US-amerikanische GefÀngnisse: Instrumente sozialer Kontrolle
Bild: Hédi Benyounes/Unsplash
Corona hat das Justizsystem an seine Grenze gebracht und die GefÀngnisse geleert. Das GeschÀft mit der Freiheit macht die Diskriminierung der unteren Schichten noch offensichtlicher
Wie zu erwarten, hatte sich das Virus in den ĂŒberfĂŒllten Strafanstalten schnell ausgebreitet und die menschenunwĂŒrdigen Haftbedingungen soweit verschlimmert, dass Gefangene in Anstalten wie in St. Louis keine andere Möglichkeit sahen, als durch gewaltsame AufstĂ€nde [1] auf sich aufmerksam zu machen.
Letztes Jahr warteten 470.000 Menschen [2] in amerikanischen "Jails", also Untersuchungshaft-Anstalten, auf ihren Gerichtstermin, - und das oft fĂŒr viel zu lange Zeit. Das zuvor schon ĂŒberlastete Gerichtssystem kam durch die Pandemie geradezu zum Erliegen. Viele der eventuell zu Unrecht Angeklagten sahen sich der Gefahr einer Ansteckung im GefĂ€ngnis ausgesetzt [3] ohne dabei auf einen baldigen Gerichtstermin, und damit auf eine potentielle Freilassung, hoffen zu können.
Die Strafjustiz musste Konsequenzen ziehen. Wegen der hohen Fallzahlen von Corona-Erkrankungen und TodesfÀllen in Folge der Infektion war sie gezwungen, einige Insassen, die nicht allzu schwerer Vergehen angeklagt waren, aus der Untersuchungshaft zu entlassen. In der Folge sank die Anzahl der Inhaftierten in amerikanischen Jails von Juni 2019 bis Juni 2020 um 25 Prozent [4].
Die Pandemie hat erreicht, was viele, die fĂŒr Menschenrechte aktiv sind, seit langem fordern: Menschen, die in den USA nur leichter Vergehen angeklagt sind und deren Fluchtgefahr als niedrig eingestuft wird, können den menschenunwĂŒrdigen LebensumstĂ€nden der Haft bis zu ihrer Verurteilung entgehen.
Ein Privileg, das sich zuvor nur wenige ĂŒber eine Kaution leisten konnten. Da diese, je nach Richter, Bundestaat und Straftat, sehr hoch angesetzt werden kann, verfĂŒgen nur wenige Privatpersonen ĂŒber die nötigen finanziellen Mittel, auf diesem Wege ihre Freiheit zu wahren.
Sind aber Angst und Verzweiflung groĂ genug, was angesichts der Haftbedingungen in den Vereinigten Staaten nur allzu verstĂ€ndlich ist, gibt es fĂŒr den Ă€rmeren Teil der Bevölkerung nur einen Ausweg: die Dienste eines Kautionsagenten [5] in Anspruch zu nehmen, der die benötigte Summe gegen eine GebĂŒhr und Zinsen zu VerfĂŒgung stellt.
Das GeschĂ€ft mit der Freiheit von Menschen macht die Diskriminierung der unteren Schichten so offensichtlich, dass sich das höchste Gericht Kaliforniens Ende MĂ€rz gezwungen sah, in einem Urteilsspruch zu verkĂŒnden, es sei illegal, wenn Menschen hinter Gittern sĂ€Ăen, nur weil sie sich die Kaution nicht leisten können [6].
Das Urteil schafft das Kautionssystem nicht ab, sondern berechtigt Angeklagte lediglich zu einer richterlichen Anhörung bezĂŒglich einer angemessenen Kautionssumme. Schon vor der Pandemie gab es Angeklagte, die ihre Zeit bis zum Urteilsspruch in Freiheit verbrachten, es waren nur deutlich weniger.
Es ist freilich kaum davon auszugehen, dass die GefĂ€ngnisse leer bleiben. Angesichts der rasant ansteigenden Mord-Rate in amerikanischen StĂ€dten [7] werden die Rufe nach mehr PolizeiprĂ€senz und mehr Verhaftungen [8] wieder lauter. Der Druck auf die politische FĂŒhrung steigt also, sich sowohl dem KriminalitĂ€tsproblem als auch einer GefĂ€ngnisreform anzunehmen.
Um echten Wandel herbeizufĂŒhren, muss es jedoch um mehr als um die, von PrĂ€sident Biden angestoĂene, Entprivatisierung des GefĂ€ngnis-Sektors [9] gehen. Denn, obwohl das Kommerzialisieren von Inhaftierung eine Industrie ist - an Niedertracht kaum zu ĂŒberbieten -, so ist dies, genau wie die zuvor beschriebene "Kautionsbranche", nicht Grund, sondern Symptom der "Massen-Inhaftierung" von der besonders Afroamerikaner betroffen sind.
Der primÀre Zweck des amerikanischen GefÀngnissystems ist die Kontrolle derer, die durch Globalisierung und Automatisierung vom Arbeitsmarkt verdrÀngt und damit ihrer positiven ökonomischen Funktion beraubt wurden.
