USA: Zugentgleisungen und andere Katastrophen
Drohnenaufnahme der Entgleisung eines Güterzugs in East Palestine, Ohio, USA, Februar 2023. Foto: National Transportation Safety Board/NTSB. Gemeinfrei.
Konkurrent China investiert in Relation zum BIP zehnmal mehr in die Infrastruktur. Ingenieure schätzen die Investitionslücke in den Vereinigten Staaten in diesem Jahrzehnt auf fast 2,6 Billionen Dollar.
Eine Zugentgleisung Anfang Februar und die anschließende Umweltkatastrophe in East Palestine sorgen in den USA für eine anhaltende Debatte – sowohl was die mediale Berichterstattung betrifft wie auch den politischen Diskurs.
Nexus von verschiedenen politischen Problemfeldern
Die Katastrophe liegt an einem Nexus von verschiedenen politischen Problemfeldern in den USA: von Gewerkschaftsrecht über Umweltschutz bis hin zur bröckelnden Infrastruktur. Wenig überraschend ist, dass sich beide politische Parteien gegenseitig die Verantwortung zuschieben.
Die Wahrheit in der Debatte liegt wie so oft in der Mitte: Im Grunde haben sowohl Republikaner als auch Demokraten zu den Umständen der Katastrophe beigetragen.
Kurz nach der Entgleisung eines Norfolk Southern-Zugs am 03. Februar in Ohio wirkte es für manche Bewohner der sogenannten "Flyover States" fast so, als hätten die etablierten Medien vor, das Unglück größtenteils zu ignorieren.
Laut eines Artikels in der New Republic berichteten jedoch sowohl lokale als auch nationale Medien relativ zeitnah über den Unfall. Das vermeintliche Defizit ist möglicherweise auf die nicht ganz unberechtigte Voreingenommenheit der Bevölkerung gegen die Medien an der Ostküste zurückzuführen.
Ihnen wird oft vorgeworfen, dass sie Katastrophen im Mittleren Westen nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenken wie Tragödien, die sich in den Küstenregionen der USA abspielen.
Das Interesse der Politiker
Ein weiterer Grund für die schleppende Berichterstattung könnte auch gewesen sein, dass es den weitgehend parteilichen US-Medien vorerst schwerfiel, den Sachverhalt vor Ort parteipolitisch auszuschlachten.
Hinzu kommt, dass sich die Geschichte um das Unglück nur langsam entfaltet und die Auswirkungen noch nicht vollständig absehbar sind. Die Verstrickung mächtiger Interessen und die Komplexität des Themas trugen sicher auch zu einem anfänglichen Unwillen der großen Medienhäuser bei, sich näher mit der Geschichte zu beschäftigen.
Wie zahlreiche Artikel in der New York Times und anderen "Heritage Media Outlets" zeigen, ist es mit dem anfänglichen Zögern vorbei. Grund hierfür dürfte sein, dass Politiker beider Parteien beginnen, das Zugunglück und die resultierende Umweltkatastrophe mit vorerst unvorhersehbaren Ausmaß für die kommenden Wahlkämpfe zu instrumentalisieren.
Die Demokraten sehen darin ein Beispiel für die Folgen der Trump-Regierung, die die von der Obama-Regierung eingeführten Sicherheitsvorschriften für den Schienenverkehr aufgehoben hatte. Und die Republikaner sehen das Unglück als Symbol für eine vergessene Stadt in Mittelamerika, die gegen einen gefühllosen Großkonzern und eine Regierung kämpft.
Trump verteilt Markenwasser und Wahlkampfmützen
Um diese politischen Standpunkte ordnungsgemäß zu unterstreichen, haben mittlerweile Politiker beider Parteien die Stadt East Palestine besucht. Allen voran Ex-Präsident Trump, der Markenwasser und Wahlkampfmützen verteilte, und Verkehrsminister Pete Buttigieg, der kam, um die mangelnden gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsvorschriften anzuprangern, die eigentlich in seinen Aufgabenbereich fallen sollten.
Präsident Biden befand sich dagegen außerhalb der USA, um der ukrainischen Regierung der uneingeschränkten Unterstützung durch die USA im Krieg mit Russland zu versichern.
Der Ausfall eines Radlagers
Die Demokraten werfen der Trump-Regierung vor, die Sicherheitsbestimmungen für den Schienenverkehr sukzessiv abgeschafft zu haben. Die neuesten Erkenntnisse zu den Unfallursachen deuten jedoch darauf hin, dass die aus der Obama-Ära stammende Vorschrift, die eine automatische Bremstechnik bis 2023 vorschreibt, die Entgleisung nicht verhindert hätte und die Ursache der Ausfall eines Radlagers und nicht die Geschwindigkeit war.
