USA zahlen nicht mehr für Atomwaffenunfall
Im Jahre 1966 stürzte ein amerikanischer Bomber mit vier Wasserstoffbomben über dem spanischen Bauerndorf Palomares ab
Zwei der vier Bomben zerbrachen und verstrahlen seitdem die Umgebung. Vierundvierzig Jahre kam die US-Regierung für die Kosten zur medizinischen Untersuchung der Dorfbewohner auf. Nun will Washington nicht mehr zahlen. Dem mögen manche zustimmen, weil vierundvierzig Jahre schließlich lang genug seien, aber die radioaktive Halbwertzeit von Plutonium beträgt immerhin 24.360 Jahre! Die Absicht von Barack Obama ist klar: Die USA wollen sich in Zukunft nicht mehr um ihre atomaren Altlasten im Ausland kümmern.
Der Unfall
Palomares ist ein kleines andalusisches Bauerndorf an der Mittelmeerküste in der Provinz Almería, das zum Schauplatz des größten Broken Arrow-Atomwaffenunfalls in der Geschichte der USA wurde. Im Jahre 1966 hatte das Dorf gerademal tausend Einwohner. Viele Palomareños hatten vor Ort keine Arbeit gefunden und waren damals nach Deutschland emigriert (Ruhrgebiet, Großraum Frankfurt, Stuttgart, etc.).
Im Dorf selbst gab es drei Kneipen, zwei Tante-Emma-Läden und ein Kino. Die meisten Einwohner waren Analphabeten, nur wenige besaßen ein Auto oder Motorrad. Zwei oder drei Fernsehapparate stellten die Verbindung zum Rest der Welt her. Außerdem gab es in der zehn Kilometer entfernten Kreisstadt Vera einen öffentlichen Fernsprecher. Selbst auf spanischen Landkarten war Palomares nicht verzeichnet. Aber unter der heißen Sonne waren die Ernten ertragreich und so konnte man Tomaten und Melonen ins benachbarte Ausland und bis nach Deutschland exportieren.
Am 17. Januar 1966 wurde der beschauliche Dorffriede jäh unterbrochen, als ein amerikanischer Bomber vom Typ B-52 G Stratofortress bei einem Luftbetankungsmanöver mit einem Tankflugzeug vom KC-135 A Stratotanker in rund 9.000 m Höhe zusammenstieß und beide Militärflugzeuge abstürzten. Dabei kamen die vier Besatzungsmitglieder des Tankers und drei der sechs Angehörigen der Bombercrew ums Leben. Der Bomber war auf dem Rückflug von einer Art Scheinangriff gegen die Sowjetunion:
Im Rahmen der Operation CHROME DOME war damals ein Teil der amerikanischen Bomberflotte ständig in der Luft und flog stundenlang Warteschleifen in der Nähe des sowjetischen Luftraumes, um bei einem Angriffsbefehl des US-Präsidenten blitzschnell zuschlagen zu können. So hatte jeder Bomber eine besondere Aktenmappe an Bord, Combat Mission Folder genannt, in der der Angriffscode und die vier Ziele und vier Ausweichziele für den jeweiligen Bomber eingetragen waren. Der amerikanische Atomkriegsplan wurde - damals wie heute – Single Integrated Operational Plan (SIOP) genannt. Seit dem 10. November 1965 war der SIOP-64 Revision 7 in Kraft, der die Zerstörung von 1.697 Zielen mit insgesamt 4.826 Atomwaffen vorsah.
Bei diesen CHROME-DOME-Einsätzen war ein Bomber oft länger als vierundzwanzig Stunden in der Luft , so dass er mehrfach im Fluge aufgetankt werden musste. Eigentlich war dieses Luftbetankungsmanöver eine Routineangelegenheit, aber am 17. Januar 1966 ging etwas schief: Der Bomber näherte sich zu schnell dem Tankflugzeug und rammte dieses von hinten, so dass beide Flugzeuge zusammenstießen und explodierten. Bis heute ist nicht geklärt, ob der Unfall durch einen Pilotenfehler beim Auftankmanöver verursacht wurde, oder ob eine technische Panne zeitgleich mit der Betankung auftrat.
