USA: Das Gespenst der "Woke Right"
In der zweiten Trump-Ära ist die US-Linke in der Defensive. Doch manche erschrecken über eine neue Form "woker" Denkmuster – von rechts.
Douglas Murray, streitbarer konservativer Herausgeber des britischen Wochenmagazins The Spectator und Autor einer Reihe prowestlicher Bücher, ist es gewohnt, für Linke ein rotes Tuch zu sein. Doch Mitte April stand er nach seinem Auftritt bei Joe Rogan, einem der reichweitenstärksten Interview-Podcasts der Welt, zur Abwechslung von einer anderen Seite im Kreuzfeuer: von rechts.
Murray hatte ernste Vorwürfe gegen den Gastgeber und seinen Co-Gast erhoben, den israelkritischen Komiker Dave Smith. Beide machten ihm zufolge auf parteiische Art und Weise Positionen stark, die etablierte Interpretationen des Zeitgeschehens infrage stellten, sich aber kaum auf einschlägige Expertise stützten und leichtfertig mit gefährlichen Ideen spielten.
Weltkriegsrevisionismus bei Tucker Carlson
Was damit gemeint war, veranschaulicht das Beispiel von Darryl Cooper, das in der Diskussion immer wieder auftaucht. Cooper betreibt einen erfolgreichen Geschichtspodcast namens "Martyr Made" und hatte letztes Jahr mit einem Auftritt bei Tucker Carlson Wellen geschlagen, ebenfalls eine Plattform mit Millionenreichweite rechts der Mitte.
Cooper hatte unter monotoner Zustimmung Carlsons revisionistische Thesen zum Zweiten Weltkrieg ausgebreitet, nachdem beide eine Weile diffus darüber geklagt hatten, dass man so vieles zu diesem Thema nicht sagen dürfe.
Der Hauptschurke des Krieges sei Winston Churchill; Hitler habe Friedensangebote unterbreitet, Churchill aber aus persönlichen, niederen Beweggründen Krieg gewollt. Russische Kriegsgefangene seien nur deswegen getötet worden, weil die Deutschen logistisch nicht darauf vorbereitet gewesen seien, sie zu ernähren und ihnen unnötiges Leid ersparen wollten.
Der Holocaust findet in dem etwa 45-minütigen Gesprächsabschnitt zum Thema keine Erwähnung. Im Anschluss hatte eine Reihe von Historikern Coopers Behauptungen in Artikeln und Interviews zurückgewiesen.
Dieses Jahr war Cooper dann auch bei Joe Rogan aufgetreten, und Rogan, dessen naiver Mangel an Expertise geradezu sein Markenzeichen ist, hatte sich auf den Standpunkt eingelassen, Cooper sei missverstanden worden. Allerdings äußert sich Letzterer auch in sozialen Medien öfter mal "missverständlich".
Der konservative Historiker Niall Ferguson, selbst Experte für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, konstatierte kürzlich besorgt, Rogan werde zur Plattform für "Faschisten".
Expertise als Herrschaftsdiskurs
Murray kritisierte nun, dass Rogan immer wieder den Coopers dieser Welt Raum gebe, aber nicht den Gegenpositionen der Fergusons, der tatsächlichen Experten.
Besonders an dieser Unterscheidung zwischen "richtigen Experten" und Akteuren, die "nicht wissen, wovon sie reden", aber dennoch vor großem Publikum über das Weltgeschehen predigen, nahm jetzt ein lauter Teil der Rechten heftig Anstoß. Murray betreibe "Gatekeeping" und appelliere an Autorität, um Denk- und Sprechverbote zu erteilen und Mainstream-Positionen gegen berechtigte Kritik zu immunisieren.
Im Zusammenhang dieser Grabenkämpfe rückte aufs Neue der Ausdruck "Woke Right" in den Vordergrund, der schon seit einigen Jahren kursiert. Gemeint ist eine Bewegung rechts des Trump-Lagers, in deren Mentalität und Weltbild verschiedene Beobachter auffällige Parallelen zur linken Woke-Bewegung der letzten Jahre erblicken.
Die expertenfeindliche Haltung hinter den Reaktionen auf Murray entspräche in dieser Analogie der allgegenwärtigen Kritik an "Herrschaftsdiskursen" auf der Linken.
Als einer der Ersten zog 2022 der evangelische Pastor Kevin DeYoung die Parallele. In seiner Rezension des Buches The Case for Christian Nationalism von Stephen Wolfe, das eine größere Rolle des Christentums in der Politik als Heilmittel für die konstatierte Dekadenz des säkularen Liberalismus fordert, schloss DeYoung:
Wenn Wolfe sarkastisch denen dankt, die "viele aus ihrem dogmatischen Schlummer erweckt haben", und sich freut, dass "jeden Tag weitere erwachen", kann man es einem wohl nachsehen, wenn man seine Version des christlichen Nationalismus als eine Form von rechtem Wokeismus betrachtet. Denn was bedeutet es, woke zu sein, wenn nicht, dass wir zu der "Realität" erwacht sind, dass Unterdrückung überall ist, extreme Maßnahmen notwendig sind und das Regime gestürzt werden muss?
Die Rechte als Proletariat
Zuletzt hat maßgeblich der hauptberufliche Wokeness-Kritiker James Lindsay das Konzept "Woke Right" popularisiert und hitzige Diskussionen darum angefacht.
