USA: Bedrohung durch inländischen Extremismus "so vielfältig wie nie zuvor"
Warum das FBI um über 250 Prozent aufgestockt wurde? Die neue Landschaft des "Domestic Terrorism": Von Corona-Maßnahmen-Gegnern, über Incels, Neonazis, White Supremacists, QAnon-Anhänger bis hin zu "Salat-Büffet"-Terroristen und Tierschützer
"Innere Sicherheit" war bei diesem Wahlkampf kein Topthema in Deutschland - anders als früher und anders als in großen westlichen Ländern. So taucht in Frankreich die Möglichkeit eines Bürgerkriegs regelmäßig in Diskussion auf und wer einmal CRS-Polizisten bei einer Gelbwesten-Demonstration gesehen hat, weiß sofort, wovon die Rede ist, wenn es um die Militarisierung der Polizei geht.
In den USA ist die Bedrohungslage und die Innere Sicherheit ein wichtiges Thema geblieben, es wird allerdings in den Medien aktuell nicht an die große Glocke gehängt. Umso interessanter ist der Einblick, den eine Anhörung vergangener Woche vor dem Senatsausschuss zur Homeland Security lieferte. Dort berichtete FBI-Chef Christopher A. Wray von der Lage zwanzig Jahre nach 9/11 (etwa ab Minute 42:00).
FBI: In den letzten 18 Monaten um 260 Prozent aufgestockt
Dabei nannte er eine beachtliche Zahl: So habe das FBI das Personal für die "Bekämpfung des inländischen Terrorismus" in den letzten 18 Monaten um 260 Prozent aufgestockt. Die laufenden Ermittlungen zum Inlandsterrorismus hätten sich in den letzten anderthalb Jahren mehr als verdoppelt. Sie seien von 1.000 auf 2.700 Fälle gestiegen, so Wray.
Nun hat man in den Jahren nach den Anschlägen am 11. September 2001 von einer Anzahl von Storys über Anschlagsplanungen und vereitelte Anschläge gelesen, bei denen die Ermittler keine wirklich saubere Rolle gespielt haben. Ihnen wurde nicht nur von kritischen Nischen-Medien der "Gegenöffentlichkeit", sondern auch von großen, bekannten Medieninstitutionen wie der New York Times vorgeworfen, dass sie manchmal etwas nachhalfen, dass die Grenze zwischen Anstiftung und beobachtender Undercover-Tätigkeit häufig nach gusto gezogen wird.
Insofern kann man der Erfolgsmeldung des FBI-Chefs über "potenzielle Terroranschläge", die in Cleveland, Kansas City, Las Vegas, Miami, New York, Pittsburgh und Tampa vereitelt wurden, mit Vorsicht aufnehmen. Dass die Angriffe - eingeschlossen die versuchten -, auf Strafverfolgungsbeamte zugenommen haben, lässt aufhorchen. Der Anstieg ist nicht sehr aussagekräftig: "In den ersten acht Monaten des Jahres 2021 wurden 52 Todesfälle gemeldet, im Vergleich zu 46 im gesamten Jahr 2020."
Das Spektrum der Bedrohung
Wesentlich interessanter ist das Spektrum der Bedrohung, das vom FBI-Chef Wray und der Leiterin des National Counterterrorism Center (NCTC) Christine Abizaid aufgemacht wurde: Es reicht von Corona-Maßnahmen-Gegnern, über "Incels", Neonazis, White Supremacists, QAnon-Anhänger bis hin zu Salafisten, was allein schon einen bunten Mix ergibt.
Doch hat man für die neue Unübersichtlichkeit noch einen eigenen Begriff gefunden, der als zusätzliche, eigenständige Gefährdungsquelle erwähnt wird: der "Salad-Bar-Terrorism, motivated by concepts like accelerationism" (was wohl Armen Avanessian, im deutschsprachigen Raum der meistbefragte Experte für Akzelerationismus dazu sagt?).
Im März dieses Jahres gab Amt des Director of National Intelligence (DNI) in einem Bericht über die inländische Bedrohung (domestic violent extremism, DVE) bereits zu erkennen, dass interessante Unterkategorien des gewalttätigen, mit lebensbedrohlichen Drohungen und Aktivitäten agierenden inländischen Extremismus in den Blick geraten sind: "racially and ethnically motivated violent extremists (RMVEs), übersetzt: rassistisch und ethnisch motivierte gewalttätige Extremisten.
Aufgezählt werden: "gewalttätige Tierrechts- und Umweltextremisten; Abtreibungsextremisten (zur Unterstützung von Pro-Life- oder Pro-Choice-Überzeugungen); gewalttätige Extremisten, die gegen die Regierung oder die Autorität sind".
