UNRWA und Co: Netanjahus Krieg gegen die Wahrheit
Keine Belege für Terror-Verbindung des Hilfswerks. Es wirft ein Schlaglicht auf westlichen Finanzierungsstopp. Und auf Israels Propagandaerfolge.
Im Januar beschuldigte Israel das Hilfswerk für die Palästinenser UNRWA, Verbindungen zum Terrorismus zu haben. Obwohl die Vorwürfe unbewiesen waren, stellten unmittelbar darauf wichtige Geberländer, darunter die USA und Deutschland, die Finanzierung der wichtigsten humanitären Organisation für den Gazastreifen ein.
Mittel in Höhe von 450 Millionen Dollar wurden von heute auf morgen gestrichen, während viele Menschen im Kriegsgebiet starben.
UNRWA-Diffamierung und seine tödlichen Folgen
Drei Monate später hat sich die humanitäre Situation weiter verschlimmert und die Todeszahl ist auf über 34.000 gestiegen. Zu den Bombardierungen, dem Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung, dem Wassermangel und der Zunahme von Epidemien ist eine künstlich erzeugte Hungersnot hinzugekommen, die u.a. auch durch die Mittelstreichung für UNRWA erzeugt wurde.
Eine gründliche Untersuchung durch die ehemalige französische Außenministerin Catherine Colonna, die von drei angesehenen Forschungsinstituten unterstützt wurde, hat nun ergeben, dass die Anschuldigungen Israels gegen das UN-Hilfswerk nicht gedeckt sind von Beweisen. Israel habe die Vorwürfe bisher nicht belegen können.
Deutschland erklärte daraufhin, dass man in Kürze die Kooperation mit und Finanzierung von UNRWA, die man aufgekündigt hatte, wieder aufnehmen werde, wie schon Australien, Kanada, Schweden, Japan und andere Staaten zuvor. Die humanitären Folgen und den Ansehensverlust für das Hilfswerk kann man damit jedoch nicht wiedergutmachen.
Der Skandal um Israels Diffamierungskampagne, die verantwortungslose Einstellung der Finanzierung für die Hilfsorganisation inmitten einer humanitären Krise mit ihren tödlichen Auswirkungen wird im Westen dabei weiter unter den Teppich gekehrt. Man tut so, als ob nichts gewesen sei, während man das israelische Narrativ wie zuvor, nun in abgeschwächter Form ("Probleme mit Neutralität"), in den Vordergrund rückt.
Reaktion auf Genozid-Klage am IGH
Die UNRWA-Anschuldigungen der Netanjahu-Regierung kamen fast unmittelbar, nachdem der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) in der Klage Südafrikas entschieden hatte, dass Israel in Gaza "plausibel" Völkermord begehe und Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung ergreifen müsse.
Tel Aviv beschuldigte daraufhin zwölf der 30.000 Mitarbeiter der Organisation, an den Anschlägen vom 7. Oktober beteiligt gewesen zu sein. Viele Redaktionen sprangen sofort auf den Zug auf und verbreiteten die Nachricht wie eine Tatsache.
Die Kampagne war sehr erfolgreich, weil Politik und Medien in den USA und Europa zu großen Teilen mitspielten. Das Ziel der Vorwürfe war offensichtlich: Ablenkung von der ansteigenden Kritik an Israels Vorgehen im Gazastreifen.
Das Wall Street Journal erstellte schließlich ein Dossier, und behauptete auf Grundlage von Aussagen Israels sogar, dass zehn Prozent der UNRWA Anhänger der Hamas und des Islamisches Dschihads seien.
US-Medien stützen Hasbara-Kampagnen Israels
Was nicht gesagt wurde: Die Leitautorin des Artikels war eine ehemalige Soldatin der israelischen Streitkräfte (IDF), die Medienstrategien für die IDF entwickelt hatte, um auf Israel-Kritik zu reagieren. Nach der Aufdeckung ihrer Identität wurden die Spuren der Autorin verwischt und das WSJ blockte ihren Twitter-Account.
Die UNRWA-Verunglimpfung ist jedoch nur ein Aspekt der sogenannten Hasbara-Kampagne der Netanjahu-Regierung im Zuge des nun über sechs Monate dauernden Angriffs auf Gaza, um von dem Sterben der Palästinenser und der Brutalisierung des Kriegs abzulenken sowie zugleich Gegengeschichten aufzubauen.
Hasbara wird in Israel als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit bezeichnet. Damit soll das aggressive Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern im Westen erklärt und gerechtfertigt werden.
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Vor allem versuchte die Netanjahu-Informationskampagne dabei, die Palästinenser zu entmenschlichen und die Öffentlichkeit mit einer Flut falscher, unbegründeter und nicht überprüfbarer Behauptungen zu überschwemmen.
