zurück zum Artikel

Überlegungen zum demokratischen Potential des Web 2.0

Medien verändern Öffentlichkeit und Demokratie

Öffentlichkeit und Demokratie stehen aus der Sicht der Politik- und Kommunikationswissenschaft in einem direkten Zusammenhang.1 [1] Das Internet im Allgemeinen, und seit einigen Jahren nun das Web 2.0 im Besonderen, wird von vielen als eine Art Demokratisierungsmaschine betrachtet, gerade weil es Öffentlichkeit herstellt und weil die Verknüpfung von Öffentlichkeit mit Demokratie nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit gängig ist.

Da es schon häufiger zu Revolutionen in der medialen Welt kam und auch einige Skeptiker den Nexus von Öffentlichkeit, Demokratie und Internet in Frage stellen, sollen hier diesbezüglich zwei zentrale Fragen gestellt und beantwortet werden. Die erste ist die, ob das Phänomen der Medialisierung, das den Zusammenhang von Öffentlichkeit, Demokratie und Medien mal positiv mal negativ beschwört, tatsächlich ein neues Phänomen darstellt, oder ob es doch nur ein immer schon dagewesenes Phänomen neu formuliert. Diese Frage sollte sich im Laufe dieses Artikels von alleine klären. Die zweite Frage lautet: Inwiefern wird das Verhältnis von Öffentlichkeit und Demokratie von den Medien beeinflusst? Um dieses Thema zu erörtern, werde ich mit einer ideengeschichtlichen Rückschau beginnen, um dann vor diesem Hintergrund mich mit dem Web 2.0 und dem Zusammenhang von Öffentlichkeit und Demokratie auseinandersetzen.

Das aufgeklärte Publikum und seine Medien

Hierzu möchte ich historisch etwas ausholen. In der Berlinischen Monatsschrift tobte seit 1783 eine Auseinandersetzung über die Frage "Was ist Aufklärung?" Die Berlinische Monatsschrift stellte im absolutistischen Preußen Friedrich II. eine Art literarische Bühne der Aufklärung dar, die das gebildete Bürgertum auch über weite Räume versammelte und so die bürgerlichen Salons in Berlin und anderen Städten kurzschloss.2 [2] Diese Zeitschriften waren, mit McLuhan gesprochen, eine "Extension of Man" in der Hinsicht, dass sie die mündlichen Debatten in privaten geschlossenen Räumen nach außen in die Öffentlichkeit trugen und weit entfernte Bürger zusammenführte zu einem aufgeklärten, politischen Publikum.

Was heißt das? Mit einem Mal gab es also eine bürgerliche Öffentlichkeit, die sich über politische Fragen stritt. An dieser bürgerlichen Öffentlichkeit hatten u.a. auch bekannte Persönlichkeiten wie Kant, Fichte und Schlegel ihren Anteil und trugen wohl zu deren Popularisierung bei.

Was aber hatte die Entstehung einer solchen Öffentlichkeit für Konsequenzen? Eine intellektuelle Öffentlichkeit, die über politische Fragen stritt, nicht mehr nur über ästhetische oder philosophische!

Das gebildete Bürgertum eroberte sich einen Raum öffentlicher Meinungsbildung und Kritik, den später parlamentarische Versammlungen übernahmen und zu einem beträchtlichen Teil absorbierten.

Andreas Frei

Die fehlenden politischen Institutionen wurden durch eigene Institutionen wechselseitiger Kommunikation ersetzt. Und dort wurden Fragen bezüglich des Verhältnisses von Kirche, Aufklärung und Staat kontrovers diskutiert. Dadurch musste sich der monistische Staat herausgefordert fühlen - immerhin ging es hier darum, ob die Gesetze, Handlungen und auch die Verfasstheit des absoluten Staates gut oder schlecht seien.

Die Einführung des unabhängigen Maßstabs eines Natur- bzw. Vernunftrechts ermöglichte der bürgerlichen Öffentlichkeit eine kritische Distanz zu dem bestehenden Staatswesen. Die Frage, die sich nun stellte, war die: unterminierte eine solche öffentlich betriebene Aufklärung die öffentliche Ordnung oder stärkte sie sie durch vernünftige Vorschläge?

Letzten Endes ging es um die Frage: Lässt der Staat sich von einer bürgerlichen Öffentlichkeit öffentlich "zurechtweisen" oder verbittet er sich das? Es ging um mehr als um die Frage Meinungsfreiheit oder Zensur, es ging um die Frage Republikanismus oder Absolutismus.