Er gehört neben Helen Pluckrose und Peter Boghossian zu jenem Trio, das 2017 unter Pseudonymen eine Reihe bewusst bizarrer Beiträge in akademischen Zeitschriften der Gender Studies und geistesverwandter "Critical Theories" platziert hat, um diese als unwissenschaftlich zu entlarven.
Im vergangenen November griff Lindsay abermals auf diese Strategie zurück. Unter dem Pseudonym "Marcus Carlson" reichte er eine umgeschriebene Version des ersten Abschnitts des kommunistischen Manifests als Artikel bei dem christlich-rechten Onlinemagazin American Reformer ein, die dort prompt veröffentlicht wurde.
Marx beschreibt darin, wie sich die Bourgeoisie als zugleich produktive und destruktive Kraft dampfwalzenartig sämtliche gesellschaftlichen Strukturen einverleibe und zu einer Hegemonialstellung aufsteige, damit aber zugleich als Gegenkraft das Proletariat gebäre und so unwissentlich seinen eigenen Untergang besiegele.
Die Rolle der Bourgeoisie übernahm in Lindsays Version die "liberale Nachkriegsordnung" (also etwa: Antitotalitarismus, Internationalismus, Marktwirtschaft mit sozialstaatlichem Ausgleich, Säkularismus und freiheitliche Demokratie), und die des Proletariats, die christliche Rechte. Man erkennt die dialektische Figur der dominierenden Kraft, die ihre Gegenkraft hervorbringt, in Wolfes "sarkastischem Dank" mühelos wieder.
Lindsay hatte in ein Wespennest gestochen; die aufgeregten Reaktionen von rechts waren am Ende interessanter als die Aktion selbst. Dazu gehörten auch Stimmen, die erklärten, Marx und die kritischen Theoretiker hätten mit ihrer Liberalismuskritik doch vollkommen richtig gelegen.
Das Erwachen zur Realität der Unterdrückung
"Woke" ist demnach im Kern die Vorstellung, dass eine allmächtige soziale Kraft bestimmte Gruppen unterdrücke, diesen Umstand aber geschickt tarne, woraus sich die Notwendigkeit ergebe, zu "erwachen".
Das Erwachen vollzieht sich zunächst bei den Hauptleidtragenden der Unterdrückung. Bei den Marxisten wäre dies das erwachende (oder zu ihrem Leidwesen eben nicht erwachende) Klassenbewusstsein, in der herkömmlichen Wokeness sind es die vielen intersektional unterdrückten Identitätsgruppen mit ihrer "gelebten Erfahrung", die ihnen exklusiven Einblick in die Realität der Unterdrückung eröffne.
Die Rechten stellen dann nur Letzteres auf den Kopf: Hier sind es die Weißen, die Christen, der Westen usw., die unterdrückt werden und ihre Variante von revolutionärem Klassenbewusstsein entwickeln müssen.
Die Bereitschaft, einem Darryl Cooper blind zu glauben, während man den Reaktionen der Historiker nicht einmal Gehör schenkt, findet ihre woke-linke Parallele in der Annahme, dass die Beiträge von "Marginalisierten" automatisch wertvoll seien, während die der "alten, weißen Männer" ignoriert werden könnten, da sie ohnehin nur zur Absicherung von Herrschaft und Privilegien dienten.
Brachialer Antisemitismus
Wie das Beispiel Cooper zeigt, sind die Übergänge zwischen altrechter und woke-rechter Reaktion oft fließend. Zu den alarmierendsten Varianten des Verschwörungsdenkens aus dieser Ecke gehört dementsprechend ein teils verhohlener, teils offen brachialer Antisemitismus, auf den Murray mit seinem Verweis auf "gefährliche Ideen" wohl anspielte.
Die wahrgenommene Dekadenz des linksliberalen Establishments erscheint in diesem Weltbild als Teufelswerk der Juden und der philosemitische Donald Trump als Marionette Israels.
Wenn sich beispielsweise die prominente Podcasterin Candace Owens mal nicht an Israel abarbeitet, erklärt sie etwa, Hitler werde zum Schreckgespenst aufgeblasen, um "uns zu indoktrinieren".
Was sei denn nach allgemeiner Auffassung das Schlimme an Hitler? Sie antwortet sich selbst: dass unter ihm "fast eine ethnische Säuberung" (sie sagt wirklich "fast") stattgefunden habe. Doch, wendet sie ein, die Alliierten hätten nach dem Krieg selbst ethnische Säuberungen durchgeführt.
James Lindsay bezeichnete diese tief misstrauische, dekonstruktive Haltung gegenüber dem etablierten Selbstbild der USA einmal spöttisch als "Critical America Theory".
"Mein Freund Douglas Murray"
Anders als Medienberichte oft nahelegen, erweist sich die Trump-Regierung in dieser Hinsicht bislang als stabil. Ihr Vorgehen gegen "DEI"-Initiativen ("Diversity, Equity, Inclusion") zielt nicht auf eine Identitätspolitik von rechts, sondern im Gegenteil auf eine Wiederherstellung des Prinzips farbenblinder Chancengleichheit, das Trump bereits in seiner Inaugurationsrede hervorgehoben hatte.
Rund 24 Stunden nach Erscheinen der Rogan-Episode mit Douglas Murray sendete der Präsident inmitten des tobenden Shitstorms ein entsprechend klares Signal. Auf seiner Social-Media-Plattform Truth Social setzte er einen Beitrag ab, in dem er mit Nachdruck Murrays neues Buch empfiehlt. Der Beitrag beginnt mit den Worten: "Mein Freund Douglas Murray".