Hamas als blutrünstige Monster
Jeremy Scahill von The Intercept hat diverse Vorwürfe Israels detailliert überprüft. Er zeigt dabei auch, wie insbesondere die US-Regierung als wichtigster Verbündeter Israels die Diffamierungen übernahm und weiterverbreitete, an ihrer Seite die meinungsbildenden US-Medien, die assistierten.
Ein Narrativ Israels war zum Beispiel, dass die Angreifer vom 7. Oktober nicht nur Unschuldige töteten, sondern tatsächlich Monster gewesen sind, blutrünstige, sadistische Terrorbanden.
Sicherlich war das, was bei dem Angriff geschah, schrecklich und verbrecherisch. Aber die israelische Regierung versuchte das Geschehene, mit Lügen und Unbelegtem ins Unermessliche zu steigern. Benjamin Netanjahu sagte am 11. Oktober in einem Telefongespräch mit US-Präsident Joe Biden:
Wir wurden am Samstag von einem Angriff getroffen, dessen Grausamkeit wir seit dem Holocaust nicht mehr erlebt haben. … Sie nahmen Dutzende von Kindern, fesselten sie, verbrannten sie und richteten sie hin. … Eine solche Grausamkeit haben wir in der Geschichte des Staates noch nie gesehen. Sie sind noch schlimmer als ISIS und wir müssen sie als solche behandeln.
40 Babys getötet, enthauptet, an Wäscheleinen aufgehängt
Israels Verteidigungsminister Joaw Gallant erklärte am 9. Oktober: "Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir werden entsprechend handeln." Viele ähnliche Entmenschlichungen der Palästinenser wurden von israelischen Regierungsvertretern und Offiziellen in Folge geäußert. Zugleich wurde propagiert, dass es in Gaza keine Zivilisten, keine Unschuldigen gebe, obwohl fast 50 Prozent der Bewohner dort Kinder und Jugendliche sind.
Drei Tage nach dem Angriff organisierte das israelische Militär eine Tour für Journalisten durch einen betroffenen Kibbutz. IDF-Beamte verbreiteten dabei Gerüchte, dass bis zu 40 Babys von der Hamas ermordet und einige von ihnen enthauptet worden seien. Die Babys seien an Wäscheleinen aufgehängt worden.
Es gibt jedoch ein Problem mit den erschütternden Erzählungen, die als Rechtfertigung für Israels unterschiedsloses Bombardieren von Gaza dienen sollten, wie The Intercept in seinen Recherchen feststellt: Sie sind entweder frei erfunden oder wurden nicht mit einem Hauch an Beweisen untermauert. Viele wurden von den großen israelischen Medien widerlegt.
Es gab danach keine Massenenthauptungen von Babys, keine Gruppenexekutionen in einem Kinderzimmer, keine an Wäscheleinen aufgehängten Kinder, keine in Öfen gesteckte Säuglinge. Keiner schwangeren Frau wurde der Bauch aufgeschnitten und der Fötus vor ihren Augen sowie denen ihrer anderen Kinder erstochen.
Biden-Regierung verbreitet Gerüchte weiter
Laut den großen israelischen Medien, die unablässig daran gearbeitet haben, alle Opfer der Anschläge vom 7. Oktober zu identifizieren, wurde an jenem Tag ein Kleinkind getötet: die neun Monate alte Mila Cohen, die im Kibbutz Be'eri erschossen wurde, als ihre Mutter sie im Arm hielt. Scahill stellt fest:
Die Geschichten sind frei erfunden, eine Reihe dreister Lügen, die als Waffe eingesetzt werden, um die Art von kollektiver Wut zu erzeugen, die zur Rechtfertigung von Unrecht verwendet wird.
Doch US-Präsident Joe Biden sowie US-Außenminister Antony Blinken übernahmen die Gerüchte von enthaupteten Babys in ihren öffentlichen Statements, verbreiteten sie weltweit und verliehen ihnen damit Autorität, selbst dann noch, als das Weiße Haus erklären musste, dass Biden, wie er behauptet hatte, keine dementsprechenden Fotos gesehen habe.
Die Vergewaltigungsmaschine der Hamas
Auch eine andere Hasbara-Kampagne Netanjahus ist bisher nicht belegt worden. Danach soll die Hamas eine Operation gestartet haben, jüdische Frauen systematisch zu vergewaltigen.
Diese Anschuldigungen wurden direkt nach dem Angriff vom 7. Oktober verbreitet, übernommen insbesondere von konservativen Medien und Politikern in Israels Unterstützerstaaten. Der israelische Regierungssprecher Eylon Levy sprach schließlich von einer "Vergewaltigungsmaschine der Hamas".