Bürgerliche Öffentlichkeit als Korrektiv der Staatsmacht

Für Kant war klar, dass sich im öffentlichen Vernunftgebrauch eine Pflicht der Bürger verbirgt, die auf lange Sicht das Entstehen einer Republik bewirkt. Dass das erstrebenswert ist, wird spätestens in Kants Streit der Fakultäten deutlich: Kant sieht die Französische Revolution und den Republikanismus als Fortschritt an - aus moralischer und politischer Perspektive.

Kants Demokratiekonzept, wenn ich das mal so sagen darf, ist mit der Einteilung von Renate Martinsen in ihrem Aufsatz "Öffentlichkeit in der Mediendemokratie aus der Perspektive konkurrierender Demokratietheorien" dem liberalen Paradigma zuzuordnen. Die bürgerliche Öffentlichkeit soll natürlich nach Kant nur als "Resonanzboden" fungieren und die "Publikumswünsche" an die legitimen Vertreter herantragen.3 [3]

Die Zeitschriften des preußischen intellektuellen Bürgertums haben eine Medialisierung betrieben. Sie haben eine vorher nicht existente Öffentlichkeit hergestellt und eine Politisierung mit sich gebracht. Der Staat und seine Politik wurden nun beobachtet und der Staat war sich dessen bewusst und reagierte darauf. Mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II. wurden die Zensurbeschränkungen verstärkt - und damit wurde klar: Er hatte die Botschaft des politisch räsonierenden Publikums gehört, aber nicht verstanden!

Ernst Cassirers Konzept der Pluralität der symbolischen Formen

Etwa 140 Jahre später fand sich Ernst Cassirer in der erstaunlichen Lage wieder, in der repräsentativen Demokratie der Weimarer Republik von Demokratiefeinden und Antisemiten umstellt zu sein.

Cassirer erlebte die Weimarer Republik zunächst als politische Befreiung. Hier endlich war die Pluralität und Offenheit aller gesellschaftlichen Institutionen gegeben, die eine freie und vielfältige Öffentlichkeit gewährleistete, die Cassirer als essentiell für die Existenz des Menschen als "animal symbolicum" verstand. Aber genau diese Pluralität der symbolischen Formen sah er auch hier schon wieder durch die Feinde der Demokratie gefährdet. Er beobachtete eine Verengung des Denkens, die Wiedereinführung völkischer und nationalistischer Mythen, Rassenwahn und Antisemitismus.

Diese Tendenzen gefährdeten die freie und individuelle Entfaltung der symbolischen Formen, die man mit Cassirer als Medien der Weltwahrnehmung und Weltkonstruktion bezeichnen kann. Sie erst befähigen den Menschen in einem "Pluriversum" zu leben und sich zurechtzufinden.4 [4] Diese symbolischen Formen sind natürlich keine Medien im normalen Wortgebrauch, doch ist ihre Funktion dieselbe, die wir heute den Massenmedien zuschreiben: Die Herstellung von Weltkenntnis und Weltkonstruktion.

Pathologie der Welterkenntnis

Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme, der Gleichschaltung und der Säuberung aller gesellschaftlichen Institutionen und des öffentlichen Dienstes wurde die Öffentlichkeit durch eine totale Scheinöffentlichkeit ersetzt, Erfahrung und Gestaltung der Welt durch die symbolischen Formen war nicht mehr möglich, da nun alle symbolischen Formen von einem - um mit Odo Marquard zu sprechen - neuen Monomythos durchtränkt und gelähmt wurden.5 [5]

Bei Cassirer kann man schon implizit lesen, was dann Walter Benjamin in seinem grundlegenden Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit explizit ausführt: nämlich dass sich die Technik der Medien dem Politischen gegenüber neutral verhält. Es kommt immer auf die Indienstnahme der Technik an, die den Wert der Medien für eine plurale Öffentlichkeit bemessen lässt.6 [6]

Demokratietheoretisch haben wir also mit Cassirer einen weiteren Vertreter des liberalen Ansatzes, der jedoch den Kreis der räsonierenden Öffentlichkeit umfassend gestalten würde.

