Über eine neue Metaphysik des Realen
Die Welt des Philosophen Markus Gabriel
Am 23.6.2011 gegen 13:30 Uhr wurde "bei einem Mittagessen in Neapel" von Deutschlands (damals) jüngstem Philosophieprofessor Markus Gabriel eine neue erkenntnistheoretische Epoche ausgerufen. Er gab ihr die Bezeichnung "Neuer Realismus" und meinte damit "eine philosophische Haltung, die das Zeitalter nach der sogenannten 'Postmoderne' kennzeichnen soll."
Gabriel informierte dann 2013 durch Publikation eines Sachbuchs mit dem schönen Titel "Warum es die Welt nicht gibt" eine breitere Öffentlichkeit über das Anbrechen der neuen Ära und stieg in der Folge aufgrund zahlreicher Radio- und TV-Auftritte in die Liga der philosophischen Medienstars auf.
Wenn ich hier nun meine Einschätzung einiger Thesen dieses Philosophen darlege, werde ich nicht in den Chor jener Rezensenten einstimmen, die Gabriel eine Neigung zur Simplifizierung vorwerfen oder gar einen Strick aus seinem telegenen Aussehen drehen wollen. Denn auf der einen Seite bürgt ja, wie sich anhand von Beispielen wie Peter Sloterdijk leicht beweisen lässt, auch eine dem klassischen Philosophenbild vorbildlich entsprechende Zausel-Optik noch lange nicht für durchgehend hohe Qualität des Denkens.
Und auf der anderen Seite haben griffige Vereinfachungen den unschätzbaren Vorteil, dass sich die LeserInnen schnell ein erstes Bild von den groben Umrissen der jeweils präsentierten Position bilden können, um dann auf dessen Basis zu entscheiden, ob es sich lohnt, über allenfalls erforderliche Differenzierungen nachzudenken, oder ob hier eine grundsätzlich in die Irre führende Richtung des Denkens eingeschlagen wird.
Der Text ist Ausschnitt eines längeren Aufsatzes gleichen Titels. Der gesamte Aufsatz ist Teil eines 2020 im Academia Verlag erschienenen Sammelbands mit Texten des Autors. Titel: "Das bedrohte Subjekt. Beiträge zur pragmatistischen Transzendentalphilosophie". Weitere Leseproben aus dem Buch gibt es auf der Homepage des Autors.
Der Philosoph als Zuschauer
Welche Richtung weist also Gabriels Neuer Realismus unserem Denken? Er will damit eine Position etablieren, die sich vermittelnd zwischen zwei Standpunkten ansiedelt, die er als Metaphysik bzw. Konstruktivismus bezeichnet.
Beim ersten dieser beiden von Gabriel zurückgewiesenen Ansätze handelt es sich um den von vielen NaturwissenschaftlerInnen geteilten "alten Realismus", der davon ausgeht, dass es die Dinge unabhängig von ihrer Vorstellung durch uns Menschen gibt, und dass es uns im Prinzip möglich ist, sie so zu beschreiben, wie sie wirklich sind.
Der zweite Ansatz dagegen wird eher von Kultur- und SozialwissenschaftlerInnen bevorzugt und behauptet laut Gabriel, dass das, was die realistisch orientierten Naturwissenschaften für bare Münze nehmen, in Wahrheit nur in uns selbst existiere, weil unseren Vorstellungen von der Welt gar keine an sich vorhandene Welt gegenüberstehe. In dieser für ihn auf Kant zurück verweisenden Position, der er auch die postmoderne Philosophie zurechnet, sieht Gabriel letztlich ebenfalls bloße Metaphysik.
Beide Spielarten metaphysischen Denkens scheitern seiner Ansicht nach "an einer unbegründeten Vereinfachung der Wirklichkeit, indem sie die Wirklichkeit entweder einseitig als die Welt ohne Zuschauer oder ebenso einseitig als die Welt der Zuschauer verstehen." Die Welt, die Gabriel kennt, "ist aber immer eine Welt mit Zuschauer, in der Tatsachen, die sich nicht für mich interessieren, zusammen mit meinen Interessen (und Wahrnehmungen, Empfindungen und so weiter) bestehen.
Die Welt ist weder ausschließlich die Welt ohne Zuschauer noch ausschließlich die Welt der Zuschauer. Dies ist der Neue Realismus. Der alte Realismus, sprich die Metaphysik, interessierte sich nur für die Welt ohne Zuschauer, während der Konstruktivismus recht narzisstisch die Welt und alles, was der Fall ist, auf unsere Einbildungen gründete."