Die Republikaner hingegen konstruieren die Entgleisung als Metapher für eine abgeschlagene Stadt im Herzen der USA, fernab von den politischen Interessen der liberalen Küsten-Eliten. Das Bild mag zynisch anmuten, aber die Abwesenheit des Präsidenten und die späte Reaktion seines Transportministers helfen nicht gerade dabei, das Narrativ der Republikaner zu negieren.
Biden, der Infrastrukturreformer?
Auch vonseiten der Gewerkschaften musste die Biden-Regierung einiges an Kritik einstecken. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter machten Kostensenkungen und Personalabbau für die Häufigkeit der Entgleisungen in der jüngsten Zeit verantwortlich. Präsident Bidens hatte sich erst letztes Jahr in einen Arbeitskonflikt bei der Bahn eingemischt, und damit die Bemühungen der Gewerkschaft um bessere Arbeitsbedingungen untergraben.
Angesichts solch mannigfaltiger Kritik stellt sich die Frage, warum gerade der selbsterklärte Zugliebhaber und Infrastrukturreformer Joe Biden in der aktuellen Debatte so angreifbar wirkt.
Immerhin hatte die Biden-Harris-Regierung am 31. Januar die Vergabe der ersten 1,2 Milliarden Dollar für neun Infrastrukturprojekte im ganzen Land bekannt gegeben.
Das "Mega-Zuschussprogramm", das durch das Infrastrukturgesetz von Präsident Biden ins Leben gerufen wurde, finanziert nach eigener Aussage Projekte, die für herkömmliche Finanzierungsprogramme zu groß oder zu komplex sind.
Zu den förderfähigen Projekten gehören Autobahn-, Brücken-, Fracht-, Hafen-, Personenschienen- und öffentliche Verkehrsprojekte. Im Rahmen des Programms sollen bis 2026 insgesamt fünf Milliarden Dollar in den Wiederaufbau der Infrastruktur der Vereinigten Staaten investiert werden.
Vielen US-Amerikanern dürfte trotz dieser astronomisch wirkenden Summe das Sprichwort "too little too late" in den Sinn kommen. Es gibt einen Grund, warum Bidens "Build Back Better Plan" ständig mit FDRs "New Deal" verglichen wird, denn diesbezüglich ist wenig passiert seit der Ära von Truman und Dwight D. Eisenhower.
Der "US-amerikanische Traum von der Freiheit auf Rädern"
Der "amerikanische Traum von der Freiheit auf Rädern" – mit diesem Slogan warb die Regierung von Präsident Dwight D. Eisenhower Mitte der 1950er-Jahre für massive Investitionen in das "Interstate Highway System". Ein nationaler Infrastrukturplan, der das Land in den folgenden Jahrzehnten mit einem Netz von Überlandstraßen durchzog, oft allerdings auf Kosten der Lebensqualität schwarzer Menschen.
Denn es waren vor allem die Nachbarschaften schwarzer Menschen, die bis zu diesem Zeitpunkt offiziell nur auf Stadtplankarten durch "Redlining" segregiert waren, die bald von den neuen Autobahnen und ihren Zubringern durchzogen und so auch oft physisch von anderen Vierteln getrennt wurden.
Antwort auf die Frage, warum sich ein konservativer Republikaner wie Eisenhower und sein Vize Richard Nixon für solch hohe staatliche Ausgaben für die Infrastruktur starkmachten, liefert die Website der U.S.Army.
Freie Straßen für Evakuierung
In einer Rede vor der Gouverneurskonferenz im Juli 1954 äußerte Vizepräsident Richard Nixon seine Besorgnis über die "erschreckenden Unzulänglichkeiten" der bestehenden US-Straßeninfrastruktur und deren Unfähigkeit, den Erfordernissen eines nationalen Notstands von der Größenordnung eines Atomkriegs gerecht zu werden.
Zu der Zeit von Nixons Rede glaubten neunundsiebzig Prozent der US-amerikanischen Öffentlichkeit, dass ein Atomkonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion unmittelbar bevorstehe. Im Falle eines Krieges hätte man siebzig Millionen Stadtbewohner auf dem Landweg evakuieren müssen.