Benjamin, der Tonfilm und die Politik

Benjamin war davon überzeugt, dass der Tonfilm das avancierteste Medium seiner Zeit war und damit genau den Wahrnehmungsgewohnheiten der Menschen entsprach. Hier ist also schon ein wichtiger neuer Punkt angesprochen: Die Medien, um akzeptiert und auch der Lebensrealität der Menschen gerecht zu werden, müssen den gesellschaftlichen Wahrnehmungsgewohnheiten entsprechen. Der Tonfilm entspricht den Gewohnheiten der Menschen, die sie aus Arbeit und Freizeit haben, er spricht ihre Sprache. Dies macht ihn zum geeigneten Medium, um sie zu beeinflussen.

Der Tonfilm als audiovisuelles Medium ermöglicht nach Benjamin eine dreifache politische Indienstnahme:

  1. Ästhetisierung der Politik durch den Faschismus
  2. Indienstnahme des Films durch die Kulturindustrie
  3. Politisierung des Films durch den Kommunismus

Während die ersten beiden das Verhältnis von Öffentlichkeit und politischem System nach Benjamin undemokratisch und autoritär steuerten und dafür die neuen Medien gezielt und intelligent einsetzten, lässt nur der dritte Punkt, die Politisierung des Films durch den Kommunismus, eine freie und demokratische, ja basisdemokratische Öffentlichkeit zu, die in einem direkten Begründungsverhältnis zur Demokratie steht - eine Assoziation, die heute nicht mehr unbedingt mit dem Kommunismus entsteht. Hier kann man dann nicht mehr von der Beeinflussung der Menschen durch den Film reden, sondern man muss vielmehr von einer Selbsterkenntnis sprechen.

Auch hier gilt - wie bei Cassirer: Bedingung für das Funktionieren dieser Selbsterkenntnis ist Pluralität und Freiheit. Benjamin geht aber noch einen Schritt weiter und fordert - wie zur gleichen Zeit Brecht - dass jeder zum Autor werde.

Inszenierte Politik avant la lettre

Darüber hinaus führt der Schritt zu den audiovisuellen Massenmedien auch zu einer Veränderung des Publikums, was wiederum Auswirkungen auf die Performanz des (politischen) Medienakteurs hat.

Nach Benjamin agieren die Politiker nun nach den gleichen Gesichtspunkten wie der Schauspieler vor der Kamera.7 [7] Und mit dem Medium verändert sich nicht nur die Art und Weise der Kommunikation und ihrer Rezeption, sondern es verändert sich auch das Publikum. Von einem kleinen Fachpublikum hin zur allgemeinen Öffentlichkeit. Benjamin hat hier im Keim das Phänomen entdeckt, das seit Ende der 90er Jahre in der Politik- und Kommunikationswissenschaft diskutiert wird: "Inszenierte Politik" als Konsequenz der Medialisierung.

Benjamin ist, um bei dem Schema von Renate Martinsen zu bleiben, im partizipatorischen Demokratieparadigma anzusiedeln - zumindest solange man seiner Idealvorstellung und nicht seiner Ist-Darstellung folgt.

Habermas' Theorie der Öffentlichkeit

Jürgen Habermas' deliberative Demokratietheorie bietet hier das Mittelstück zwischen den beiden bisher deutlich hervorgetretenen Ansätzen: Habermas verortet seine Theorie in den modernen Massengesellschaften, also in einem massenmedial bestimmten Diskurs.

In seiner Habilitationsschrift von 1962 "Der Strukturwandel der Öffentlichkeit" äußert er sich ja bekanntlich noch sehr negativ über die Qualität einer massenmedial hergestellten Öffentlichkeit. Zu sehr ist er hier noch vom Kulturindustriedenken Adorno und Horkheimers beeinflusst, die doch ein sehr lineares Wirkungsmodell der Massenmedien hatten und vor allem die Eigenwilligkeit, Resistenzkraft und auch Intelligenz des Massenpublikums völlig unterschätzten.

Habermas lehnt sich nun in seinem Vorwort zur Neuauflage von 1990 an die Cultural Studies an und stellt mit Stuart Halls Aufsatz "Encoding/Decoding"8 [8] fest, dass man idealtypisch drei Rezeptionsmodi berücksichtigen muss: den affirmativen, den oppositionellen und den synthetisierenden Rezeptionsmodus.

