UN-Weltgericht versetzt Israel einen schweren Schlag – USA und Europa müssen jetzt handeln

Verlesung des Beschlusses des Internationalen Gerichtshofs zur Anwendung der Völkermordkonvention im Gazastreifen (Südafrika gegen Israel), 26. Januar 2024. Bild: Internationaler Gerichtshof

Sollte Biden das Urteil blockieren, macht er sich komplett unglaubwürdig. Was macht Europa? Und wie wird Netanjahu reagieren? Gastkommentar.

Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat am Freitag ein Urteil gegen Israel gefällt und festgestellt, dass Südafrika erfolgreich argumentiert hat, dass das Verhalten Israels plausibel einen Völkermord beinhalten könnte. Der Gerichtshof verhängt mehrere Anordnungen gegen Israel und erinnert die Regierung daran, dass seine Urteile nach internationalem Recht verbindlich sind.

Überwältigende Mehrheit der Richter zugunsten von Südafrika

In seinem Beschluss ist das Gericht zwar nicht auf die Forderung Südafrikas nach einem Waffenstillstand eingegangen. Das Urteil fällt jedoch mit überwältigender Mehrheit zugunsten Südafrikas aus und wird den internationalen Druck für einen Waffenstillstand wahrscheinlich erhöhen.

Trita Parsi ist Präsident des Quincy Institute for Responsible Statecraft und Experte für den Nahen Osten.

Die Frage, ob es sich bei Israels Krieg in Gaza um Völkermord handelt, wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen, aber die Entscheidung wird erhebliche politische Auswirkungen haben. Hier ein paar Gedanken dazu.

Urteil: Verheerende Wirkung für Israels Ansehen

Dies ist ein verheerender Schlag für Israels Ansehen in der Welt. Um es in den richtigen Kontext zu setzen: Israel hat in den letzten zwei Jahrzehnten hart daran gearbeitet, die BDS-Bewegung – Boykott, Divestment und Sanktionen – zu bekämpfen, nicht weil sie erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen auf Israel hat, sondern weil sie Israel international delegitimieren könnte.

Das Urteil des IGH, worin festgestellt wird, dass Israel nachvollziehbar dabei sei, einen Völkermord zu begehen, ist jedoch für Israels Legitimität weitaus verheerender als alles, was BDS hätte erreichen können.

Israels politisches System ist in den letzten Jahren zunehmend – und in der Öffentlichkeitmit Apartheid in Verbindung gebracht worden. Nun wird die Führung des Lands in ähnlicher Weise mit dem Vorwurf des Völkermordes assoziiert werden.

Was machen die USA im UN-Sicherheitsrat?

Infolgedessen werden auch die Länder, die Israel und seine Militäroffensive in Gaza unterstützt haben, wie die USA unter Präsident Biden, mit diesem Vorwurf verbunden werden.

Die Folgen für die Vereinigten Staaten sind erheblich. Erstens, weil das Gericht nicht die Möglichkeit hat, sein Urteil umzusetzen.

Stattdessen wird die Angelegenheit an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gehen, wo die Biden-Regierung wieder einmal vor der Wahl stehen wird, Israel politisch zu schützen, indem sie ein Veto einlegt und damit die USA weiter isoliert, oder dem Sicherheitsrat zu erlauben, zu handeln und einen innenpolitischen Preis dafür zu zahlen, dass sie "nicht zu Israel steht".

Doppelmoral der US-Außenpolitik

Bislang hat sich die Biden-Regierung geweigert zu sagen, ob sie die Entscheidung des IGH respektieren wird. Natürlich haben die USA und die westlichen Staaten in früheren Fällen vor dem IGH wie Myanmar, der Ukraine und Syrien betont, dass vorläufige Maßnahmen des IGH verbindlich sind und vollständig umgesetzt werden müssen.

Die Doppelmoral der US-Außenpolitik wird einen neuen Tiefpunkt erreichen, wenn Biden in diesem Fall nicht nur gegen den IGH argumentiert, sondern aktiv handelt, um die Umsetzung seiner Entscheidung zu verhindern und zu blockieren.

Es ist vielleicht nicht überraschend, dass hochrangige Beamte der Biden-Regierung seit dem 7. Oktober den Begriff "regelbasierte Ordnung" weitgehend nicht mehr verwenden.

