US-Philosophin Nancy Fraser nimmt Stellung zum umstrittenen Palästina-Manifest
Fraser kontert Kritik einer langjährigen Freundin. Es geht um den Nahostkonflikt und die Grenzen der Philosophie. Lässt sich der Streit unter Intellektuellen entschärfen?
Inmitten einer polarisierten Debatte über die Eskalation im Nahen Osten hat die US-Philosophin Nancy Fraser ihre Unterstützung für einen israelkritischen Aufruf verteidigt. Die 76-Jährige sieht sich zum Teil heftiger Kritik ausgesetzt, seit sie das Manifest "Philosophie für Palästina" unterzeichnet hat.
Das Manifest, das von Fraser, Judith Butler und rund 200 weiteren Unterzeichnern unterstützt wird, kritisiert die israelische Intervention in Gaza als "sich anbahnenden Genozid" und ruft zu einem kulturellen und akademischen Boykott Israels auf.
Gegenüber der österreichischen Tageszeitung Der Standard nahm Fraser zu dem Dokument Stellung und erläuterte ihre Haltung zu dem Terrorangriff bewaffneter islamistischer Milizen auf Israel am 7. Oktober, bei dem mindestens 1.200 Zivilisten und Sicherheitskräfte ermordet oder im Kampf getötet und mehr als 5.400 Menschen verletzt wurden.
Im Interview wies Fraser auch die Kritik ihrer langjährigen Freundin und politischen Weggefährtin Seyla Benhabib zurück und betonte, dass das Manifest keineswegs die Brutalität des Angriffes vom 7. Oktober verharmlose.
Benhabib spricht von intellektuellem Versagen
Benhabibs Reaktion sei unangemessen und Symptom einer Hysterie, die eine vernünftige Debatte erschwere, so Fraser. Die Politologin Benhabib hatte den Aufruf "Philosophie für Palästina" zuvor pauschal als intellektuelles Versagen bezeichnet. So formulierte sie es in ihrer öffentlichen Antwort unter dem Titel "Ein offener Brief an meine Freunde" auf der Plattform medium.com. Dort schrieb sie:
Mein Einwand gegen Ihren Brief ist, dass er den Konflikt in Israel-Palästina allein durch die Linse des "Siedlerkolonialismus" sieht und die Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu einem Akt des legitimen Widerstands gegen eine Besatzungsmacht erhebt. Indem Sie den israelisch-palästinensischen Konflikt durch die Linse des Siedlerkolonialismus interpretieren, ignorieren Sie die historische Entwicklung beider Völker.
Seyla Benhabib
Fraser betont dagegen, dass es das Ziel sei, eine Form der Autonomie und politischen Selbstbestimmung für Palästina zu finden, sei es in Form eines unabhängigen Staates neben Israel oder in Form einer Zweistaatenlösung.
Das Ziel muss sein, eine Form der Autonomie und der politischen Selbstbestimmung für Palästina zu finden. Ob das ein unabhängiger Staat neben Israel oder eine Zweistaatenlösung in Form einer Föderation ist, ich halte eine ganze Reihe von Modellen für denkbar. Wir, die Unterzeichner, lehnen keines von vornherein ab. Aber es braucht einen Waffenstillstand und den sehr ernsthaften Willen, einen solchen Prozess unverzüglich in Gang zu setzen.
Nancy Fraser
Kritik an Enteignungen durch Israel
Aus israelischer Perspektive betont Fraser, dass das palästinensische Anliegen von höchster Bedeutung sei, erkennt aber gleichzeitig an, dass sich die Gründungsgeschichte Israels von der anderer Siedlerkolonisatoren unterscheide. Sie kritisiert jedoch die fortgesetzten Enteignungen durch Israel und hält den Begriff Apartheid für die gegenwärtige Situation für angemessen.
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Auf die Frage nach der israelischen Demokratie und den legitimen Ansprüchen Israels erklärt Fraser, dass sie Enteignungen und Verdrängungsprozesse kritisiere und in diesem Zusammenhang den Begriff Apartheid für angemessen halte. Sie weist darauf hin, dass Diskussionen darüber oft mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert werden und vergleicht dies mit einem "philosemitischen McCarthyismus", der jede Kritik an Israel ersticke.
Fraser sieht in der aktuellen Debatte Anzeichen für einen Wandel im Diskurs und betont, dass Philosophen als Bürger sprechen und kein spezielles "Expertenwissen" über Unrecht haben. Sie erkennt neue Allianzen zwischen verschiedenen Gruppen wie Black Lives Matter und palästinensischen Gruppen und sieht einen Riss in der jüdischen Bevölkerung der USA.
Abschließend spricht Fraser über ihre Vorstellung von einem starken Eintreten für die jüdische Identität, unabhängig von der aktuellen Politik der israelischen Regierung. Sie betont, dass Kritik an der Politik nicht gleichbedeutend sei mit einem Angriff auf Juden im Allgemeinen.
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