Man kann wohl ein wenig vereinfachend sagen, dass im Grunde diese drei Rezeptionsmodi bei allen zentralen Gegenständen der gesellschaftlichen Debatten in der Öffentlichkeit anzutreffen sind. Insofern ist eine öffentliche Meinung, wie sie im partizipatorischen Paradigma sich vorzustellen ist, nämlich als Summe der Einzelmeinungen, völlig unbefriedigend, weil man darauf schlecht allgemein gültige Entscheidungen fällen kann. Beim liberalen Paradigma fällt negativ auf, dass nicht die Gesamtgesellschaft repräsentiert ist, sondern die politische und ökonomische Elite überrepräsentiert ist. Dies führt zu den allgemeinen negativen Begleiterscheinungen die uns heute aus repräsentativen Demokratien bekannt sind: Politikverdrossenheit, Rückkehr ins Private, Protestwahlen.

Synthese des liberalen und partizipativen Paradigmas

Um aus diesem Dilemma zu entfliehen, versucht Habermas aus beiden Ansätzen das Positive zu vereinen und das Negative zu vermeiden. Die in Körperschaften organisierte Meinungsbildung, die zu verantwortlichen Entscheidungen führen soll, kann dem Ziel der kooperativen Wahrheitssuche nur in dem Maße gerecht werden, wie sie für alle Themen und Argumente durchlässig bleibt.9 [9] Somit hofft Habermas auf das freie Zusammenspiel institutionell verfasster Willensbildung und nicht vermachteter Kommunikationsströme einer nicht organisierten Öffentlichkeit:

Die kommunikativ verflüssigte Souveränität bringt sich in der Macht öffentlicher Diskurse zur Geltung.

Jürgen Habermas

Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz werden bewertet und diskutiert. Diese Meinungen müssen dann aber "in Beschlüssen demokratisch verfasster Körperschaften Gestalt annehmen, weil die Verantwortung für praktisch folgenreiche Beschlüsse eine institutionelle Zurechnung verlangt". Insofern muss man mit Habermas festhalten, dass die Diskurse nicht herrschen, sondern mit ihrer kommunikativen Macht die administrative Macht beeinflussen und zwar im Sinne von Beschaffung oder Entzug von Legitimation.10 [10] Eine zentrale Rolle spielen hier neben den Massenmedien die zivilgesellschaftlichen Akteure wie Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Bürgerrechts- und Umweltorganisationen etc.

Die massenmediale Vermitteltheit der Kommunikation spielt auch hier eine große Rolle, anders ist politische Kommunikation heutzutage auch gar nicht mehr zu denken. Insofern ist natürlich auch für Habermas klar, dass die Presse so frei und vielfältig sein soll wie möglich. 1990 ist es für Habermas noch fraglich, ob die Zivilgesellschaft schon stark genug ist, sich gegen die Medienmacht und ihre politischen und ökonomischen Interessen durchzusetzen. Ziel der Öffentlichkeit ist jedenfalls die Selbstbindung aller Akteure an einen diskursiv ermittelten Konsens. Damit soll eine Rationalisierung des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses unter Einbindung von Akteuren aus allen gesellschaftlichen Teilbereichen stattfinden.

Web 2.0, Öffentlichkeit und Demokratie

Die Entwicklung der sogenannten neuen Medien, insbesondere des Web 2.0, beflügelt erneut die demokratischen Phantasien vieler Menschen. Die bisher vorgestellten Paradigmen interpretieren diese neuen Medien unterschiedlich.

Während das liberale Paradigma darin vor allem eine weitere Plattform für Informationen sieht, ist aus der deliberativen Warte das Web 2.0 eine ideale technische Idee, um Diskussionen ortsunabhängig und inklusiv zu gestalten. Zivilgesellschaftliche Akteure haben es hier leichter, sich zu äußern. Das partizipatorische Paradigma findet hier nun all das technisch realisiert, was Benjamin sich von den zu seiner Zeit neuen Medien erwartet hat: Eine völlig freie Plattform, auf der alle die gleichen Zugangschancen und Möglichkeiten haben, ihre Standpunkte in den öffentlichen Diskurs zu befördern. Zumindest theoretisch. Aber, wie steht es denn eigentlich wirklich um die partizipativen Möglichkeiten des Web 2.0?

Web 2.0, Öffentlichkeit und Demokratie - optimistische Variante

Die Revolutionen in Nordafrika, die Aufstände in Iran und China werden in den Medien oder sollte man besser sagen: in der Öffentlichkeit - gefeiert als das Ergebnis neuer Öffentlichkeiten im Internet, gesteuert und befeuert durch Facebook und Twitter, Email, Smartphones etc. Diese Ereignisse sollen - quasi pars pro toto - zeigen, dass das 21. Jh. aufgrund der technisch-medialen Revolution keine Autokratien mehr duldet, Demokratie und Menschenrechte setzen sich überall durch.

