichte

Sie sagten ja selbst vorhin, die Innenpolitik Frankreichs ist stark mit der Außenpolitik verknüpft. Welche Bedeutung hat die Abdankung des Premierministers der Interimsregierung in Tunesien Mohammed Ghannouchi? Ist dies mehr als eine Geste an das protestierende Volk oder sogar der Beginn des Chaos im Land?

Didier Billion: Alle Kommentatoren der politischen Situation in Tunesien gingen in den letzten Wochen davon aus, dass sich die Situation im Land stabilisiert habe, und dass die Interimsregierung ihre Arbeit fortsetzen könne, um die Legislativ- und Präsidentschaftswahlen einzuleiten. Sie haben sich getäuscht. Ich glaube in Tunesien hat die Stunde der Geschichte geschlagen, die beispielgebend für andere Länder Nordafrikas ist. Ein Land, das sich in einem revolutionären Prozess befindet, bleibt ein Land, das politisch instabil ist.

Tunesien ist nicht bereit, Mohammed Ghannouchi an der Spitze des neuen Staates zu akzeptieren, da er Ben Ali über zehn Jahre als Beamter und Minister gedient hat. Daher kann es kaum erstaunen, dass er am Sonntag zurückgetreten ist. Ob man deshalb das Chaos fürchten muss? Das ist nur eine der Möglichkeiten. Ganz exakt können weder ich noch andere Experten darauf antworten. Der Rücktritt Ghannouchis an sich wird das Chaos nicht freisetzen. Es hängt vielmehr von der Arbeit der Mitglieder der Interimsregierung ab, ob sie fähig sind, den Demokratisierungsprozess transparent einzuleiten, und ob sie die Wahlen vorbereiten können? Sind sie dazu in der Lage, wird es in Tunesien kein Chaos geben und die Mobilisierung der Jugend könnte sich dann beruhigen. Es handelt sich in Tunesien um einen instinktiven Prozess der Bevölkerung, dass sie sich ihren Sieg nicht wegnehmen lassen wollen.

Flüchtlingswelle aus Tunesien nach Frankreich?

Zu Beginn der Jasmin-Revolution gab es viele Tunesier, die aus dem Ausland kamen und in ihr Land zurückgekehrt sind, um dieses unter demokratischen Vorzeichen mit aufzubauen. Augenblicklich beobachtet man eine Kehrtwende: Nach anhaltenden Protesten und der Instabilität im Land verlassen viele Tunesier ihre Heimat, um Asyl in anderen Ländern zu finden? Ist jetzt eine Flüchtlingswelle nach Frankreich zu erwarten?

Didier Billion: Diese Frage muss man differenziert betrachten. Als Ben Ali gestürzt wurde, sind viele Tunesier, die in Frankreich leben, in ihre Heimat zurückgekehrt, um ihre Familien zu besuchen und die Ereignisse vor Ort selbst mitzuverfolgen. Jene sind aber nach kurzer Zeit nach Frankreich zurückgekehrt, weil sie dort eine Arbeit haben. Zudem gibt es eine Minderheit tunesischer Männer und Frauen, die seit Beginn der Revolution nicht gezögert haben, ihre Arbeit in Frankreich aufzugeben, um ganz in ihre Heimat zurückzukehren. Die Mehrheit aber hat Tunesien nur für ein paar Tage oder Wochen besucht, ohne jemals die Intention zu haben, ganz in Tunesien zu bleiben.

Diejenigen, die nach Tunesien zurückgekehrt sind, um ihre Heimat wieder aufzubauen, stellen eine zahlenmäßig kleine Minderheit dar. Es gibt selbst zwei unserer Minister in der Regierung, die in Frankreich beruflich Karriere gemacht haben, und die für sechs Monate Urlaub von den Regierungsgeschäften beantragt haben, um in der Zeit, ihr Land mit aufzubauen.

Und dann gibt es natürlich diejenigen, die noch nie in Frankreich waren, Männer wie Frauen, die wegen der ökonomisch und politisch instabilen Verhältnisse Tunesien verlassen und Asylanträge stellen. Entweder in Frankreich oder einem anderen europäischen Land. Das sind ganz unterschiedliche Gruppen, die nicht miteinander in Beziehung stehen.