Jedenfalls brach die Stratofortress auseinander und verlor dabei ihre vier silbrigen Wasserstoffbomben vom Typ B 28 Fuzed Internal (B 28 FI). Nach Flora Lewis, der damaligen Chefredakteurin der Washington Post, ist eine B 28 "eine H-Bombe von der Länge eines Autos, dem Durchmesser einer Mülltonne und der Sprengkraft einer Million Tonnen TNT". Tatsächlich hatte die B 28 FI eine Länge von 3,68 m bei einem Durchmesser von 50,8 cm und einem Gewicht von 1.061 kg; ihre Nuklearladung W-28-4 hatte eine Sprengkraft von rund 1.100.000 Tonnen TNT-Äquivalent.
Bei der ersten der vier Wasserstoffbomben öffneten sich zum Glück die Fallschirme und so landete die H-Bombe am Ufer des Almanzora, eines ausgetrockneten Flusses am Nordrand von Palomares. Die Bombe wurde wahrscheinlich als erstes von dem Architekten Roberto "Pedro" Puig Alvárez gefunden, der darüber Flora Lewis berichtete:
Ich war bei der Armee, bei den Pionieren, daher wusste ich, dass es eine Bombe war. Sie war sonderbar, hatte keine Flossen, doch ich wollte wissen, ob sie einen Zünder besaß. Ich kniete mich nieder und stemmte mich dagegen, konnte sie aber nicht bewegen. Ich hielt es für gefährlich, Gewalt anzuwenden. Ich hätte nie geglaubt, dass es eine Atombombe mit Radioaktivität sein könnte. In der Nacht fühlte ich mich erbärmlich. Ich konnte überhaupt nicht schlafen. Ich hielt es nicht für wichtig und schob es auf die Aufregung. Am anderen Tag entdeckte ich ein Mal unterm Knie, wo ich die Bombe berührt hatte. Es war wie eine Verbrennung. Als ich schließlich erfuhr, dass es eine Atombombe war, wusste ich, dass ich eine radioaktive Verbrennung erlitten hatte. Ich habe sie tatsächlich berührt, wissen Sie. Ich habe die Radioaktivität berührt.
Roberto "Pedro" Puig Alvárez
Die zweite Bombe krachte im freien Fall mit einer Geschwindigkeit von 99 Meter pro Sekunde auf einen Hügel am Friedhof am südwestlichen Rand des Dorfes. Dabei zerplatzte die Bombenhülle aus Aluminium und ein Teil der konventionellen Sprengladung aus TNT explodierte, so dass ein sechs Meter breiter Bombenkrater entstand. Ein Teil der radioaktiven Plutoniumladung wurde herausgeschleudert, ein anderer Teil verbrannte und wurde als feiner Plutoniumoxid-Staub durch die Straßen und über die Häuser geweht.
Über den Fund der zweiten Bombe berichtete der Tad Szulc, Spanien-Korrespondent der New York Times:
López first saw the burned shreds of a large parachute draped over the brick wall on the side of a terraced hill known as Rabbit´s Rise. A small brush fire was burning around the remains of the parachute. Despite a strong wind blowing out to sea, Pepé smelled the acrid smoke. It smelled the way a gun smells after a shot has been fired. He also noticed specks of dark dust drifting in the air. Pepé assumed they were bits of something that had burned there. Edging closer, the shopkeeper noticed a shape under the strips of the silk. He thought it could be one of the pilots from the collision and he rushed forward to try to save what he feared was a man.
Stamping out the fire with his feet, Pepé López tore away at the cloth. Instead of a man, he found a long silvery bomb. It was identical in appearance with the big cylinder that Alfonso Flores had seen in La Algarrobinas hills. The bomb´s metal casing was cracked, and, inside, Lopez could see what he thought was black powder. He pulled back instinctively but steadied himself and with reckless courage resumed stamping out the brush fire around it. As he was to tell his friends later, "Of course I knew it was not safe to have a fire around a bomb.”
Pepé thinks that in his excitement he may have kicked the bomb, but he is no longer positive. If he did, he is probably the only man in the world ever to have kicked this kind of bomb. Just then his wife Luisa came out of the house. Seeing her husband jumping up and down on the fire, she shouted, "What in the name of God are you doing, Pepé? Get away from there! This could be dangerous."
Tad Szulc
Auch die dritte Bombe zerplatzte. Sie kam mit rund 69 Meter pro Sekunde am nordöstlichen Dorfrand herunter und hinterließ einen drei Meter breiten Bombentrichter. Bei der Explosion wurden Bombenteile bis zu 450 m weit geschleudert und ebenfalls eine Plutoniumwolke freigesetzt.
