US-Historiker: Ära in Nahost endet, nachdem Gaza-Käfig explodierte

Bombardierung Wohngebäude im Gazastreifen durch israelisches Militär. Bild: Screenshot Democracy Now Video

Man rechnet mit einer Invasion des israelischen Militärs. Es drohe ein Massaker, sagt Rashid Khalidi von der Columbia University. Warum eine neue Zeit in Israel-Palästina anbricht.

Israel hat die Luftangriffe über dem dicht besiedelten Gazastreifen fortgesetzt. Dabei wurden Berichten zufolge Dutzende Menschen im größten Flüchtlingslager der Enklave getötet, die Kinderabteilung eines großen Krankenhauses getroffen, die wichtigste Universität und Wohngebäude des besetzten Gebiets bombardiert.

"Alles, was im Gazastreifen über dem Boden steht, wurde bombardiert", sagte Raji Sourani, ein Anwalt des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte in Gaza, gegenüber dem US-Sender Democracy Now, während im Hintergrund Bomben fielen.

"Es gibt keinen sicheren Schutzort mehr in Gaza", sagte Sourani.

Durch den Hamas-Angriff am Wochenende sind nach neuesten Angaben rund 900 Menschen in Israel getötet worden. Zudem soll die Hamas 150 Geiseln genommen haben.

Bei den israelischen Angriffen sind nach bisherigem Stand 687 Palästinenser umgekommen. Die israelische Armee gibt zudem an, 1.500 Leichen der Hamas in Israel entdeckt zu haben, während sie die Kontrolle über den Grenzzaun zu Gaza wiedererlangt hat.

Der israelische Verteidigungsminister erklärte, dass "kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser und kein Treibstoff" in den seit Langem blockierten Gazastreifen gelassen würden. Die Anordnung einer totalen Blockade wird von Rechtsexperten als Kriegsverbrechen betrachtet. Die Hamas droht, jedes Mal eine zivile Geisel hinzurichten, wenn ein Luftangriff die Bewohner des Gazastreifens "ohne Vorwarnung in ihren Häusern" treffe.

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat Rache geschworen und spricht von einer "fürchterlichen" Reaktion. 300.000 Reservisten wurden mobilisiert.

Gleichzeitig haben die USA angekündigt, Waffen und Kriegsschiffe als Unterstützung für Israel bereitzustellen. Die EU hat wie Washington ebenfalls klargestellt, dass Israel das Recht habe, "sich selbst zu verteidigen", was als Blankoscheck für israelische Angriffe auf Gaza betrachtet wird. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte zusammen mit den USA, Großbritannien, Frankreich und Italien:

Unsere fünf Länder werden sicherstellen, dass Israel sich und seine Bürger gegen die abscheulichen Angriffe verteidigen kann.

Es wird nun damit gerechnet, dass das israelische Militär in Kürze mit Bodentruppen und Panzern in den Gazastreifen einrücken wird.

Der US-Sender Democracy Now hat gestern mit Rashid Khalidi gesprochen und ihn zu den Hintergründen und Auswirkungen befragt. Khalidi ist Edward-Said-Professor für moderne arabische Studien an der Columbia University und Autor zahlreicher Bücher, darunter "The Hundred Years' War on Palestine". Das Interview führte Amy Goodman.

Können Sie auf die Ereignisse reagieren, die bereits stattgefunden haben, und auf das, was sich anscheinend noch ereignen wird? Israelische Militärausrüstung und Panzer sind jetzt auf dem Weg nach Gaza.

Rashid Khalidi: Ich befürchte, dass die schrecklichen Opfer unter der Zivilbevölkerung – Israelis und zunehmend auch Palästinenser – erst der Anfang eines schrecklichen Massakers in Gaza sein werden. Der Wunsch nach Rache, nachdem eine sehr große Zahl – wohl Hunderte – unschuldiger israelischer Zivilisten getötet wurden, wird zu einem schrecklichen Massaker in Gaza führen, bei dem wahrscheinlich viel, viel mehr Menschen getötet werden, als wir uns vorstellen können.

Natürlich: Kriegsverbrechen rechtfertigen keine anderen Kriegsverbrechen. Und wir sind dabei, entsetzliche Kriegsverbrechen zu erleben.

Es gibt zwei Dinge, die hinzugefügt werden müssen. Die Ereignisse müssen in den Kontext gestellt werden. Und der Kontext ist nicht nur die Besatzung. Der Kontext ist der Siedlerkolonialismus und die Apartheid.

Die Menschen in Gaza, die Flüchtlinge dort, stammen aus den Gebieten, die die Hamas-Kämpfer in den letzten Tagen angegriffen haben. Das waren palästinensische Städte und Dörfer im Jahr 1948. Die ethnische Säuberung Palästinas führte dazu, dass heute 2,4 Millionen Menschen in Gaza eingesperrt sind.

Heute wird in den Vereinigten Staaten der Tag der indigenen Völker (Indigenous Peoples' Day) gefeiert. Die Gaza-Bewohner sind die Ureinwohner der südlichen Teile Israels, jener Orte also, die in den letzten Tagen von den Hamas-Kämpfern angegriffen wurden. Das ist die erste Sache.

Zweitens glaube ich, dass wir einen Paradigmenwechsel erleben werden. Die Vorstellung, man könne Millionen Menschen einsperren, sie hinter Mauern verstecken, die Belagerung verschärfen und ihnen mit einer Pipette etwas zu essen, Wasser und Strom geben – diese Vorstellung ist nach den schrecklichen Ereignissen der letzten zweieinhalb Tage explodiert. So kann es nicht weitergehen.

Es ist nicht nur eine Frage der Besatzung. Wir müssen erkennen, dass man ein ganzes Volk nicht so behandeln kann, wie Israel es getan hat, nicht nur unter dieser neofaschistischen Regierung, sondern unter all seinen früheren Regierungen. Man kann nicht 1948 eine dreiviertel Million Menschen vertreiben und davon ausgehen, dass die Verdrängten nicht zurückkehren.

Man kann nicht täglich Gewalt gegen Palästinenser ausüben – in diesem Jahr ist jeden Tag ein Palästinenser im besetzten Westjordanland gestorben, sogar etwas mehr – und dann erwarten, dass es zu keiner Reaktion führt. Die Reaktion wird gewalttätig sein. Die Reaktion kann manchmal Dinge enthalten, die zweifellos Kriegsverbrechen sind.