Letzteres wird noch weiter aufgeschlüsselt: "Innerhalb der regierungsfeindlichen/autoritätsfeindlichen gewalttätigen Extremisten werden mehrere Unterkategorien aufgeführt, darunter gewalttätige Extremisten der Miliz (MVEs), gewalttätige Extremisten der Anarchisten und gewalttätige Extremisten der souveränen Bürger."
Salat-Büffet
Kein Wunder, also dass man im (von einem FBI-Agenten gegründeten) Soufan-Center schon im März zur Einschätzung kam: "Im Jahr 2021 ist die Bedrohung durch gewalttätigen Extremismus so vielfältig wie nie zuvor in den letzten zwei Jahrzehnten." Ein hochrangiger FBI-Beamter steuerte zum damaligen Bericht eine Definition des Salat-Büffet ("Salad bar") -Terrorismus bei:
Vereinfacht ausgedrückt, scheint es so zu sein, dass Einzelpersonen oder Gruppen Ideologien anhängen, die sich überschneiden, konvergieren oder sogar in einigen Fällen widersprechen, aber dennoch das Glaubenssystem von Extremisten prägen. Die Grenzen zwischen Links- und Rechtsextremismus verschwimmen immer mehr, da das ideologische Spektrum als Extremistenbuffet behandelt wird.
Der Ökofaschismus, bei dem weiße Vorherrschaft und Umweltschutz zusammenkommen, ist ein Nebenprodukt der ideologischen Konvergenz, und die Manifeste der Terroristen, die für das Massaker in Christchurch und den Anschlag in El Paso im Jahr 2019 verantwortlich waren, enthielten jeweils Verweise auf diese Ideologie. Der Bericht bezeichnet RMVEs und MVEs als die ernsthaftesten Bedrohungen für das US-Heimatland, wobei anerkannt wird, dass RMVEs, einschließlich weißer Rassisten und Neonazis, am ehesten versuchen, Zivilisten anzugreifen und Anschläge mit vielen Opfern zu verüben.
The Soufan Center
Geheimdienste: Keine Sorge um Arbeitsplätze
Vonseiten der Geheimdienste und der FBI-Vertreter wird die Sorge betont, wonach der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 wie auch die Machtübernahme der Taliban und die Euphorie, die dies unter den Dschihadisten ausgelöst hat, inländische Terroristen inspirieren könnten, "darunter Verschwörungstheoretiker, Milizgruppen und eine Reihe von regierungs- und autoritätsfeindlichen Extremisten".
Covid und die Proteste gegen die Maskenpflicht und Impfstoffe könnten die bestehenden Spannungen "wahrscheinlich weiter verschärfen und den gewalttätigen Extremisten im Inland mehr Möglichkeiten bieten, Propaganda zu verbreiten und neue Mitglieder zu rekrutieren".
Der Zugang zu neuen Technologien wie Drohnen, 3-D-Druck und künstlicher Intelligenz würden die Bedrohung durch die neue Generation der Extremisten noch verstärken. So die Sorge vor einem Terrorismus mit der Geschwindigkeit der sozialen Medien ("terrorism moves at the speed of social media").
Zivilgesellschaft: Sorge über die Militarisierung der Polizei
Doch gibt es, wie zu Anfang erwähnt, auch die andere Seite, die sich mit guten Gründen große Sorgen über die militärische Aufrüstung des staatlichen Sicherheitsapparats machen.
So wendet sich aktuell die "Initiative für sichere Familien" gegen das Programm 1033. Das kennt kaum jemand, weil die damit verbundene, massive militärische Aufrüstung der Polizei auch nicht an die große Glocke gehängt wird.
Nach Angaben des Law Enforcement Support Office (LESO), das den Prozess überwacht, wurden seit der Einführung des Programms Güter im Wert von über 7,4 Milliarden Dollar übertragen; mehr als 8.000 Strafverfolgungsbehörden haben sich angemeldet. Ein großer Teil dieses Inventars ist ganz normal: Büroausstattung, Kleidung, Werkzeuge, Funkgeräte usw. Aber es umfasst auch einige der so genannten "kontrollierten Ausrüstung" (controlled equipment) - Gewehre, gepanzerte Fahrzeuge usw. (…) "Die Bundesregierung behält nicht wirklich den Überblick über viele dieser Geräte, die an lokale Strafverfolgungsbehörden gehen", sagt Anna Gunderson, Politikwissenschaftlerin an der Louisiana State University.
The Wired