Web 2.0, Öffentlichkeit und Demokratie - realistische Variante

Wie üblich bleiben solch optimistische Betrachtungen nicht lange ohne störende Relativierungen. Da diese meist interessanter und aus politiktheoretischer Perspektive deutlich interessanter sind als die optimistischen Betrachtungen, werde ich im Folgenden versuchen zu zeigen, inwiefern eine kritische Betrachtung des Web 2.0 für das Verständnis des Verhältnisses und der Bewertung von Öffentlichkeit und Demokratie im Netz wichtig ist.

Evgeny Morozov gibt in seinem Buch The Net Delusion. How not to liberate the World zu bedenken, dass die neuen Medien ebenso große Unterdrückungspotentiale haben wie solche der Emanzipation11 [11] Walter Benjamins Dreierschema der Indienstnahme von Medien und der Unschuld der medialen Technik scheint hier durch. So macht Morozov darauf aufmerksam, dass das Internet und seine neuen Möglichkeiten nicht nur Bürgerrechtler, Netzaktivisten und sonstige Revolutionäre ermächtigt, sondern eben auch die Geheimpolizei, die Zensoren und die Propagandamaschinerien moderner autoritärer Regime. Und er ist der Ansicht, dass, zumindest im Moment, die autoritären Regime die Oberhand haben.

Die sogenannten Internetrevolutionen hätten auch nicht im Internet stattgefunden. Sicher, es gab Facebookseiten zur iranischen und tunesischen Revolution und getwittert wurde auch. Doch im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Verbreitung von Internetzugängen, Smartphones etc. in den betroffenen Ländern nicht ausreichte, um die Proteste effektiv anzuleiten und zu dirigieren.

Was der Westen in den Medien gefeiert hat, war eine vor allem von Exilanten getragene mediale Begleitmusik der eigentlichen Revolutionen. Diese wurde in den betroffenen Ländern vielleicht wahrgenommen, hatte aber nicht wirklich die Bedeutung, die ihr im Westen beigemessen wurde. Vielmehr habe das Kaffeehaus und die Mund-zu-Mund-Propaganda, die SMS und das altmodische Telefonat die Revolutionen effektiv und schnell verbreitet und am Leben gehalten.

Was die neuen Medien demzufolge geleistet haben, war die Schaffung einer großen transnationalen Öffentlichkeit, die die Sache der Oppositionellen und der Exilanten ungleich stärker machte - mit gravierenden Folgen für die nationale Öffentlichkeit und den nationalen Diskurs.

Fehlender politiktheoretischer Medienbegriff

Neben solchen unklaren Öffentlichkeitsverhältnissen ist ein weiteres Problem ein fehlender Medienbegriff, der uns dazu befähigt, analytisch sauber mit den neuen Medien und ihren Folgen umzugehen. Das Web 2.0, soweit stimmen alle (natürlich nicht alle!) zu, ist ein Konglomerat aus allen "alten" Medien, die gleichzeitig verwendet werden können. Darüber hinaus lässt es reziproke Kommunikation zu, es ist ein Pull-Medium und immer, überall verfügbar. Die Autorenschaft ist oft verschleiert, so dass Kommunikation nicht mehr eindeutig zurechenbar ist.

Damit aber fehlen Anhaltspunkte über politische Absichten und Haltungen. Man hat kein Koordinatensystem der Einordnung und Bewertung mehr. Zudem führen die neuen Filtertechniken bei Google, Facebook usw. dazu, dass für den einzelnen Nutzer die Informations- und Meinungsvielfalt des Internets mehr und mehr verschwindet, so zumindest Eli Pariser in seinem neuen Buch The Filter Bubble. What the Internet is Hiding from You12 [12].

Der heutige Nutzer des Web 2.0 spiegelt sich durch die aus wirtschaftlichem Interesse betriebene Personalisierung immer nur in seinen eigenen Vorlieben und Peers. Unbekanntes, Fremdes, außerhalb der eigenen Lebenswelt Existierendes bekommt der Nutzer nicht mehr zu sehen, weder bei Google, noch bei Facebook. Folglich kann man der webbasierten Kommunikation und der aus ihr resultierenden Öffentlichkeit nicht mehr den gleichen Status einräumen wie zuvor. Die Öffentlichkeit wird durch das Web 2.0 ubiquitär, ephemer, opak, privat und ortlos. Dies hat Konsequenzen für ihre legitimatorische Kraft und ihr Verhältnis zur Demokratie.