Die vierte Bombe kam nahezu ungeschädigt im Mittelmeer herunter. Um sie wieder zu finden startete die US Marine die AIRCRAFT SALVAGE OPERATIONS MEDITERRANEAN. Dazu wurde eigens die Task Force 65 aus 3.425 Matrosen und 34 Schiffen und Spezial-U-Booten aufgestellt und dem versnobten Konteradmiral William Selman Guest unterstellt. Es sollte eine äußerst dramatische Suchaktion werden: Die Bombe wurde nach 57 Tagen endlich auf dem Meeresboden gesichtet, dann erneut verloren, danach noch einmal lokalisiert, hochgehoben, wieder verloren und nach achtzig Tagen endlich geborgen.
Das ganze Drama spielte sich vor den Augen der aufgeregten Weltöffentlichkeit und unter dem Spott der internationalen Pressevertreter ab. So zeigte eine spanische Karikatur einen Seemann an Bord eines modernen Kriegsschiffes, der eine Angel ins Wasser hielt und einem vorbeifahrenden Fischer zurief: "Sie ist lokalisiert, identifiziert und verifiziert. Wir warten nur noch darauf, dass sie anbeißt."
Die radioaktive Verstrahlung
Zunächst glaubten die rund 1.000 Palomareños, sie hätten Glück im Unglück gehabt, denn als die 250 Tonnen Flugzeugtrümmer auf das Dorf niederregneten, war niemand zu Schaden gekommen. Nur eine alte Frau war gestolpert und hatte sich ein Bein gebrochen, als sie vor den Metallbrocken flüchten wollte. Von der unsichtbaren Gefahr ahnten die Dorfbewohner noch nichts, schließlich hatten sie von "radioactividad" noch nie etwas gehört.
Das änderte sich, als noch am Unglückstag die ersten US-Soldaten aus Madrid eintrafen. Die Leitung der Aufräumungs- und Sucharbeiten lag bei US-Generalmajor Delmar E. Wilson. Die beteiligten US-Soldaten wurden in einem provisorischen Feldlager, dem so genannte Camp Wilson, untergebracht. Es befand sich am Strand von Palomares, der Playa Quintapellejos. Die US Air Force verzichtete zur Erledigung dieser Aufräumarbeiten auf den Einsatz der ABC-Abwehreinheiten der US-Army, stattdessen behalf man sich weitgehend mit den eigenen Luftwaffensoldaten von den US-Luftstützpunkten in Spanien, obwohl diese keine spezielle Schulung im Umgang mit radioaktivem Material hatten. Aber für die nuklearen Erntearbeiten schienen ein paar kräftige Männer ausreichend zu sein.
Auch mit der Dekontamination der eingesetzten Kräfte nahm man es am Anfang nicht so genau. In den ersten Tagen nach dem Unfall wurden die Soldaten zur Reinigung einfach ins kalte Meer gescheucht, erst am 25. Januar 1966 stand eine erste Duschanlage zur Verfügung und ab dem 31. Januar eine Wäscherei. Dennoch wurden bei einer Pioniereinheit aus Mannheim, die von einem Einsatz in Palomares zurückkehrte, noch Spuren radioaktiver Verstrahlung festgestellt.
Mit Gesichtsmaske und Overalls streiften die amerikanischen GIs fortan in Reihenformation durch die Tomatenfelder, und hielten dabei merkwürdige Geräte vor den Bauch. Es waren Geigerzähler vom Typ Eberline PAC-1S. Dabei führten sich die Amerikaner wie eine Besatzungsmacht auf, die fortan bestimmte, was zu tun und zu lassen war. Das etwas Besonderes geschehen sein musste, wurden die Dorfbewohner erst gewahr, als sie ihre eigenen Felder nicht mehr betreten durften (Palomares Summary Report des Pentagon).
Es ist nicht bekannt geworden, wie viel Waffenplutonium die US-Bergungsteams an den beiden Bombenkratern sicherstellten konnten. Auch ist nie bekannt geworden, wie hoch das Ausmaß der radioaktiven Verstrahlung durch die beiden zerplatzten Wasserstoffbomben tatsächlich war. Man schätzt, dass rund 3.000 Gramm Plutonium-239 als feiner Staub freigesetzt worden ist. Drei Kilogramm scheint nicht viel zu sein, aber Plutonium ist nicht nur ein radioaktiver Alpha-Strahler, sondern auch noch hochgiftig. Der Grenzwert für die höchste zulässige Konzentration in der Atemluft betrug schon damals nur 0,00003 Millionstel Gramm pro Kubikmeter. Ein Teil der "verschwundenen" 3 Kilogramm ist mit dem Wind ins Mittelmeer geweht worden, der Rest kontaminierte die Bauerhöfe und Felder der Umgebung.
