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Über die aktuelle Gefährlichkeit unterkomplexen Denkens

Komplexe Prozesse verlangen nach komplexem Denken und Handeln. Unterkomplexe Äußerungen und Handlungsweisen führender Politiker:innen sind äußerst problematisch und verhindern einen ganzheitlichen Blick auf das aktuelle politische Geschehen.

Sicherlich weiß Sahra Wagenknecht [1], dass nicht die Nato die maßgebliche Schuld für den Krieg in der Ukraine trägt, sondern die Regierung der Russischen Föderation, die sich entschieden hat, das Nachbarland militärisch anzugreifen und andere durchaus mögliche Alternativen zur Bewältigung der von der russischen Regierung angeblich wahrgenommenen Sicherheitsproblematik nicht wahrzunehmen.

Sich vor allem auf politische und militärische Problemstellungen der Vorkriegszeit zu beziehen und die Kritik am russischen Vorstoß niedrig zu halten bzw. die russische Föderation als Opfer der Nato darzustellen, verweist auf unterkomplexes und nicht-nachhaltiges Denken. Denkt sie nicht komplex genug oder will sie dies nicht?

Christian Lindner und Friedrich Merz verlangen die Verlängerung der Laufzeiten [2] der noch drei aktiven Atomkraftwerke, um der strategischen Verknappung der Gaslieferungen von russischer Seite begegnen zu können. Wenn sie dies fordern, so zeigen sie ein hohes Maß an unterkomplexem und nicht-ganzheitlichem politischen Denken. Sind sie zu einem komplexeren Denken nicht in der Lage?

Beide Beispiele sollen im letzten Drittel des Beitrags noch einmal aufgegriffen werden.

Der ganzheitliche Ansatz

Der hier folgenden Argumentation liegt ein holistisches bzw. ganzheitliches Verständnis zugrunde.1 [3] Dieser Ansatz ist vor allem durch fünf systemtheoretische Annahmen begründet:

1. Alles steht in einer Verbindung zueinander: Die Teile untereinander und die Teile wiederum zum Ganzen. Weit entfernte Ereignisse können daher in der Nähe eine große Wirkung zeigen.

2. Politische Aktivität kann in dieser Ordnung eine Wirkung entfalten, die zu einer Veränderung der Teilbeziehungen untereinander und damit zu einem Einfluss auf das gesellschaftliche Ganze führt.

3. Strukturen geben dem Ganzen Festigkeit gegenüber der Eigendynamik der Teile. Allerdings wirken in bestehenden Strukturen Personen und Gruppen, die wiederum strukturbildende Regeln verändern können.

4. Eine Neuordnung des Ganzen entsteht, wenn die verschiedenen teilhaften Aktivitäten vieler Einzelner und einzelner Gruppen intensiv genug und systemisch passend zur beginnenden strukturellen Veränderung zusammenarbeiten.

5. Wenn Teilbereiche systemisch stimmig zusammenwirken, entwickeln sie eine systemverändernde Dynamik. Dann kann es – auch in einem disruptiven Sinne – zu qualitativen Veränderungen mit hoher Geschwindigkeit, also zu Kipppunkten hin zu einer globalen Neuordnung, kommen.

Oftmals voneinander getrennte Bereiche, wie Körper, Geist, Psyche und Gesellschaft, wie Umwelt, Wirtschaft und Gesundheit oder Identität, Religion und Krieg werden im Rahmen eines ganzheitlichen bzw. holistischen Denkens als miteinander zusammenhängende Bereiche verstanden. Das Ganze ist auch hier mehr als die Summe seiner Teile.

Mit diesen skizzenhaften Vorbemerkungen dürfte auch zumindest in Ansätzen deutlich sein, wie der Terminus "Ganzheitlichkeit" hier verwendet wird. Er wird zu einer Kategorie, die ein Erkennen und kritisches Hinterfragen von Strukturen ermöglicht, das durch unterkomplexes Denken und Handeln behindert werden würde.2 [4]

Unterkomplexes Denken in der Politik ist gefährlich

Teilbereiche wirken systemisch zusammen und können eine dynamische und weltumspannende Wirkung zeigen. So zeigt uns die Verbreitung des Coronavirus, wie ein Virus zu Ansteckungsängsten in den Menschen, zu einem veränderten zwischenmenschlichen Verhalten, zu wirtschaftlichen Krisen, wie dem Umsatzeinbruch von Unternehmen und Massenentlassungen, sowie politischen Krisen führen kann.

Genauso kann die Corona-Krise zeigen, dass ein neoliberales Wirtschaftsregime, im Zuge dessen die Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens vorgenommen wird, nicht geeignet ist, eine Pandemie erfolgreich zu bekämpfen. Der schreckliche Preis ist eine hohe Zahl an Schwererkrankten und Toten.

