USA-Israel-Allianz: Ist Joe Biden wirklich machtlos gegenüber Netanjahu?
Der Ton aus Washington wird schärfer. Warum ändert sich dann nichts? Wenn Sie jetzt an Israel-Lobby denken, liegen Sie daneben. Der Grund liegt tiefer. Eine Einordnung.
Auf Spiegel Online titelte der Leiter des Auslandsressorts Mathieu von Rohr in der Kolumne "Die Lage am Morgen": "Warum wirkt Joe Biden im Nahen Osten so machtlos?". Zunehmend verzweifelter kritisiere der US-Präsident die israelische Führung und fordere einen Waffenstillstand, so Rohr.
Dabei sei eigentlich niemand in einer stärkeren Position als US-Präsident Joe Biden, siehe zum Beispiel die US-Waffenlieferungen an Israel. Warum passiere dann nichts? Die Antwort gemäß Spiegel Online:
Das Problem für Biden ist, dass seine Rhetorik das Vorgehen der israelischen Armee kaum beeinflusst. Zugleich ist kaum vorstellbar, dass die USA wirkliche schmerzhafte Konsequenzen beschließen – etwa einen Stopp von Munitionslieferungen an die israelische Armee.
100 US-Waffenlieferungen an Israel in 150 Tagen
Die Frage, die sich stellt, ist dann aber, warum Bidens Kritik an Israels Vorgehen in Gaza keinerlei Effekte erzielt. Und warum die USA "schmerzhafte Konsequenzen" nicht beschließen werden – oder nicht dazu in der Lage sind.
Die Wahrheit ist, dass die Vereinigten Staaten über eine Reihe von sehr mächtigen Instrumenten verfügen, Einfluss zu nehmen – und sie auch leicht ergreifen könnten.
Seit Beginn des Gaza-Kriegs nach dem 7. Oktober haben die USA heimlich über 100 Waffenlieferungen an Israel abgewickelt, die Tausende von Bomben und Waffen enthalten. Das geht aus neuen Berichten hervor.
Darunter fallen Präzisionsmunition, Bomben mit kleinem Durchmesser, Bunkerbrecher, Kleinwaffen (wie Schusswaffen) und mehr, wie die Washington Post berichtet. Die Exporte erfolgten, obwohl Experten wiederholt darauf hingewiesen haben, dass Israel mit seiner unterschiedslosen Bombardierung des Gazastreifens Kriegsverbrechen begeht, der Internationale Gerichtshof IGH in Den Haag von "plausiblem Genozid" in Gaza spricht und auch US-Gesetze die Gewährung von Militärhilfe an Länder, die Menschenrechtsverletzungen begehen, verbieten.
Der US-Senat hat Mitte Februar zudem einen Gesetzentwurf zur Unterstützung des israelischen Krieges gegen den Gazastreifen in Höhe von zusätzlich 14 Milliarden Dollar verabschiedet.
US-Truppen zur Unterstützung?
Die Hilfe kommt zu den jährlichen Lieferungen obendrauf, die sich auf rund drei Milliarden Dollar belaufen. Laut der Waffenexport-Datenbank des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts stammen 68 Prozent der israelischen Waffenimporte zwischen 2013 und 2022 aus den USA.
Beobachtern ist klar, dass ohne die militärische Unterstützung Israels durch Washington der Gaza-Krieg nicht durchführbar wäre. Das US-Militär soll zudem Drohnen über die Enklave geflogen haben, um der israelischen Armee beim Sammeln von Informationen zu helfen.
Und wie The Intercept berichtet, auf Grundlage eines Memos der US-Luftwaffe vom Januar, lägen außerdem militärische Befehle vor, "in Bereitschaft zu sein, um Truppen im Falle einer US-Beteiligung am Boden im Hamas-Krieg zu unterstützen."