Wie groß die Bodenfläche war, die bei dem Unfall ursprünglich verstrahlt wurde, ist nicht bekannt. Erst am 19. Januar 1966, zwei Tage nach dem Unglück, begann man damit, das Ausmaß der radioaktiven Kontamination an den Aufschlagsorten systematisch zu erfassen. Zunächst konnten vier Verstrahlungsgebiete im Bereich der explodierten Bomben Nr. 2 und Nr. 3 lokalisiert werden. Allerdings stellten die US Streitkräfte ihre Messungen aus politisch-psychologischen Gründen gleich wieder ein. Erst am 24. Januar, eine Woche nach dem Flugzeugunglück, begann die US Air Force mit den radiologischen Messungen innerhalb des Wohnbereichs von Palomares. Nach Angaben von Tad Szulc war eine Fläche von 2,50 qkm verstrahlt worden.
Allerdings verzichtete man darauf, dass Dorf zu evakuieren oder vollständig zu reinigen. Die Repräsentanten der amerikanischen und spanischen Atombehörden einigten sich am 2. Februar 1966 lediglich auf ein beschränktes Dekontaminierungsprogramm. Beteiligt waren das Department of Energy und die Junta de Energia Nuclear (heute: Centro de Investigaciones Energéticas, Medioambientales y Tecnológicas): An den Stellen, an denen der Geigerzähler mehr als 7.000 radioaktive Zerfälle pro Minute anzeigte (Counts per Minute – CPM) sollte der Boden bis zu einer Tiefe von 5 cm komplett abgetragen werden, und dort, wo der Geigerzähler Werte von über 700 CPMs anzeigte, sollte der Boden bis zu einer Tiefe von 30 cm umgepflügt werden. An allen anderen Stellen wollte man die Radioaktivität dadurch aus der Biosphäre verdammen, indem man das Erdreich mit Wasser besprengte, so dass die radioaktiven Partikel in niedrigere Erdschichten heruntersickern konnten.
Außerdem wurden alle Äcker und Felder abgeerntet. Mit dem Pflanzenmaterial ging man ähnlich wie mit dem Erdboden um: Dort, wo der Boden mit über 700 CPMs verstrahlt war, wurde sämtlichen Pflanzen entfernt und entsorgt, bei Werten über 400 CPMs wurden die Pflanzen ebenfalls entfernt und zwischengelagert, die mit weniger als 400 CPM kontaminierte Vegetation verbrannte man einfach. Für den Ernteausfall zahlten die US-Behörden eine Entschädigung in Höhe von insgesamt 555.000 $ verteilt auf 500 Antragsteller. Während amerikanische Autoren behaupteten, man habe die spanischen Bauern großzügig abgefunden, kritisieren die Einwohner von Palomares bis heute, sie hätten nur einen Bruchteil ihrer tatsächlichen Verluste und Kosten ersetzt bekommen.
Das am stärksten verstrahlte Erdreich und Pflanzenmaterial wurde schließlich in die USA exportiert. Über die betreffende Menge gibt es keine klaren Auskünfte. Unbestritten ist, dass die US-Streitkräfte 5.500 Metallfässer mit einem Fassungsvermögen von jeweils rund 210 Litern herstellen ließen. Nach unterschiedlichen Angaben wurden zwischen 4.810 und 4.879 Fässer mit dem Erdaushub oder dem abgeerntetem Pflanzenmaterial verfüllt. Anschließend wurden die bis zu 320 kg schweren Fässer auf ein Kriegsschiff geladen und in die USA transportiert, wo sie auf dem "Atommüllfriedhof" an der Savannah River Facility in South Carolina vergraben wurden. Wo die restlichen Fässer abgeblieben sind, ist nicht bekannt. Unbestätigten, aber vielfach gehegten Gerüchten zufolge sollen die US-Streitkräfte einen Teil des verstrahlten Erdbodens einfach in alten Bergschächte in der Sierra Almagrera, die sich nordöstlich von Palomares entlang der Mittelmeerküste erstreckt, "entsorgt" haben.
