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USA: Warum leben die Reichen ein Jahrzehnt länger als die Ärmsten?

Katrina vanden Heuvel

Bild: Shannon Kringen, CC BY-SA 2.0

Die sinkende Lebenserwartung in den USA ist kein Zufall. Sie ist eine Folge von Politikversagen. Warum die einfachen US-Amerikaner früher sterben und (unter anderem) Politiker immer älter werden. Ein Gastbeitrag.

Die Sendekette National Public Radio berichtete kürzlich, dass die Lebenserwartung in den USA im Jahr 2021 das zweite Jahr in Folge gesunken sei. Die durchschnittliche US-amerikanische Lebenserwartung liegt jetzt bei 76 Jahren – so niedrig wie seit 1996 nicht mehr. Seit dem Zweiten Weltkrieg war die Lebenserwartung dank besserer medizinischer Versorgung, Bildung und wissenschaftlicher Errungenschaften bis dahin stetig gestiegen.

Katrina vanden Heuvel

Zweifellos hat die Covid-19-Pandemie in einem erheblichen Maße zu dieser Entwicklung beigetragen. NPR berichtet, dass die Lebenserwartung in vergleichbaren Ländern im Jahr 2020 nur geringfügig gesunken ist und im Jahr 2021 sogar wieder angestiegen ist – ganz abgesehen davon, dass die Lebenserwartung in den USA bereits zuvor deutlich hinter der dieser Länder zurücklag.

Wenn die Pandemie ein Test für die Infrastruktur des Gesundheitswesens der USA war, dann haben die USA versagt.

Die Vereinigten Staaten nehmen für sich in Anspruch, das führende Land der freien Welt zu sein. Wir sind stolz auf unsere Demokratie, unsere Bildung und unseren Reichtum, aber all das ist wenig wert, wenn wir nicht lange genug leben können, um es zu genießen. Und unsere sinkende Lebenserwartung ist kein Zufall: Sie ist eine direkte Folge und ein Versagen der Politik.

Es überrascht nicht, dass der Rückgang der Lebenserwartung überproportional ist und die bestehenden sozioökonomischen Ungleichheiten widerspiegelt.

Während die Lebenserwartung der Weißen um 2,4 Jahre zurückging, sank sie bei den Schwarzen um vier Jahre und bei den Hispanics um 4,2 Jahre. Bei den Ureinwohnern sank sie um 6,6 Jahre auf ein Durchschnittsalter von 65,2 Jahren, was der Gesamtlebenserwartung in den USA im Jahr 1944 entspricht.

Selbst wenn der allgemeine Rückgang der Lebenserwartung in den USA ausschließlich auf die Pandemie zurückgeführt werden könnte, lässt sich diese Diskrepanz nicht allein dadurch erklären, sondern spiegelt die ungleichen Ergebnisse wider, die unser Gesundheitssystem seit Langem kennzeichnen.

Abgesehen von Covid-19 waren die Haupttodesursachen im Jahr 2021 eine Überdosis Drogen, Herz- und Lebererkrankungen sowie Selbstmord. Doch sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene unternimmt die US-Regierung wenig, um diese Krisen zu entschärfen; im Gegenteil, rechte Demagogen verschärfen die Situation aktiv, indem sie die Gesundheitsversorgung einschränken.

Ein Beispiel ist die Müttersterblichkeit, die 2021 gegenüber 2020 um 40 Prozent und gegenüber 2019 um fast 60 Prozent gestiegen ist. Dieser Trend ist unabhängig von der Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs gegen das Abtreibungsrecht – der sogenannten Roe v. Wade-Entscheidung –, nach der zahlreiche Bundesstaaten Abtreibungsbeschränkungen erlassen haben.

Ein Bericht des Gender Equity Policy Institute von Anfang dieses Jahres zeigt, dass die Müttersterblichkeit in Staaten mit Abtreibungsverbot fast dreimal so hoch ist wie in Staaten, die das Recht auf freie Entscheidung unterstützen.

Dann gibt es Programme wie die Sozialversicherung, Medicare und Medicaid, die zusammen mehr als 100 Millionen Amerikanern Versorgung und Versicherung bieten. Auch diese Programme möchten die Republikaner aushöhlen.

Lehren nach dem Zweiten Weltkrieg

Senator Rick Scott fordert, dass der Kongress alle fünf Jahre über die Finanzierung dieser Programme abstimmen soll. Senator Ron Johnson fordert eine jährliche Abstimmung. John Thune, ebenfalls US-Senator, sprach sich erst im November letzten Jahres für eine Kürzung der Mittel aus.

In einer Rede vor Anhängern machte Senator Mike Lee seine Position deutlich: "Mein Ziel ist es, die Sozialversicherung abzuschaffen. Sie mit der Wurzel auszureißen und loszuwerden".

Doch trotz aller Diskussionen darüber, ob wir es uns leisten können, in das amerikanische Gesundheitssystem zu investieren, geben die USA bereits heute Tausende Euro pro Kopf mehr für die Gesundheitsversorgung aus als andere Länder - nur wird ein enormer Teil dieser Kosten in Form von Versicherungsprämien und Selbstbeteiligungen auf die amerikanischen Familien abgewälzt.

Zwischen 1900 und 2013 ist die Lebenserwartung der Amerikaner um mehr als 30 Jahre gestiegen. Der Grund ist kein Geheimnis. Ärzte entwickelten Antibiotika und lernten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu behandeln.

Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete die US-Armee mit Wissenschaftlern zusammen, um den ersten Grippeimpfstoff zu entwickeln, und das War Production Board führte eine Koalition an, um die Entwicklung von Penicillin voranzutreiben.

Und Präsident Lyndon B. Johnson unterzeichnete das Medicare- und Medicaid-Gesetz, dem Forscher einen Anstieg der Lebenserwartung zuschreiben.

Die Rechnung ist einfach: Wenn Regierungen Gesundheit und Medizin zur Priorität machen, leben wir länger. Betrachtet man zehn mit den USA vergleichbare Länder, die alle eine höhere Lebenserwartung haben, so verfügen alle über eine staatlich finanzierte Krankenversicherung.

Warum die Dinge so kompliziert machen? Der Schlüssel zur Erhöhung der Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten liegt darin, unsere Gesundheitsversorgung erschwinglicher und zugänglicher zu machen.

Es gibt bereits eine Gruppe, für die das US-Gesundheitssystem hervorragend ist: die Reichen und Mächtigen, die es sich leisten können. Laut einer Harvard-Studie leben die reichsten Amerikaner über ein Jahrzehnt länger als die ärmsten.

Auch unsere Politiker werden immer älter: Wir haben derzeit den zweitältesten Senat und das drittälteste Repräsentantenhaus der Geschichte. Die beiden ältesten Präsidenten, die je im Amt waren, könnten 2024 einen neuen Rekord aufstellen.

Und unseren Richtern am Obersten Gerichtshof geht es so gut, dass sie bis weit in ihre Siebziger von Milliardären finanzierte Weltreisen unternehmen können.

Die privilegiertesten Menschen in unserem Land – und die führenden Politiker, die lange und gut leben – wären gut beraten, die Qualität ihrer Versorgung allen zugänglich zu machen.

Wenn sie sich weigern, sollten die Wähler ihre Karriereerwartungen verkürzen.

Katrina vanden Heuvel ist Redaktionsleiterin und Herausgeberin von The Nation, Amerikas führender Quelle für progressive Politik und Kultur. Von 1995 bis 2019 war sie Redakteurin des Magazins.

Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der US-Tageszeitung The Nation


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