Vor allen weiteren Ausführungen zu Gabriels Position ist bereits an dieser Stelle auf den wohl entscheidenden Haken bei der hier angedeuteten Sicht der Dinge hinzuweisen. Das Schlüsselwort des vorangehenden Zitats ist "Zuschauer". Für Gabriel differieren die drei erwähnten philosophischen Weltzugänge in der Art der Beziehung zwischen der Welt und einem Zuschauer.
Beim alten Realismus gibt es nur eine Welt ohne Zuschauer, bei dem, was er als Konstruktivismus bezeichnet, gibt es nur einen Zuschauer ohne Welt und beim Neuen Realismus gibt es sowohl eine Welt als auch deren Zuschauer. Schon auf den ersten Blick sieht man hier das Problem, dass Gabriel bei den erwähnten Behauptungen über die Grundsituation des Erkennens die Stellung eines in einer Meta-Welt positionierten Meta-Zuschauers einnimmt, der überprüft, ob es in seiner Meta-Welt so etwas wie eine Welt und deren Zuschauer gibt.
Damit aber unterliegen alle von Gabriel präsentierten Einsichten von vornherein dem Zweifel, dass es eine solche Meta-Welt überhaupt gibt und (wenn ja) dass wir Menschen uns in sie begeben können, um bei einem solchen Ausflug Erkenntnisse über unsere eigene Welt und uns selbst als deren Zuschauer zu erlangen.
Erkenntnistheorie ist Selbstreflexion von Handelnden
Diese Komplikation ist aber nur ein Folgeproblem des eigentlichen Denkfehlers. Und der besteht darin, dass hier das Verhältnis des Menschen (bzw. des Philosophen) zu seiner Welt als ein Zuschauen und nicht als ein Handeln charakterisiert wird. Während sich nämlich der Zuschauer prinzipiell (immer) in Distanz zu dem von ihm angeschauten Objekt befindet, sind wir Handelnden beim Gelingen unseres Tuns eins mit unserem jeweils 'behandelten' Gegenüber und erleben uns bloß im Fall des Scheiterns unserer Bemühungen als von ihm getrennt.
Wir benötigen daher weder einen Meta-Zuschauer noch die in seinem Vorhandensein implizierte Existenz einer Meta-Welt, um festzustellen, dass die von uns wahrgenommene Welt real ist. Da unser Tun für Gewöhnlich erfolgreich ist (andernfalls würde es uns ja gar nicht mehr geben), und da wir im Zuge gelingenden Tuns eins sind mit unserer Welt, ist deren Existenz für uns gewiss. Nur dort, wo unser Handeln scheitert, treten wir in partielle Differenz zu dieser Welt und hegen Zweifel an der einen oder anderen unserer Gewissheiten.
In dieser Situation des Zweifels beginnen wir zu prüfen, was von jenen Gewissheiten Bestand hat, bzw. was zu verwerfen ist, und besagtes Überprüfen macht dann aus vormaligen Gewissheiten wahre Erkenntnisse, sprich: Wissen. Dieses wird aber von uns nur so lange als wahr angesehen, bis ein an ihm orientiertes Handeln scheitert, worauf neuerliche Überprüfungsvorgänge einsetzen und neues Wissen entsteht. Letzteres weist nun einen höheren Wahrheitsgehalt als das ältere Wissen auf, weil es dieses als eine nur unter ganz bestimmten (eingeschränkten) Handlungsbedingungen geltende Spezialisierung enthält.
Da der alte Realismus in einem das Handeln vernachlässigenden Zuschauermodus philosophiert, wird er von Gabriel mit Recht als metaphysisch zurückgewiesen. Auch Gabriels Kritik an den konstruktivistischen Irrtümern der postmodernen Philosophie stimme ich zu. Wo bei ihm aber "der Konstruktivismus" als solcher zum Gegenstand eines pauschalen Metaphysik-Vorwurfs wird, lege ich Widerspruch ein.
Denn unter den mit konstruktiven Elementen arbeitenden Ansätzen gibt es sowohl im Bereich des Marxismus als auch der Kritischen Theorie und ihrer Vorläufer bzw. Nachfolger eine Reihe von Positionen (zu denen ich auch meine eigene zähle), die um ein Philosophieren bemüht sind, das sich konsequent als Selbstreflexion von Handelnden begreift und daher keinen in einer Meta-Welt angesiedelten Meta-Beobachter bemühen muss.
Der Neue Realismus ist Metaphysik
Der Neue Realismus nimmt dagegen, wie zuvor erläutert, einen Standpunkt ein, der sich in einem solchen unserer Erfahrung unzugänglichen Jenseits positioniert. Gabriels eigene Philosophie ist deshalb geradezu ein Paradebeispiel für Metaphysik.