Nicht zu verstehen, wie alles zusammenhängt, kann daher höchst gefährlich sein. Auch die Wirkungen alltäglichen Verhaltens, also auf der Mikroebene, zu unterschätzen, kann äußerst gefährlich sein. Zu unterschätzen, was das alltägliche mediale Betrachten von Morden und zwischenmenschlicher Quälerei und das virtuelle Mitwirken in diesem Geschehen im jungen Menschen anrichten kann, bedeutet die psychische Anfälligkeit von Menschen zu übersehen. Amokläufe Jugendlicher in Schulen, aber auch die durch den Medienkonsum verstärkte Bereitschaft, im Krieg zu töten, sind Ausdruck dieser Ignoranz.

Der Zusammenhang wird ebenfalls deutlich, wenn wir uns die Verbrennung von Braun- oder Steinkohle zur Beheizung aber auch zur industriellen Energieproduktion in ihrer Verbindung zur Freisetzung weiterer Klimagase betrachten. Die u.a. durch die CO2-Emissionen entstehende Klimaaufheizung führt zu vielfältigen Auswirkungen von der Veränderung der Meeresströmungen, über die Entstehung von Wüsten, dem vermehrten Auftreten heftiger Stürme, dem Abschmelzen der Gletscher, dem Anstieg des Meeresspiegels bis hin zum Auftauen des Permafrostbodens und der entsprechenden Freisetzung wiederum Klima relevanten Methans.

Die klimatischen und ökologischen Verschiebungen und Verwerfungen führen zu Hungerkatastrophen, zu Massenfluchten und Völkerwanderungen, die wiederum nicht bereitwillig von den Einheimischen hingenommen werden und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen sowie zur Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse in einer Region führen.

Zum eingangs erwähnten Beispiel hinsichtlich der von Lindner und Merz geforderten Laufzeitverlängerung der drei AKWs ist zu sagen: Die Verlängerung der Laufzeiten der drei noch aktiven AKWs umfasst nur sechs Prozent der deutschen Stromversorgung und ist daher zur Lösung des kommenden Energieproblems irrelevant.

Robert Habeck verwies zu Recht auf diesen Aspekt. Auch die restlichen drei Atomkraftwerke stellen eine gefährliche Energieversorgung dar. Die nuklearen Katastrophen in Tschernobyl, Harrisburg und Fukushima dokumentieren dies. Gerade in unfriedlichen Zeiten sind AKWs gefährdet, zum Ziel terroristischer Anschläge von Kriegsparteien oder extremistischer Terrorgruppen zu werden.

Bis heute existiert für die nukleare Energieversorgung kein realistisches Konzept der Entsorgung des radioaktiven Abfalls. Dieser wird Hunderten von Generationen zur kostenintensiven und gefährlichen Bewachung hinterlassen. Dies bedeutet, dass hier im öffentlichen Diskurs eine Ausschaltung komplexen Denkens erfolgt, um eine populistische Strategie zu verfolgen, denn Lindner und Merz sind sicherlich die komplexeren Argumente bekannt.

Sahra Wagenknechts öffentliche vorgenommene Analyse ist unterkomplex und einseitig verengend hinsichtlich der übertriebenen Schuldzuweisung gegenüber der Nato. Hingegen ist Wagenknecht durchaus in der Lage, ausgesprochen komplex und ganzheitlich zu denken, wenn es z.B. um die gesellschaftswissenschaftliche Kritik kapitalistischer Krisenbewältigung geht. Daher ist auch hier anzunehmen, dass wiederum in populistischer Manier versucht wird in der öffentlichen Wahrnehmung ein einseitiges Bild – wider besseres Wissen – entstehen zu lassen.

Sicherlich weiß sie, dass sich die osteuropäischen Staaten nach 1990 vom sowjetrussischen Einfluss befreien wollten, indem sie sich von Russland lossagten, sich als souverän erklärten und in der Mehrheit der Nato beitraten. Dies war dann auch ihr Recht als souveräne Staaten.

Dies als einseitig als ein gefährliches Heranrücken der Nato an die Russische Föderation zu deuten und als Grund für den Überfall auf die Ukraine auszugeben vernachlässigt das völkisch-nationalistische Denken der russischen Regierung Putin'scher Prägung [5] sowie deren neoimperialistischen Interessen. Die Folge ist eine verschobene Schuldzuweisung, die sogar Putin noch als bestärkendes Argument und Legitimation dienen kann.

Ganzheitlichkeit und Interessendurchsetzung

Der Hinweis auf den Populismus von Politikern:innen, verweist auf den Aspekt des Erkenntnis leitenden Interesses. So weiß Putin sicherlich, dass die ukrainische Regierung nicht aus drogenabhängigen Terroristen [6] besteht. Dennoch behauptete er dies, um ukrainische Politiker:innen abzuwerten, aus dem Kreis akzeptierter Humanität auszuschließen, um sie anschließend anzugreifen und militärisch vernichten zu können.

Auch Jair Bolsonaro dürfte wissen, dass der Amazonas eine wichtige planetare ökologische Funktion hat. Er bestreitet dies aber [7] und lässt die Zerstörung des Regenwaldes aber aus politischen und ökonomischen Interessen heraus zu.