Während also die USA einige Hilfspakete aus der Luft auf den Gazastreifen abwerfen – ein gefährliches Unternehmen, in einem Fall öffnete sich der Fallschirm nicht und tötete fünf Palästinenser in Gaza – und ein Schiff über die Küste nun Hilfsgüter bringen soll, weil Israel die Lieferungen über Lkw sabotiert und drosselt (wobei die Alternativen weit entfernt davon sind, die humanitäre Notlage wirklich lindern zu können), fallen weiter US-Bomben auf die Enklave und töten US-Waffen Menschen in Gaza.
Die entscheidenden US-Vetos
Zudem hat die Biden-Regierung dreimal im UN-Sicherheitsrat Resolutionen mit ihrem Veto blockiert, die einen Waffenstillstand bzw. eine humanitäre Waffenruhe fordern. Die USA stehen damit allein auf weiter Flur.
Allein diese beiden Instrumente, Waffenlieferungen und UN-Blockade einstellen – und es gebe noch eine Reihe anderer, siehe das Beispiel Russland –, würden sicherlich die Netanjahu-Regierung in große Schwierigkeiten bringen und einen signifikanten Effekt auf die Kriegsanstrengungen haben. Wenn die USA ihre schützende Hand wegziehen, würde Israel ziemlich allein auf der Weltbühne stehen.
Der Einwand von Spiegel Online (stellvertretend für viele andere), ist dabei, dass die USA das irgendwie nicht tun werden, nicht tun können, weil … Man kann die Leerstelle nun mit diversen, in den Medien zirkulierenden Aussagen füllen. Eine davon ist, dass das politisch nicht durchsetzbar ist. Aber das stimmt nicht.
Was die US-Bevölkerung will, aber nicht bekommt
Eine neue Umfrage, die Anfang März veröffentlicht wurde, zeigt, dass eine Mehrheit der Amerikaner verlangt, dass die US-Regierung die Lieferung von Waffen an das israelische Militär einstellen soll, damit der Angriff auf den Gazastreifen beendet wird, bei dem mehr als 30.000 Palästinenser getötet wurden, die meisten von ihnen Zivilisten, Frauen und Kinder.
52 Prozent der Befragten in den USA wollen das, nur 27 Prozent widersprachen. Die Opposition gegen Waffenlieferung reicht dabei über das gesamte politische Spektrum.
Insbesondere die Unterstützer Bidens und der Demokraten zeigen sich entschlossen. 62 Prozent der US-Bürger, die 2020 Biden als Präsident wählten, wünschen, dass die USA die Lieferungen beenden, während nur 14 es anders sehen.
Darüber hinaus unterstützen zwei Drittel der US-Wähler, ob nun Republikaner oder Demokraten, eine dauerhafte Waffenruhe im Gazastreifen. Bei den Vorwahlen im US-Bundesstaat Michigan, einem wichtigen Swing-State für die Präsidentschaftswahlen im November, haben mehr als 100.000 Wähler im Rahmen einer organisierten Kampagne, die gegen die Unterstützung Israels für den Gazastreifen durch die USA protestiert, Wahlzettel mit "nicht gewählt" abgegeben. Eine Warnung an Joe Biden.
Israel-Lobby AIPAC
Auch immer mehr Juden in den USA gehen gegen die Israel-Unterstützung der Biden-Regierung für den Gaza-Krieg auf die Straße und protestieren mit Kampagnen wie "Nicht in unserem Namen". Israels Vorgehen gegen die Palästinenser findet immer weniger Anklang bei sogenannten liberalen Juden.
Warum nimmt Biden also weiter nicht die Instrumente in die Hand, um Netanjahu zu stoppen, den Krieg in Gaza fortzuführen? Ein weiterer Einwand ist, dass die Israel-Lobby in den USA und Washington sehr mächtig sei und das verhindere.