Auch der "Clay-Ausschuss" warnte vor der Notwendigkeit einer großangelegten Evakuierung der Städte im Falle eines Atomkriegs. Der Ausschuss stellte nüchtern fest, der rasche Ausbau des gesamten vierzigtausend Meilen langen Fernstraßennetzes, einschließlich der notwendigen städtischen Verbindungen dazu, sei als Zivilschutzmaßnahme "unerlässlich".
Infrastruktur: Alarm beim Showrunner des Kapitalismus
Jede Regierung seit Eisenhower hat das Thema Infrastruktur auf ihre politische Agenda gehoben. Passiert ist seither wenig, da die politischen Prioritäten stets andere waren und mit ihnen die Verteilung der Budgets.
Die USA sind ein großes und sehr föderal organisiertes Land und jeder Einzelstaat, jede Stadt und jeder Landkreis hat andere Anforderungen an seine Infrastruktur.
Die American Society of Civil Engineers – der Berufsverband der amerikanischen Bauingenieure – schlägt seit Jahren Alarm, stellt dem Land immer schlechtere Noten für den Zustand der Straßen, Brücken, Stromnetze und Schifffahrtswege aus. Für das laufende Jahrzehnt identifizierten die Ingenieure eine Investitionslücke von fast 2,6 Billionen Dollar.
Bidens Infrastrukturgesetz umfasst Investitionen in Höhe von 1,2 Billionen Dollar und deckt damit nicht einmal die Hälfte. Das Geld soll über die kommenden fünf Jahre in die Reparatur und den Neubau von Straßen und Brücken fließen, in den öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Allein 66 Milliarden Dollar sind für die ikonische, aber seit Jahren defizitäre Eisenbahngesellschaft Amtrak vorgesehen.
Die Investition in die Personalverkehrsverbindungen in den USA ist überfällig. Der innerstädtische Personennahverkehr ist mancherorts in einem so katastrophalen Zustand, dass er schon für Stoff für urbane Legenden sorgt.
So rankten sich schon kurz nach dem Verschwinden einiger Straßenbahnlinien in den Metropolregionen der Westküste Mythen um eine angebliche Verwicklung der damals allmächtigen Autoherstellerfirma-Firma "General Motors". Wahrscheinlich waren es jedoch andere Faktoren, die den Betrieb überlebensfähiger Straßenbahnlinien erschwerten.
Das Hauptproblem dürfte gewesen sein, dass die privaten Straßenbahnlinien Gewinne abwerfen mussten, was bald durch eine zunehmende Abwanderung der weißen Bevölkerung in die Vororte in Verbindung mit der Erweiterung des Autobahn-Netzes, gemäß dem oben erwähnten "Federal Highway Act", unmöglich wurde.
Die Frage ist also nicht ob, sondern auch wie die USA künftig in ihre Infrastruktur investieren sollten. Vielleicht würden die USA von einer zentraleren Steuerung des Infrastrukturprogrammes profitieren, wie es in China der Fall ist.
Der Konkurrent investiert prozentual zum BIP etwa zehnmal mehr in Infrastrukturprojekte als die USA. Für eine Infrastrukturreform muss die Bundesregierung jedoch eng mit den Bundesstaaten und Städten zusammenarbeiten und einige Experten sind überzeugt, dass die einzelnen Gemeinden am besten entscheiden können, was sie benötigen.
Viele dieser lokalen politischen Institutionen sind konservativ regiert und neigen daher tendenziell dazu, das Geld privaten Firmen anstatt öffentlichen, umweltfreundlichen Infrastrukturprogrammen zukommen zu lassen. Bisher wirkt es allerdings so, als würde Bidens Milliarden-Paket eher herkömmlichen Infrastrukturprogrammen zugutekommen.
Ökonomischer Wettlauf
Das reicht vielleicht, um Lieferketten zu sichern und die USA vor einem absoluten Kollaps zu bewahren, aber nicht unbedingt, um Bidens Vorhersage wahr zu machen, dass auch in 50 Jahren die Menschen noch sagen sollten: "Dies war der Moment, in dem sich Amerika entschied, den ökonomischen Wettlauf des 21. Jahrhunderts zu gewinnen."
Möglicherweise kommt ihm ja ein Kalter Krieg bei der Verwirklichung seines Vorhabens zu Hilfe. Laut dem World Economic Forum gilt es jedenfalls einiges aufzuholen. Ein über 600 Seiten dicker Report über Wettbewerbsfähigkeiten und Konkurrenz aus dem Jahr 2019 sah die USA im Vergleich zu anderen G20-Staaten auf dem dreizehnten Platz und das steht einer Hegemonialmacht nun wirklich nicht gut zu Gesicht.