Besagte Metaphysik will aufklären über das wahre Verhältnis zwischen der Welt und ihrem Zuschauer und überbringt uns aus dem diese Welt samt deren Zuschauer enthaltenden Jenseits folgende Hauptbotschaft: Was den Zuschauer mit der von ihm angeschauten Welt verbinde, und damit allem zugrunde liege, was er in seiner Welt sehe, seien sogenannte "Sinnfelder".
Gabriel bezeichnet daher seine Metaphysik (die für ihn keine Metaphysik ist) als "Sinnfeldontologie". Letztere "behauptet, dass es nur dann etwas und nicht nichts gibt, wenn es ein Sinnfeld gibt, in dem es erscheint". Jene Sinnfelder sind also gewissermaßen das eigentliche Sein, das als eine Art Meta-Ding in der von Gabriel phantasierten Meta-Welt existiert, und zwar völlig unabhängig vom Menschen. Denn selbst dann, "wenn kein Mensch je existiert hätte oder kein Lebewesen mit Bewusstsein, wäre das immer noch so. Daran ändern wir gar nichts."
Gabriels Ontologie aktiviert hier eine Denkfigur, die sie von Heidegger abgeschaut hat. Dieser unterschied einst zwischen dem "Sein" und dem "Seienden", wobei ersteres den Verständnishorizont bildet, auf dessen Grundlage uns dann die Dinge in der Welt, als das "Seiende", begegnen können. Es besteht aber eine entscheidende Differenz zwischen Heideggers Sein und Gabriels Sinnfeldern.
Zwar 'riecht' Heideggers Sein ebenfalls ein wenig nach einem Meta-Ding - und wurde deshalb auch immer wieder in diesem Sinne rezipiert. Mit dem Verweis auf seine Rolle als Hintergrund unserer Begegnung mit dem Seienden, ist aber implizit ein Bezug zur menschlichen Praxis gewahrt, denn besagte Begegnung mit dem Seienden findet ja nur im Handeln statt.
Auch in sprachlicher Hinsicht wäre eine solche Identifizierung des Seins mit dem Handeln korrekt. Denn grammatikalisch ist das Sein die Substantivierung eines Tuns. Aus der Perspektive meines Philosophierens beschreibt daher Heideggers Sein jene bereits oben erwähnte Grundsituation menschlicher Praxis, in der wir Akteure bei unserem (zwar nicht immer, jedoch überwiegend) gelingenden Tun eins sind mit unserer Welt.
Ganz anders Gabriels Sinnfelder. Hier fehlt der Bezug zum menschlichen Handeln völlig. Sinnfelder sind tatsächlich bloß vom Philosophen angeschaute Dinge, noch dazu solche mit deutlichem Anklang an physikalische Objekte. Denn der Feldbegriff ist ja seit dem neunzehnten Jahrhundert eng mit der Entwicklung der Elektrodynamik verbunden.
Ontologie à la Gabriel liefert damit bloß ein verdinglichtes Zerrbild der Ergebnisse einer transzendentalen Erkenntnistheorie, welche sich als Reflexion von Handelnden über ihr allem Tun zugrunde liegendes Weltbild versteht. Wo letztere über die Beziehungen ihres Wissens zu der von ihm angeleiteten Praxis nachdenken, doziert erstere über eine alles Erkennen fundierende, menschenunabhängige Meta-Struktur.
Zudem zeichnet sich bei Gabriels Ontologie-Begriff seit der 2013 erfolgten Publikation seines Bestsellers eine Entwicklung in Richtung auf eine immer plattere Verdinglichung ab. Definierte er 2013 Ontologie noch "als Analyse der Bedeutung von »Existenz«", so geht es ihm dabei inzwischen um die Frage "Was ist Existenz? - und nicht nur: Was bedeutet das Wort Existenz?". Er bekennt sich also mittlerweile ganz klar zu einer Ontologie, die nach dem Sein des Seins fragt und dieses dadurch von vornherein als ein ('Sinnfeld' genanntes) Meta-Ding missversteht.
Im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes versuche ich dann zu zeigen, dass sich auf Basis von Gabriels Sinnfeld-Ontologie kein schlüssiges Wahrheitskonzept entwickeln lässt, weshalb der von ihm ausgerufene Neue Realismus letztlich in einen radikalen Pluralismus mündet. Dieser kann sich gegen die Ideologen des postfaktischen Zeitalters nur zu hilfloser Entrüstung aufschwingen und unterscheidet sich damit bloß durch seinen Gestus der Empörung vom Laissez-faire-Pluralismus jener Postmoderne, die Gabriel eigentlich überwinden wollte.