Auch weiß die EU-Kommission sicherlich, dass Gas und Kernenergie keine nachhaltigen Energiequellen sind, obwohl sie mit ihrer derzeit dem EU-Parlament zur Abstimmung vorgelegten Taxonomie dies einfordert. Ganzheitliches Denken, das zu einer Ablehnung dieser Energiequellen im Sinne von Nachhaltigkeit führen würde, wird hier zugunsten der Interessendurchsetzung einzelner EU-Staaten abgeschaltet. Ganzheitliches Denken würde einen Gegensatz zwischen fossiler und nuklearer Energieerzeugung und der Bekämpfung der Klimakrise im Sinne von Nachhaltigkeit erkennen.

Allerdings ist es trotz dieser Versuche, ganzheitliches Denken und Handeln durch unterkomplexe Vorgehensweisen zu ersetzen, weiterhin wichtig, über Bildungsprozesse insbesondere im politisch-historischen Bereich, in politikwissenschaftlicher Analyse und Beurteilung und im alltäglichen politischen Denken und Handeln einen ethisch vertretbaren politischen Einfluss im Ganzen auszuüben.

Hierzu ist es in Diskussionen zukünftig wichtig, unterkomplexes Denken als solches kenntlich zu machen und die systemischen Zusammenhänge zu konkretisieren. Hierbei ist das ‚Interesse‘ eine zentrale Kategorie, das hinter den Argumenten eines Akteurs in ökonomischer, politischer oder ökologischer Hinsicht hervor scheint bzw. sich durch eine kritische Analyse erkennen lässt.

Besonders in der jetzigen Situation, bei der ein regionaler militärischer Konflikt dabei ist, sich in einen Weltkrieg mit ungeheuren Auswirkungen zu verwandeln, ist es wichtig, unterkomplexes Denken zu vermeiden.

Es müssen in einem ganzheitlichen Sinne folgende Fragen gestellt und beantwortet werden: Welche systemische Wirkung in politischer, ökonomischer, sozialer und ökologischer Hinsicht und welche existenzielle Wirkung für den Einzelnen wird die Eskalation des Kriegs in der Ukraine auf die Ukraine, aber auch für den Rest der Welt haben?

Welchen Einfluss hat z.B. der Krieg in der Ukraine auf die Welternährungslage? Welche Maßnahmen, wie z.B. die weitere Lieferung schwerer Waffensysteme oder die zukünftige Sperrung des ukrainischen Luftraums, werden welche Wirkungen für die Eskalation des Konfliktes haben? Mit welchen Mitteln können die russische Föderation und die ukrainische Regierung dazu bewegt werden, sich für ernsthafte Friedensverhandlungen zu öffnen, d.h. auch Kompromisse einzugehen?

Wie werden sich verschiedene andere Akteure, wie z.B. China oder die Vereinten Nationen, zu einer weiteren Eskalation des Krieges verhalten? Welches ist der zentrale friedenspolitische Beitrag eines Staates, wie z.B. der Bundesrepublik Deutschland, eine Deeskalation des Kriegs zu bewirken? Welches sind die Hindernisse und was sind die förderlichen Bedingungen für eine neue Friedensordnung? Wie kann eine sinnvolle Friedensordnung mit Hilfe welcher Schritte erreicht und hinterher wirkungsvoll kontrolliert werden? Was kann der planetaren Zivilisation passieren, wenn keine Deeskalation des Konflikts gelingt?

Dies alles sind aus aktuellem Anlass Fragestellungen, die das Verhältnis des Teils zum Ganzen, die Beziehungen der Teile untereinander in ihrem Einfluss auf das Ganze und die Frage nach der Gestaltung des Ganzen betreffen. Sich diese Fragen nicht gründlich und unterkomplex zu stellen und zu beantworten, ist für den einzelnen Menschen, für Gesellschaften, transnationale Institutionen sowie für das gesellschaftliche Ganze im planetaren Kontext äußerst gefährlich.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7163044

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.n-tv.de/politik/Wagenknecht-zu-Ukraine-Krieg-Mitverantwortung-der-NATO-fuer-russischen-Angriff-article23403696.html
[2] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/debatte-akw-laufzeitverlaengerung-101.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Ueber-die-aktuelle-Gefaehrlichkeit-unterkomplexen-Denkens-7163044.html?view=fussnoten#f_1
[4] https://www.heise.de/tp/features/Ueber-die-aktuelle-Gefaehrlichkeit-unterkomplexen-Denkens-7163044.html?view=fussnoten#f_2
[5] https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/putins-aggressive-aussenpolitik-100.html
[6] https://www.puls24.at/video/puls-24/putin-bezeichnet-ukrainische-regierung-als-bande-von-drogenabhaengigen-und-neonazis/v-ci4kmwj2xfdl
[7] https://www.geo.de/natur/oekologie/bolsonaros--alternative-wahrheit--ueber-den-regenwald-31722026.html