Während die Verstrahlung von Boden und Pflanzen relativ einfach zu ermitteln war, konnte die Verstrahlung einer Person nicht oder nur indirekt ermittelt werden. So ließ sich kaum ermitteln, wieviel Plutonium die einzelnen Einwohner eingeatmet hatten, da die Alpha-Strahlen der eingeatmeten Partikel nicht durch die Hautschichten nach außen drangen und gemessen werden konnten. Die Menge an Plutonium, die jemand verschluckt oder über verstrahlte Nahrung aufgenommen hatte, ließ sich hingegen schon ermitteln, weil über 99 Prozent der aufgenommenen Masse wieder ausgeschieden wird. Allerdings verbleibt die Restmenge dauerhaft im Körper und gefährdet die Gesundheit. Da täglich ein Promille der vom Körper absorbierten Menge über den Urin ausgeschieden wird, begannen die Strahlenbiologen am vierten Tag nach dem Unfall damit, Urinproben einzusammeln.
Da nie bekannt wurde, wie viel Plutonium-239 sich in den exportierten Fässern befunden hat, kann man auch nicht wissen, wie viel von den rund 3 Kilogramm Plutonium-239, das insgesamt freigesetzt wurde, heute noch im Erdboden von Palomares vorhanden ist. Diese fragliche Restmenge hat in den vier Jahrzehnten seit dem Unfall kaum abgenommen, da die Halbwertzeit von Plutonium-239 immerhin 24.360 Jahre beträgt. Nur ein Teil des Plutonium-239 ist mittlerweile zu Americium-241 zerfallen.
Dies bedeutet aber keineswegs eine Entlastung der Bevölkerung - im Gegenteil: Während Plutonium-239 ein Alpha-Strahler ist, dessen Partikel nur drei bis vier Zentimeter weit dringen, ist Americium-241 ein Gammastrahler mit weit höherer Reichweite. So hat die Menge des Nuklearmaterials seit 1966 zwar geringfügig abgenommen, aber die Strahlungssituation hat sich seitdem noch verschärft.
Projekt Indalo
Schon im Februar 1966 verständigten sich die amerikanischen und spanischen Atombehörden im Hall-Otero-Abkommen darauf, dass mit einem jahrzehntelangen Messprogramm die Verstrahlung des Ortes und seiner Einwohner überwacht werden sollte. Federführend beim so genannten Proyecto INDALO ist das Centro de Investigaciones Energéticas, Medioambientales y Tecnológicas (CIEMAT) in Madrid. Die Leiterin des Projektes ist z. Zt. Dr. Asunción Espinosa Canal. Allerdings dient(e) dieses ABC-Überwachungsprogramm weniger der Gesunderhaltung der Zivilbevölkerung, als vielmehr der wissenschaftlichen Forschung.
Zwar war in Palomares - im Vergleich zu anderen Nuklearkatastrophen - nur wenig Atommaterial freigesetzt worden, aber dafür handelte es sich hier um eine Kontamination mit fast reinem Plutonium. Außerdem lag die Verstrahlungszone mitten in einem landwirtschaftlich genutzten Anbaugebiet. So wurde Palomares zu einem einzigartigen atomaren "Freiluftlabor". Der amerikanische Autor David A. Stiles schrieb dazu 2006:
In at least three respects, Palomares was more serious than any of the previous accidents. First, it was the first major incident to take place over a non-nuclear country. (…) The second reason that the Palomares episode was of unprecedented importance was the degree of contamination. Previous incidents spread little or no radioactive pollution. (…) The third reason for the unprecedented seriousness of the Palomares episode is its impressive longevity as a newsworthy topic. Both the bomb recovery effort and the radiation cleanup process took several months and involved a large number of personnel. Consequently, journalists could talk to many people involved over a relatively long period of time, and they could also sweep the area for any clues about U.S. military activities. (…) The U.S. government had dealt with nuclear accidents before, but never an incident with public relations dimensions on the scale of the Palomares drama.
David A. Stiles
Dabei hatte es nach den ABC-Aufräumarbeiten 1966 geheißen, Palomares sei nun wieder in demselben Zustand wie vor dem Unfall: Das radioaktive Material sei abtransportiert, das Meer sauber und es gäbe keine Gefahr für die Bevölkerung. Aber Mitte der neunziger Jahre spülte ein Hochwasser im ausgetrockneten Flussbett des Almanzora radioaktiven Staub ins Mittelmeer, der sich dann in den Meeresalgen wiederfand.