"Ich sage den Frauenrechtsorganisationen, den Menschenrechtsorganisationen, ihr habt von der Vergewaltigung israelischer Frauen gehört, von schrecklichen Gräueltaten, von sexueller Verstümmelung? Wo zum Teufel seid ihr?" sagte Netanjahu am 5. Dezember in einer Rede in Tel Aviv.
Biden erklärte. "Die Welt kann nicht einfach wegschauen.
Bisher keine glaubwürdigen Belege
Sicherlich ist es sehr schwer, gerade in Kriegen, in denen sexualisierte Gewalt häufig vorkommt, Vorwürfe von Vergewaltigungen zu untersuchen. Solche Anschuldigungen sind ernst zu nehmen und ihnen muss nachgegangen werden.
Aber es wurden ja nicht nur konkrete Vorwürfe erhoben. Vielmehr behauptete man, dass organisierte Massenvergewaltigungen ein zentraler Bestandteil einer über Jahre hinweg akribisch geplanten Operation der Hamas und anderer palästinensischen Akteure waren.
Für diese Anschuldigung gibt es jedoch keine glaubwürdigen Belege, wie The Intercept feststellt. Militär- oder Rettungskräfte, die von Anzeichen möglicher sexualisierter Übergriffen sprachen, sagten selbst, dass sie über keine forensische Expertise verfügen.
Am 28. Dezember veröffentlichte die New York Times eine Story, die sofort zur Top-Nachricht wurde und angeblich eine weit verbreitete, von der Hamas orchestrierte Kampagne sexueller Gewalt dokumentierte. Diese Geschichte wurde einer intensiven Prüfung unterzogen, auch innerhalb der Times-Redaktion.
Dabei kam heraus, dass die Zeitung scheinbar Ereignisse fabrizierte. So bestritt die Familie von Gal Abdush, deren angebliche Vergewaltigung im Mittelpunkt des Times-Artikels stand, die in dem Artikel aufgestellte Behauptung, sie sei vergewaltigt worden. Andere Medien verwiesen auf Inkonsistenzen in der Geschichte.
Journalisten und Israel-Kritiker als Hamas-Komplizen
Die Netanjahu-Regierung war auch sehr erfolgreich damit, Narrative zu verbreiten, die jeden, der die Palästinenser in Gaza mit humanitärer Hilfe unterstützte, über ihr Leid berichtete und das Vorgehen der israelischen Regierung kritisierte, zu Hamas-Komplizen, Hamas-Verstehern und Antisemiten zu erklären.
Da man die Hamas mit diversen Geschichten, die von den westlichen Medien meist unkritisch verbreitet wurden (und damit als Schmutzkampagne wirken konnten), längst mit diversen Hasbara-Offensiven zu Monstern gemacht hatte, funktionierte die "Kontaktschuld"-Strategie umso effektiver.
Journalisten, die aus dem Gazastreifen berichten, wurden zu Hamas-Komplizen (viele von ihnen wurden von den israelischen Streitkräften getötet, trotz Kenntlichmachung als Pressevertreter). Hilfskonvois wurden attackiert und Gerüchte zirkulierten, dass sie mit der Hamas kooperieren. Krankenhäuser wurden zu Hamas-Zentralen erklärt und bombardiert.
Die Strategie hinter all den Narrativen, Behauptungen und Gerüchten ist, wie es The Intercept auf den Punkt bringt, kaum zu übersehen: Wer sich Israels Krieg widersetzt, ist antisemitisch. Wer seine Behauptungen über die Ereignisse vom 7. Oktober infrage stellt, leugnet den Holocaust. Wer gegen die Massentötung palästinensischer Zivilisten protestiert, macht sich zum Handlanger der Hamas.
Krieg gegen Wahrheit und Pyrrhussiege
In den USA und Deutschland hat das gewirkt. Die Antisemitismus-Maschine läuft auf Hochtouren. Das bekommen die Studierenden von Elite-Universitäten in den USA, Künstler, Journalisten und Bewegungen, die sich kritisch zu Israels Krieg und Besatzungspolitik äußern, überall in westlichen Ländern seit Monaten deutlich zu spüren.
Netanjahus Krieg gegen die Wahrheit, die damit verbundene Ablenkung von israelischen Verbrechen sowie seiner gefährlichen Eskalationsstrategie im Nahen Osten, hat Siege davongetragen. Israel wird weiter vor einem Waffenstillstand geschützt und droht nun, in die letzte verbliebene Schutzzone für die Gaza-Bewohner, im südlichen Rafah, einzumarschieren.
Doch der steigende Widerstand gegen die Fortführung des Gaza-Kriegs in vielen Ländern und der Ansehensverlust Israels weltweit zeigen auch, dass es am Ende Pyrrhussiege gewesen sein könnten.
Am Ende kommt die Wahrheit, spätestens nach dem Krieg, ans Licht. Aber dann ist der Schaden bereits angerichtet.