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US-Strategie für das Nato-Bündnis ist gescheitert

George Beebe

Bild: StuckInLagToad / CC BY-SA 4.0

Die Kriegsressourcen der Ukraine sind erschöpft. Der Westen kann sie nicht schnell genug wieder auffüllen. Was folgt daraus?

Bei all dem Gerede auf dem letzten Nato-Gipfel über die Einheit des Bündnisses und die Unterstützung für die Ukraine wurde ein größeres Problem ignoriert: Die Strategie der Vereinigten Staaten von Amerika für das Bündnis ist gescheitert.

George Beebe ist Direktor für Grand Strategy beim Quincy Institute.

Die seit Langem erwartete Gegenoffensive der Ukraine – ihr Versuch, den Kreml zur Kapitulation zu zwingen, indem sie die russischen Streitkräfte aus dem Donbass und der Krim vertreibt – scheitert an den massiven Verteidigungsanlagen Russlands, der großen Zahl aufgestockter Truppen und der zunehmenden Beherrschung des Luftraums in der Nähe der Frontlinien des Krieges.

Der Ukraine gehen Soldaten, Artilleriegeschosse und Luftabwehrraketen schnell aus, und der Westen kann nicht genügend Truppen ausbilden oder Waffen herstellen, um dieses düstere Bild in absehbarer Zeit zu ändern.

Auch die USA können ihre militärischen Bestände nicht weiter abbauen, ohne ihre Fähigkeit zur Bewältigung einer möglichen Krise mit China zu gefährden. Infolgedessen erscheint die Strategie der Nato zur Beendigung des Krieges, die vom Erfolg der Gegenoffensive abhängt, zunehmend weltfremd.

Auch umfassendere Strategie der Vereinigten Staaten in Europa ist zum Scheitern verurteilt. Der ursprüngliche Zweck der Nato bestand darin, den Aufstieg eines europäischen Hegemons zu verhindern, der die Sicherheit und den wirtschaftlichen Wohlstand Amerikas gefährden könnte.

Sie sollte den US-Partnern die Gewissheit geben, dass Washington sie angesichts der sowjetischen Aggression nicht im Stich lassen und Deutschland nicht die Freiheit lassen würde, ein unabhängiges Militär aufzubauen und alte Bestrebungen zur Beherrschung des Kontinents wieder aufleben zu lassen.

Im Gegenzug für den Schutz unter militärischem Schirm der USA konnte sich Westeuropa auf ein Wirtschaftswachstum konzentrieren, das es immer weniger anfällig für kommunistische Umstürze machte, während es dem sowjetischen System Zeit verschaffte, zu verwelken und zu verrotten. Diese alte Strategie war ein durchschlagender Erfolg.

Mit dem Fall der Berliner Mauer verlagerte sich jedoch der Schwerpunkt der amerikanischen Außenpolitik: Anstatt den Aufstieg eines rivalisierenden Hegemons, der Europa beherrschen könnte, zu verhindern, streben die Vereinigten Staaten nun danach, die Supermacht des Kontinents zu werden.

Sie wollen ganz Osteuropa in ein amerikanisches Protektorat verwandeln [1]. Die doppelte Erweiterung der Nato und der Europäischen Union hat den Wohlstand auf dem gesamten Kontinent verbreitet, aber sie hat Europa so gut wie unfähig gemacht, eine selbstständige militärische Kapazität aufzubauen oder eine von Washington unabhängige Außenpolitik zu verfolgen. Zudem wurde Russland außerhalb der wichtigsten europäischen Institutionen stehen lassen, sodass es zunehmend motiviert wurde, diese zu untergraben, anstatt sie zu unterstützen.

Der verfolgte US-Ansatz könnte nur dann erfolgreich sein, wenn die Russen einwilligen würden. Aber jeder Kremlchef seit Gorbatschow hat die Vorstellung eines auf die Nato ausgerichteten Europas abgelehnt, in dem Moskau bei wichtigen Entscheidungen, die seine Sicherheit betreffen, wenig oder gar kein Mitspracherecht hat.

Die Chance, ein solches Europa Putin oder einem möglichen Nachfolger aufzudrängen, schwinden mit jedem Tag, an dem die Gegenoffensive der Ukraine ins Stocken gerät.

Unterdessen ist Europa selbst zunehmend gespalten über die Prämissen von Washingtons Strategie. Der deutsche Wohlstand – der Motor des europäischen Wachstums – basiert seit Jahren auf niedrigen Verteidigungsausgaben und dem Zugang zu billiger russischer Energie [2], die die exportorientierte Wirtschaft des Landes antreibt.

Putins Einmarsch in die Ukraine hat diesen Zugang beendet und Deutschlands Abhängigkeit von teurer amerikanischer Energie erhöht.

Es braucht eine neue Strategie

Um der doppelten Gefahr, die von Russland und China ausgeht, zu begegnen, übt Washington zunehmend Druck auf Deutschland und andere Teile des "alten Europas" aus, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen und Handel mit und Investitionen in China einzuschränken.

Das langsame Tempo der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine und der viel beachtete Handelsbesuch von Bundeskanzler Scholz in China im vergangenen Herbst sind Anzeichen dafür, dass "mehr ausgeben und weniger verdienen" für Berlin wahrscheinlich kein attraktives Geschäft ist.