Sicherlich ist AIPAC, die große Israel-Lobbygruppe, einflussreich und versteht es, Politiker in den USA Israel gewogen zu machen und politische Einstellungen im Einzelfall mitzugestalten. Aber die Lobby eines relativ kleinen Staats hat natürlich nicht die Macht, die Außenpolitik der US-Superpower zu lenken.
Die Antwort auf die enge Verbindung zwischen den USA und Israel liegt tiefer. Man muss dafür historisch ein wenig zurückschauen. Seit dem Sechstagekrieg 1967, bei dem das israelische Militär die ägyptische Armee imposant besiegte, stieg Israel zu dem regionalen Verbündeten der Vereinigten Staaten auf, wie er sich heute zeigt.
Israel als Schutzwall gegen arabischen Nationalismus
Erst damals starteten die großen Waffenlieferungen aus den USA und der diplomatische Schutz Israels bei den Vereinten Nationen und internationalen Foren. In einem Papier des Nationalen Sicherheitsrats der USA von 1958 hieß es zwar schon, dass die Opposition gegen arabischen Nationalismus logisch erfordere, "Israel zu unterstützen als die einzige starke pro-westlichen Macht, die im Nahen Osten übrig bleibe".
Doch erst nach 1967 wendeten sich die USA vom alternativen ägyptischen Partner unter Präsident Nasser ab und Israel voll zu. Nun sahen die US-Geheimdienste Israel als den einzigen Schutzwall gegen den Druck von Nasser auf die Öl-produzierenden Golfstaaten an.
Das ist die eigentliche Grundlage für die enge Verbindung der USA mit Israel. Denn nicht Israel an sich interessiert die USA. Israel ist von strategischem regionalem Wert für Washington.
Kontrolle über die Öl-Vorräte in der Region
Die USA begannen seit dem Zweiten Weltkrieg damit, Kontrolle über den Nahen Osten zu erlangen und zu behalten. Das Motiv dahinter ist kein Geheimnis. Das US-Außenministerium beschrieb die Golfregion und insbesondere Saudi-Arabien 1945 als "enorme strategische Macht, und einer der größten materiellen Gewinne in der Weltgeschichte".
Der Außenpolitik-Analyst David Painter stellt fest, dass "US-Kontrolle über die Öl-Vorräte der Welt notwendig" ist. Und: "Die Öl-Außenpolitik war nicht nur geprägt durch die Ölindustrie, sondern auch durch die 'privilegierte Stellung des Unternehmenssektors' in den Vereinigten Staaten." Es ging und geht den USA weiter um die dort lagernden Öl- und Gasvorkommen.
Diesen Gewinn festzuhalten und nicht zu verlieren, die Region demgemäß zu "stabilisieren", mit militärischen und nicht-militärischen Mitteln, bei diesem Unternehmen hat Israel seinen Wert für die USA erhalten – und besitzt ihn bis heute. Daher tut sich die Biden-Regierung so schwer, die Reißleine zu ziehen.
US-Israel-Beziehung beginnt zu bröckeln
Doch in den USA und auf der Weltbühne (siehe die Genozid-Klage Südafrikas vor dem IGH und die Reaktionen aus dem Globalen Süden auf den Gaza-Krieg) wird es immer schwieriger, die bedingungslose Israel-Unterstützung aufrechtzuerhalten.
Man sollte dabei bedenken: Die USA haben historisch gesehen Israel nicht immer bedingungslos, diplomatisch und vor allem militärisch unterstützt sowie eine Friedenslösung, wie sie mit einem Palästinenserstaat auf dem Tisch liegt, blockiert. Es könnte sein, dass der jetzige Gaza-Krieg den unterschwellig – gesellschaftlich und international – bereits stattfindenden Erosionsprozess beschleunigt.
Und dann ist die Frage, ob Biden wegen des Gaza-Kriegs seine Wahlchancen im November aufs Spiel setzen möchte. Das wäre ein weiterer hoher Preis für die derzeitige US-Regierung, der die Waagschale gegen Netanjahu immer stärker nach unten zieht.