Eine neue Pathologie des Symbolbewusstseins?

Es steht zu befürchten, dass das Informationsangebot im Internet, um mit Cassirer zu sprechen, zu einer sich langsam entwickelnden Pathologie des Symbolbewusstseins führt. Die Pluralität des menschlichen Miteinanders wird gerade dort ausgeblendet, wo die Ideologie lautet, dass es freier und pluraler gar nicht mehr zugehen kann: im Web 2.0.

Diese Pathologie hätte zur Folge, dass die Welt in ein Mosaik unsolidarischer, nichts voneinander wissender Interessengruppen zerfällt, die natürlich auch keine politische Öffentlichkeit im Sinne einer Gemeinwesen begründenden Öffentlichkeit bilden können. Der Monomythos der Zukunft könnte daher "umfassende Informiertheit durch das Internet" heißen.

Waren die Medien für Kant tatsächlich noch sinnvolle und positive "Extensions of Man", so ist das bei Cassirer, Benjamin und Habermas nur der Fall, wenn die Medien tatsächlich zu einem einigermaßen unbehinderten Einsatz gelangen können. Die "Extension of Man", die durch das Web 2.0 der Idee nach weiter forciert wird, wird durch die Phänomene der Selbstspiegelung durch Filterinstrumente in ihr Gegenteil verkehrt. Für das Web 2.0 gilt also in gleichem Maße Benjamins Modell der Indienstnahme, die den Wert des Mediums für eine offene Gesellschaft bemessen lässt.

Politische Forderung

Die politische Forderung muss daher im Sinne der Demokratie und Öffentlichkeit lauten, dass alle Filtermechanismen öffentlich gemacht werden müssen und jederzeit die Option für alle Internetnutzer besteht, diese Filter für sich zu deaktivieren, um so eine demokratische Auseinandersetzung mit dem Medium des Web 2.0 tatsächlich zu ermöglichen und um zu verhindern, dass das Internet ausschließlich zu einem riesigen Einkaufszentrum inklusive ideologischer Indoktrinationsanstalten verkommt.

Literatur [13]


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3390844

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Ueberlegungen-zum-demokratischen-Potential-des-Web-2-0-3390844.html?view=fussnoten#f_1
[2] https://www.heise.de/tp/features/Ueberlegungen-zum-demokratischen-Potential-des-Web-2-0-3390844.html?view=fussnoten#f_2
[3] https://www.heise.de/tp/features/Ueberlegungen-zum-demokratischen-Potential-des-Web-2-0-3390844.html?view=fussnoten#f_3
[4] https://www.heise.de/tp/features/Ueberlegungen-zum-demokratischen-Potential-des-Web-2-0-3390844.html?view=fussnoten#f_4
[5] https://www.heise.de/tp/features/Ueberlegungen-zum-demokratischen-Potential-des-Web-2-0-3390844.html?view=fussnoten#f_5
[6] https://www.heise.de/tp/features/Ueberlegungen-zum-demokratischen-Potential-des-Web-2-0-3390844.html?view=fussnoten#f_6
[7] https://www.heise.de/tp/features/Ueberlegungen-zum-demokratischen-Potential-des-Web-2-0-3390844.html?view=fussnoten#f_7
[8] https://www.heise.de/tp/features/Ueberlegungen-zum-demokratischen-Potential-des-Web-2-0-3390844.html?view=fussnoten#f_8
[9] https://www.heise.de/tp/features/Ueberlegungen-zum-demokratischen-Potential-des-Web-2-0-3390844.html?view=fussnoten#f_9
[10] https://www.heise.de/tp/features/Ueberlegungen-zum-demokratischen-Potential-des-Web-2-0-3390844.html?view=fussnoten#f_10
[11] https://www.heise.de/tp/features/Ueberlegungen-zum-demokratischen-Potential-des-Web-2-0-3390844.html?view=fussnoten#f_11
[12] https://www.heise.de/tp/features/Ueberlegungen-zum-demokratischen-Potential-des-Web-2-0-3390844.html?view=fussnoten#f_12
[13] https://www.heise.de/tp/subtext/telepolis_subtext_3544595.html?artikel_cid=3390844&row_id=1