Unterdessen üben viele der neueren Mitglieder des Bündnisses, allen voran Polen und die baltischen Staaten, Druck auf die Vereinigten Staaten aus, damit diese ihre Sicherheitsgarantien, die sie zwar gegeben haben, aber nie durchsetzen wollten, aufstocken. Sie sehen in Russlands Einmarsch in der Ukraine sowohl eine unmittelbare Bedrohung ihrer eigenen Sicherheit als auch einen Test der vertraglichen Verpflichtung Washingtons, zu ihrer Verteidigung beizutragen.

Sie fordern eine massive qualitative und quantitative Aufstockung der westlichen Militärhilfe für die Ukraine und argumentieren, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass Russland als Reaktion darauf einen direkten Zusammenstoß mit der Nato riskieren würde, selbst wenn russische Streitkräfte eine Niederlage erleiden müssten.

Und sie bestehen darauf, der Ukraine so bald wie möglich die Nato-Mitgliedschaft zu gewähren, da eine solche Sicherheitsverpflichtung weitere russische Aggressionen eher verhindern als provozieren würde.

Washington versucht, die harten Entscheidungen zu vermeiden, die diese widersprüchlichen Zwänge erfordern. Die US-Regierung hat alle Kompromisse zurückgewiesen, die die Chancen auf einen Verhandlungsfrieden mit Russland erhöhen könnten, weil man glaubt, dass wir eine russische Kapitulation in der Ukraine auf günstigere Weise erzwingen können, ohne eine wesentlich stärkere Einbindung der Nato in den Krieg und alle damit verbundenen Gefahren zu riskieren.

Die USA insistieren auf einer stärkeren europäischen Lastenteilung und einer Verringerung des Handels mit Russland und China, erwarten aber immer noch, dass Europa seine Unabhängigkeit in wichtigen außenpolitischen Fragen aufgibt.

Die große Gruppe der Hardliner in Washington hat die US-amerikanischen Sicherheitsgarantien wie einen magischen Talisman angesehen, der Russland oder jeden anderen Rivalen daran hindern wird, diese Garantien herauszufordern, was die Notwendigkeit ihrer Durchsetzung erleichtert.

Eine neue US-amerikanische Strategie ist seit Langem überfällig. Unser unmittelbares Ziel sollte darin bestehen, Russlands Fähigkeit zur Rückeroberung der Ukraine zu vereiteln, was ohne eine stärkere Beteiligung der Nato an dem Krieg möglich ist. Die Strategie kann aber nicht darauf abzielen, die russischen Streitkräfte aus dem Donbass und der Krim zu vertreiben, was nicht möglich ist.

Wir sollten die defensive Unterstützung mit einer diplomatischen Offensive verbinden, die Moskau dazu veranlasst, die Kämpfe zu beenden und diese nicht zu verlängern, um den Wiederaufbau der Ukraine zu blockieren und eine Mitgliedschaft in der Nato zu verhindern.

Anstatt die Gruppe der Nato-Mitglieder weiter auszuweiten und neue Missionen außerhalb des Nato-Gebiets zu starten, sollten wir die Nato auf ihren ursprünglichen Verteidigungszweck zurückführen, die Rolle Europas bei der Bewaffnung und Führung des Bündnisses stärken und eine größere Autonomie Europas in der Welt unterstützen. Das würde die Risiken und Belastungen für die USA im Umgang mit Russland und China verringern.

Ein solcher Wandel war auf dem letzten Nato-Gipfel in Vilnius nicht zu erkennen. Der gescheiterte Aufstand der Wagner-Söldnergruppe im vergangenen Monat hat in Washington die Hoffnung geweckt, dass Russland implodieren und den Krieg in der Ukraine verlieren könnte, sodass die Vereinigten Staaten unangenehme Kompromisse vermeiden könnten. Aber Hoffnung ist keine Strategie, wie man so schön sagt.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier [3]. Übersetzung: David Goeßmann [4].

George Beebe ist Direktor für Grand Strategy beim Quincy Institute. Er verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in der US-Regierung als Geheimdienstanalyst, Diplomat und politischer Berater, unter anderem als Direktor der Russland-Analyse der CIA, als Direktor des Open Source Center der CIA und als Berater von Vizepräsident Cheney in Russlandfragen. Sein Buch "The Russia Trap: How Our Shadow War with Russia Could Spiral into Nuclear Catastrophe" warnt davor, wie die Vereinigten Staaten und Russland in eine gefährliche militärische Konfrontation stolpern könnten. Beebe war zudem Vizepräsident und Studiendirektor am Center for the National Interest.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9224295

Links in diesem Artikel:
[1] https://ecfr.eu/wp-content/uploads/2023/04/The-art-of-vassalisation-How-Russias-war-on-Ukraine-has-transformed-transatlantic-relations.pdf
[2] https://www.politico.eu/article/germany-olaf-scholz-criticism-embarks-china-trip-visit-xi-jinping/
[3] https://responsiblestatecraft.org/2023/07/14/americas-strategy-for-the-nato-alliance-is-failing/
[4] https://www.telepolis.de/autoren/David-Goessmann-7143590.html