Aus Sicht der Nachkommen versklavter Afrikaner steht der "GefÀngnis-Industrie-Komplex" in einer Tradition rassistischer, staatlich legitimierter Institutionen wie den "Jim Crow" Gesetzen [10], die dazu dienten, sie trotz Beendigung der Sklaverei in ausbeuterische ArbeitsverhÀltnisse zu zwingen. Gerade deshalb ist der Fokus vieler Aktivistinnen auf die Ausbeutung durch GefÀngnisarbeit [11] mehr als verstÀndlich.
Zwar findet der amerikanische Kapitalismus immer Wege, mit diesem im wirtschaftlichen Sinne "unbrauchbar" gewordenen Teil der Bevölkerung Geld zu verdienen. Aber vorrangig geht es vor allem darum, Armut zu verwalten.
Dies geschieht durch einen andauernden Kreislauf aus GefĂ€ngnisaufenthalten und einem Leben in Armut, aus dem viele keinen Ausweg finden. Ăberwachung und Verwaltung sind die Instrumentarien, nicht die Rehabilitation von Menschen. Eine Entwicklung, die dazu fĂŒhrt, dass sich die Lebensbedingungen in sozial benachteiligten Nachbarschaften kaum mehr von denen in GefĂ€ngnissen unterscheiden [12].
Hierbei spielt besonders die amerikanische Drogenpolitik eine Rolle. Im sogenannten "Krieg gegen die Drogen" ging und geht es besonders darum, Menschen wegzusperren.
In den 1970/80er-Jahren richtete die Crack-Epidemie ganze Wohnviertel und Gemeinden zu Grunde. Damals galt Drogensucht als Problem von Minderheiten in urbanen Zentren. Aktuell wird auch die arme, zumeist weiĂe, lĂ€ndliche Bevölkerung zum Opfer amerikanischer Drogenpolitik und vielleicht entwickelt die Ăffentlichkeit etwas mehr Mitleid als zu Zeiten von Nancy Reagans "Just Say No"- Kampagne [13].
Jedoch zeigt die von der Pharma-Industrie verschuldete Opiod-Crisis [14], dass Drogen, Armut, KriminalitĂ€t und Kriminalisierung in erster Linie mit der sozialen Klasse zusammenhĂ€ngen - dann erst mit Rassismus. So wĂ€chst zwar der Anteil weiĂer Amerikaner an der GefĂ€ngnisbevölkerung doch die soziale Herkunft der Insassen bleibt die gleiche: Sie sind Angehörige schwacher sozialer Schichten [15].
Konzepte sind vonnöten, um auch kĂŒnftig eine Gesellschaft zu organisieren und zu regieren, in der immer mehr Menschen leben werden, deren Arbeitskraft nicht mehr benötigt wird, ganz zu schweigen von den 5.3 Millionen Amerikanerinnen, die nach internationalen Standards schon jetzt in tiefster Armut leben.
Und der Trend setzt sich fort, die Technologisierung schreitet unaufhaltsam voran, der Arbeitsmarkt schrumpft und die Massen-Inhaftierung der unteren sozialen Schichten ist mit 182 Milliarden Dollar schon jetzt kein billiges Unterfangen.
Es ist kein Zufall, dass sich die Reichen und MĂ€chtigen des Silicon Valley, also jene, die sich als Spitze technischen Fortschritts begreifen, fĂŒr ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen. Sie fĂŒrchten um die StabilitĂ€t ihres Landes.
Doch um eine solche Sozialreform durchzusetzen, mĂŒssten sich die Amerikaner allerdings erst von dem neoliberalen Grundsatz trennen, dass ein Mensch nur durch seinen wirtschaftlichen Beitrag berechtigt ist, in WĂŒrde und Freiheit zu leben.
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[1] https://www.npr.org/2021/04/05/984337382/inmates-riot-at-st-louis-jail-setting-fires-and-breaking-windows
[2] https://www.prisonpolicy.org/reports/pie2020.html
[3] https://www.americanbar.org/news/abanews/aba-news-archives/2020/03/coronavirus-affecting-justice-system/
[4] https://thehill.com/opinion/criminal-justice/555221-jails-shrunk-during-the-pandemic-heres-how-to-keep-them-small
[5] https://www.nytimes.com/2019/01/11/nyregion/how-does-bail-work-and-why-do-people-want-to-get-rid-of-it.html
[6] https://www.latimes.com/california/story/2021-03-25/california-supreme-court-nixes-cash-bail-some-defendants
[7] https://cdn.ymaws.com/counciloncj.org/resource/resmgr/covid_commission/Year_End_Crime_Update_Design.pdf
[8] https://minnesota.cbslocal.com/2021/02/13/minneapolis-oks-6-4m-to-recruit-more-police-officers-amid-push-to-replace-mpd/
[9] https://time.com/5934213/private-prisons-ban-joe-biden/
[10] https://www.nationalgeographic.com/history/article/jim-crow-laws-created-slavery-another-name
[11] https://www.economist.com/united-states/2017/03/16/prison-labour-is-a-billion-dollar-industry-with-uncertain-returns-for-inmates
[12] https://bostonreview.net/archives/BR27.2/wacquant.html
[13] https://www.theguardian.com/society/2016/mar/08/nancy-reagan-drugs-just-say-no-dare-program-opioid-epidemic
[14] https://www.welt.de/vermischtes/article132538488/Heroin-feiert-in-den-USA-ein-grausames-Comeback.html
[15] https://jacobinmag.com/2018/01/mass-incarceration-race-class-peoples-policy-project
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