Auch zu Lande weiteten sich die angeblich sauberen Verstrahlungszonen aus: Bereits im Jahr 2002 musste CIEMAT eine (Acker-)Fläche aufkaufen und einzäunen, um so eine landwirtschaftliche Nutzung zu verhindern. Zwischen November 2006 und Februar 2007 führte CIEMAT umfangreiche Messungen durch, um einen Gesamtüberblick über die tatsächliche radiologische Lage zu erhalten. Gemäß dem Plan de investigación energética y medioambiental en materia de vigilancia radiológica en los terrenos de Palomares (PIEM-VR) wurden auf einer Fläche von 71 Millionen Quadratmetern in und um Palomares 63.000 Messungen durchgeführt. Es zeigte sich, dass die Ausdehnung und das Niveau der Strahlung höher waren, als von den Nuklearexperten bis dahin vermutet.
Dabei wurde auch ein völlig neues Verstrahlungsgebiet ausgemacht. Auf Grund der Messergebnisse mussten die Wissenschaftler die kontaminierten Zonen von 90.000 auf 300.000 Quadratmeter ausdehnen. Außerdem wurde der Verkauf von Produkten aus den am stärksten betroffenen Gebieten und die Bautätigkeiten eingeschränkt. Damit wollte man verhindern, dass durch Ausschachtarbeiten beim Hausbau untergepflügte Erdschichten mit Plutonium wieder an die Erdoberfläche gelangen konnten.
Im April 2008 wartete CIEMAT mit einer neuen Überraschung auf: Man gab die Entdeckung von zwei unterirdischen Gräben (jeweils 27 x 9 m) bekannt. Man hatte sie 1966 ausgehoben, um "small radioactive metal objects" zu vergraben. Zwar wussten die Behörden, dass es diese beiden Gräben gab, aber das Wissen darüber, wo sie sich befanden, war zwischenzeitlich im Behördendschungel verloren gegangen. Nun konnte man sie auf Grund der radiologischen Messungen im Sperrgebiet südlich des Friedhofs erneut lokalisieren.
Heute hat man drei atomare Sperrgebiete abgegrenzt, wo die beiden zerplatzten Wasserstoffbomben herunterkamen. Ein kleines Speergebiet (100 x 100 m) befindet sich auf einem Hügel nördlich des Friedhofs. Eine große Sperrzone mit mehreren tausend Quadratmetern liegt in der Hügellandschaft Tío Sadillas südlich des Friedhofs. Sie erstreckt sich von den beiden Wasservorratsspeichern bis zum ausgetrockneten Bachbett Cañada del Jatico. Hier misst seit 1966 eine vollautomatische Messstation ständig die vor Ort vorhandene Strahlung.
Der Fundort der dritten Bombe liegt heute mitten in einem Wohngebiet zwischen den beiden Straßen Diseminado la Punta und Camino de los Guardicas. Auf der kontaminierten Fläche (100 x 50 m) befindet sich noch die stillgelegte Ruine eines früheren Agrarbetriebes. Ein einfacher Massendrahtzaun verhindert den Zutritt. Schilder warnen jeden Passanten: "Prohibido el Paso – CIEMAT". Auf das obligatorische schwarz-gelbe Radioaktivitätszeichen hat man bewusst verzichtet. Aber die Dorfbewohner kennen die Stellen sowieso.
Um sich über die verschärfte radiologische Lage vor Ort zu informieren, besuchte ein Expertenteam der Internationalen Atomenergie-Organization (IAEO) im Juni 2009 Palomares, im April 2010 folgte ein Expertenteam der Generaldirektion der Europäischen Kommission (EC - DG-ENER).
Ein weiterer, wesentlicher Bestandteil des Proyecto INDALO ist das strahlenmedizinische Monitoring: Seit 1966 werden jedes Jahr 50 bis 150 Einwohner mit dem Taxi von Palomares ins 560 km entfernte Madrid kutschiert, um sich dort einem umfangreichen medizinischen Check zu unterziehen. Bis heute hat man über 4.000 medizinischen Untersuchungen an insgesamt 1.029 Personen durchgeführt. Nach unterschiedlichen Angaben wurden bei 5 bis 20 Prozent der untersuchten Bevölkerung eine radioaktive Verstrahlung mit Plutonium nachgewiesen, das sind immerhin 100 bis 400 der heutigen Einwohner.