Biden hätte Israels exzessives Vorgehen in Gaza verhindern können

Es wirft auch die Frage auf, inwieweit Bidens Politik der Umarmung Israels zum israelischen Verhalten beigetragen hat. Biden hätte eine maßvollere Unterstützung anbieten und die israelischen Exzesse hart zurückdrängen können – und damit Israel von Handlungen abgehalten, die möglicherweise unter die Kategorie Völkermord fallen. Aber er tat es nicht.

Stattdessen bot Biden bedingungslose Unterstützung in Kombination mit null öffentlicher Kritik an Israels Verhalten und nur moderates Intervenieren hinter den Kulissen. Die USA hätten Israels Kriegsführung aber beeinflussen können. Dann hätte der IGH sie nicht vorläufig eingestuft als plausibel die Standards für Völkermord erfüllend.

Dies zeigt, dass Amerika sowohl seine eigenen Interessen als auch die seiner Partner untergräbt, wenn es ihnen Blankoschecks und vollständigen sowie unhinterfragbaren Schutz bietet. Das Fehlen von Kontrollen und Ausbalancierungen, die ein solcher Schutz mit sich bringt, führt zu rücksichtslosem Verhalten aller Beteiligten.

Verpflichtung, Völkermord zu verhindern

Somit könnte Bidens bedingungslose Unterstützung Israel letztlich geschadet haben.

Das Urteil könnte auch denjenigen Auftrieb geben, die argumentieren, dass alle Staaten, die der Völkermordkonvention beigetreten sind, eine positive Verpflichtung haben, Völkermord zu verhindern.

Die Huthi zum Beispiel haben ihre Angriffe auf Schiffe, die israelische Häfen im Roten Meer anlaufen, mit dieser positiven Verpflichtung begründet. Welche rechtlichen Auswirkungen wird die Entscheidung des Gerichts auf das militärische Vorgehen der USA und Großbritanniens gegen die Huthi haben?

Die Auswirkungen auf Europa werden ebenfalls beträchtlich sein. Die USA sind es gewohnt, sich über internationales Recht hinwegzusetzen und internationale Institutionen zu ignorieren. Europa ist das nicht.

Urteil könnte Europa spalten

Völkerrecht und internationale Institutionen spielen im europäischen Sicherheitsdenken eine viel zentralere Rolle. Die Entscheidung wird Europa weiter spalten.

Aber die Tatsache, dass einige wichtige EU-Staaten das Urteil des IGH ablehnen werden, wird dem allgemeinen europäischen Sicherheitsparadigma zutiefst widersprechen und es untergraben.

Ein letzter Punkt: Allein die Tatsache, dass Südafrika den IGH angerufen hat, scheint Israels Kriegsführung abgemildert zu haben. Die Pläne, den Gazastreifen ethnisch zu säubern und seine Bewohner in Drittländer zu schicken, scheinen dadurch ausgesetzt worden zu sein, vermutlich weil solche Aktionen dem Antrag Südafrikas Auftrieb gegeben hätten.

Wenn dem so ist, zeigt es, dass der Gerichtshof in einer Zeit, in der die Kraft des Völkerrechts zunehmend infrage gestellt wird, eine größere Wirkung in Bezug auf die Abschreckung unrechtmäßiger israelischer Aktionen hatte als alles, was die Biden-Regierung bisher unternommen hat.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Trita Parsi ist Mitbegründer und Präsident des Quincy Institute for Responsible Statecraft sowie ein vielfach ausgezeichneter Buchautor, Experte für die Beziehungen zwischen den USA und dem Iran, die iranische Außenpolitik und die Geopolitik des Nahen Ostens. Er hat mehrere Bücher über die US-Außenpolitik im Nahen Osten verfasst, mit besonderem Schwerpunkt auf Iran und Israel. Das Washingtonian Magazine wählte ihn sowohl 2021 als auch 2022 zu einer der 25 einflussreichsten Stimmen zur Außenpolitik in Washington DC, der renommierte Intellektuelle Noam Chomsky bezeichnet Parsi als "einen der bedeutendsten Gelehrten zum Thema Iran". Parsi wird häufig von westlichen und asiatischen Regierungen in außenpolitischen Fragen konsultiert. Er hat in zahlreichen Medien veröffentlicht wie der Washington Post, dem Wall Street Journal, der New York Times, der Financial Times oder der Jerusalem Post. Er ist häufig zu Gast bei CNN, BBC und Al Jazeera und schreibt regelmäßig Kolumnen auf MSNBC.com.