Die Untersuchungen sind freiwillig. Für viele Dorfbewohner sind sie eine angenehme Abwechslung vom Dorfleben. Allerdings sind die Untersuchungsergebnisse geheim, selbst die Betroffenen werden nicht darüber unterrichtet, ob sie radioaktiv verstrahlt sind oder nicht. Dagegen hatten die Palomareños schon 1985 vergeblich protestiert. Seitdem werden ihnen nur allgemeine Laborwerte (Blutdruck, Cholesterinspiegel, etc.) mitgeteilt. Viele Palomareños nehmen daher erst gar nicht an den Untersuchungen teil. Dennoch ist es für viele eine nervliche Belastung, wenn der Aufruf der Behörde in der Post liegt und man an die alte Gefahr erinnert wird.
In Palomares gibt es Fälle von Krebserkrankungen, aber darüber redet man nicht in der Öffentlichkeit. Ob sie auf die Verstrahlung mit Plutonium, Americium oder Uran zurückzuführen sind oder nicht, kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Bis heute haben die Behörden auf die Durchführung einer epidemiologischen Studie verzichtet. Andererseits ist die Krebsrate in Palomares nicht höher als im Landesdurchschnitt. Die kleinen Strahlenschäden ohne somatische Folgen, also auch ohne Krankheitssymptome, erkennt man ohnehin nicht.
Die Beteiligung der USA
Als Verursacher der Verstrahlung beteiligte sich die US-Regierung bisher an den fortlaufenden Kosten. Dazu wurde das Hall-Otero-Abkommen vom 25. Februar 1966 im September 1997 durch ein Implementing Arrangement und im September 2007 durch ein Zusatzabkommen (Project ANNEX III) ergänzt. Auf amerikanischer Seite ist das Office of Health, Safety and Security (HSS) des Departments of Energy (DOE) zuständig; der verantwortliche Sachbearbeiter ist z. Zt . Gerald R. Petersen. Gemäß der wechselnden Höhe der laufenden Kosten fiel die US-Beteiligung höchst unterschiedlich aus (2006: 383.000 $, 2007: 750.000 $, 2008: 850.000 $, 2009: 850.000 $). Darüber hinaus leistet man technische Hilfe. So war das Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) an der radiologischen Bestandsaufnahme der letzten Jahre beteiligt.
Aber nun will sich die US-Regierung aus ihrer Verantwortung stehlen. Schon 2008 hieß es im US-Haushaltsplan für das folgende Jahr: "FY 2009 will be the final year for funding the Palomares Program." Nun hat das Energieministerium diese Ankündigung wahrgemacht. Die letzte Zahlung erfolgte am 7. September 2009; zum ersten Mal seit 1966 wurden im laufenden Jahr keine Gelder nach Spanien überwiesen. Ein Treffen beider Seiten am 8. Juli 2010 in Washington verlief ergebnislos. Lediglich technische Hilfe wolle man in Zukunft noch gewähren, hieß es von Seiten des DOE.
Dabei kommt die Entscheidung der US-Regierung zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Seit 2004 "überlegt" die spanische Regierung, durch Einsatz neuer Technologien die Ortschaft endgültig von der radioaktiven Reststrahlung des Atomwaffenunfalls zu reinigen, wie dies von verschiedenen spanischen Ökogruppen (z. B. Ecologistas en acción) seit Jahren gefordert wird. In diesem Jahr wollte man eigentlich eine Entscheidung treffen. Die Kosten zur Verwirklichung dieses Plan de rehabilitación de las zonas afectadas wurden in Medienberichten mit 20 bis 25 Millionen Euro angegeben. Aber es wird gemunkelt, dass die tatsächlichen Kosten noch höher ausfallen könnten. Sollte sich nun die US-Regierung aus der Finanzierung zurückziehen und die Endlagerung des kontaminierten Erdreiches nicht geklärt werden können, steht möglicherweise der ganze Plan zur Disposition. Aber die spanische Atomaufsichtsbehörde Consejo de Seguridad Nuclear (CSN) wollte sich auf Anfrage von Telepolis nicht zu den aktuellen Entwicklungen äußern.
Eine unendliche Geschichte von Lügen und Vertuschung
Palomares ist ein Musterbeispiel für eine fragwürdige ABC-Abwehr- und Informationspolitik. Im Jahre 1966 wurde die ortsansässige Bevölkerung zunächst weder von den USA noch von Seiten der spanischen Regierung über die nukleare Strahlungsgefahr vor Ort informiert. Eigentlich sei gar nichts passiert, hieß es damals von offizieller Seite. Die spanische Militärdiktatur von Generalisimo Francisco Franco wollte zur Nukleargefahr grundsätzlich nichts sagen, angeblich um die ausländischen Touristen nicht zu verschrecken. Die amerikanische Regierung redete sich heraus, wenn die Spanier nichts sagen würden, könnte auch sie keine Erklärungen abgeben. In Wirklichkeit hatte man in Washington eigene Gründe, an der traditionellen "no-comment"-Politik in Bezug auf Nuklearwaffen festzuhalten.
Durch das internationale Medieninteresse war aber diese Geheimhaltungspolitik von vornherein zum Scheitern verurteilt und führte z. T. zu absurden Situationen. So schilderte der Journalist Tad Szulc folgenden Dialog:
Reporter: "Tell me, any sign of the bomb?”
Air Force Spokesman: "What bomb?”
Reporter: "Well, you know, the thing you're looking for …”
Air Force Spokesman: "You know perfectly well we're not looking for any bomb. Just looking for debris.”
Reporter: "All right, any signs of the thing that you say is not the bomb?”
Air Force Spokesman: "If you put it that way, I can tell you that there is no sign of the thing that is not the bomb."
Erst am 20. Januar 1966 gestand die US-Regierung ein, dass in den Flugzeugabsturz Atomwaffen verwickelt waren; erst am 12. Februar gab sie bekannt, dass Radioaktivität freigesetzt worden war, und erst am 2. März räumte man in Washington ein, dass eine Atomwaffe vermisst wurde. In Spanien war die Bevölkerung ohnehin auf die Berichterstattung der ausländischen Presse angewiesen, da die Pressezensur die nationale Presseberichterstattung behinderte.
Erst im Jahre 1985 konnte Rafael Lorente aus Mojácar das erste spanische Buch über den Atomwaffenunfall ("Las bombas de Palomares") veröffentlichen. Die Herzogin von Medina Sidonia, Isabel Álvarez de Toledo, die sich für eine Entschädigung der spanischen Bauern eingesetzt hatte und dafür rund ein Jahr im Knast gesessen hatte, fasste ihre Erfahrungen 1968 ebenfalls in einem Buch zusammen. Allerdings konnte das Werk "Palomares (Memoria)" erst im März 2001 veröffentlicht werden.
Die beiden Fernsehmitarbeiter Antonio Sánchez Picón und José Herrera Plaza reisten 1996 in die USA, um bei der National Archive Records Administration alte Filme zu sichten, die die US-Army 1966 in Palomares aufgenommen hatte. Rund dreiviertel des historisch einmaligen Filmmaterials war von den US-Militärbehörden bereits vernichtet worden, dennoch konnten die beiden Spanier mehrere Filme sichern. Das Material verarbeiteten sie zu einem Bildband Operación Flecha Rota, der 2003 erschien. Allerdings sind alle drei Bücher selbst in Spanien schwierig zu bekommen: Das Buch von Rafael Lorente ist vergriffen, das Buch der Herzogin ist nur über die Stiftung an ihrem adligen Herrensitz in Sanlúcar de Barrameda zu beziehen und der Bildband wird verbreitet über das Centro Andaluz de Fotografía in Almería. Hinzu kommen noch eine Handvoll Dissertationen zur radiologischen Situation, die an einzelnen Universitätsbibliotheken in Spanien eingesehen, aber i.d.R. weder kopiert noch ausgeliehen werden können.
Die Quartalsberichte des CIEMAT mit den Rohdaten über den Stand der Verstrahlung unterliegen der Geheimhaltung, aber die Forschungsberichte, die die Wissenschaftler auf Grund dieser Daten verfassen, sind immerhin öffentlich zugänglich und können z. T. über das Internet heruntergeladen werden. Die Palomareños selbst haben nichts zur Dokumentation des Atomwaffenunfalls beigetragen. In der lokalen Bücherei findet sich lediglich eine Sammelmappe mit alten Zeitungsausschnitten. Unter diesen Bedingungen bleibt die Aufarbeitung der historischen Ereignisse und der Folgen des Atomwaffenunfalls schwierig und wird – wie die radiologischen Reinigungsarbeiten vor Ort - sicherlich noch Jahre in Anspruch nehmen. Schon am 25. Februar 1966 hatte der Journalist Howard Simons in einem Artikel für die Washington Post hellseherisch gewarnt, auf die US-Regierung komme in Palomares eine "Unending Cleanup Task" zu.
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).