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Überschreiten der Gruppengrenze

Szene aus dem "Ferienlagerexperiment" von 1954. Bild: uakron.edu

Je mehr Kontakt zum Fremden besteht, desto weniger Vorurteile hat der Mensch. Ein Rückblick auf die sozialpsychologische Forschung mit Rückschlüssen für die Gegenwart. (Teil 2 und Ende)

Gruppenbewusstsein und Gruppendenken sind biologisch im Menschen verankert und machen evolutionär Sinn, wie im ersten Teil "Wir gegen sie!" [1] dargelegt wurde. Angesichts globaler Herausforderungen und drohender Katastrophen stellt sich aber zwingend die Frage, wie trennende Gruppengrenzen überschritten werden können.

Im Ferienlager

Im Jahr 1954 leitete der Sozialpsychologe Muzafer Sherifs das legendäre "Ferienlagerexperiment" [2]. Im Robbers Cave State Park nahmen 22 Jungen zwischen zwölf und 14 Jahren, die einander nicht kannten, an einem Ferienlager teil. Sie wurden in zwei Gruppen eingeteilt und lebten an zwei Enden eines großen Geländes, ohne von der Existenz der anderen Gruppe zu wissen. Zu Beginn der zweiten Woche wurden beide Gruppen darüber unterrichtet, dass sie nicht alleine waren.

Schnell stellte sich daraufhin ein Gefühl der Feindseligkeit gegenüber der fremden Gruppe ein. Als die zweite Gruppe erfuhr, dass sich die erste den Namen "Die Klapperschlangen" gegeben hatte, bezeichnete sie sich fortan als "Die Adler". Auch das Verhalten innerhalb der Gruppe änderte sich: je erbitterter die Feindschaft nach außen, desto stärker die Selbstlosigkeit innerhalb der Gruppe. Man half einander jetzt häufiger. Und besonders diejenigen, die in der sozialen Hierarchie unten standen, versuchten sich durch selbstlose Taten hervorzutun.

Schließlich wurde eine Reihe von Wettkämpfen zwischen den "Klapperschlagen" und den "Adlern" angekündigt. Die Spieler beschimpften sich, und die "Adler" zündeten die Fahne der "Klapperschlagen" an. Diese überfielen anschließend die Hütte der "Adler". Daraufhin suchten die "Adler" mit Baseballschlägern die Feinde auf, die zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht in ihrem Quartier waren. Die Leichtigkeit der Gruppenkonstruktion und die Unüberwindlichkeit des Gruppendenkens und der dadurch gezogenen Grenzen schienen sich zu bestätigen.

Der Sozialwissenschaftler Lutfy Diab wiederholte das Experiment mit 18 Jungen aus Beirut. Die beiden Gruppen "Blaue Gespenster" und "Rote Genies" bestanden jeweils aus fünf Christen und vier Muslimen. Sehr bald brachen auch hier Streit und Kämpfe aus, allerdings nicht zwischen Christen und Muslimen, sondern zwischen der blauen und der roten Gruppe. Ein beeindruckendes Beispiel für die Konstruktion von Gruppen.

Die Macht des Kontakts

Nichts ist fähiger diese Vorurtheile zu zerstreuen, als die Kenntnis vieler Völker, bey denen die Sitten, die Gesetze, die Meinungen verschieden sind, eine Verschiedenheit, die durch eine leichte Bemühung uns lehrt dasjenige wegzuwerfen, worinn Menschen uneinig sind, und das für die Stimme der Natur zu halten, worinn alle Völker miteinander übereinstimmen.

Das ist eine Aussage des Mediziners und Naturforschers Albrecht von Haller in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Von Haller war von der besonderen Bedeutung der Begegnung und des Dialogs überzeugt, um den Graben zwischen fremden Gruppen zu überwinden.

In den 1950er-Jahre entwickelte der Psychologe Gordon Allport die bedeutende Kontakt-Theorie. Sie geht davon aus, dass Kontakt zwischen Gruppen den Gruppen-Gegensatz überwinden und dadurch gefährliche Vorurteile abbauen kann. Laut Allport müssen hierfür jedoch bestimmte Bedingungen gegeben sein; ein flüchtiger Kontakt reicht nicht aus. Er bezeichnet solche Kontakte als "touristischen Kontakt". Noch weniger können Konkurrenzkämpfe der Überwindung der Gruppengrenze dienlich sein, wie es sich im Ferienlager gezeigt hatte.

Allport erklärte, Vorurteile "können durch gleichberechtigten Kontakt zwischen Mehrheits- und Minderheitsgruppen bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele abgebaut werden. Die Wirkung wird erheblich verstärkt, wenn dieser Kontakt durch institutionelle Unterstützung (d.h. durch Gesetz, Sitte oder örtliche Atmosphäre) sanktioniert wird, und vorausgesetzt, er ist von einer Art, die zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Menschlichkeit zwischen den Mitgliedern der beiden Gruppen führt."

Das Ende des Ferienlagers

Auf dem Höhepunkt der Feindseligkeiten zwischen den "Adlern" und den "Klapperschlangen" brechen eine Reihe von Darstellungen den Bericht über das Ferienlage-Experiment von Muzafer Sherif ab und benutzen ihn als einen Beweis für die destruktive Natur des Menschen, die die ordnende Hand des Staates benötigt.

Tatsächlich ging das Experiment aber jetzt in die dritte und entscheidende Woche. Sie war das eigentliche Ziel von Sherifs Forschung. Als die Spannungen zwischen den beiden verfeindeten Gruppen deutlich in Erscheinung getreten waren, probierte Sherif eine Reihe von Strategien aus, um beide Lager miteinander durch Kooperation zu versöhnen. Nachdem heimlich eine Wasserzufuhr des Lagers sabotiert worden war, baten die Leiter des Experiments alle Jungen, die Wasserleitung zu reparieren, da dieses Problem beide Gruppen betraf und man nur zusammen die fehlende Wasserversorgung wieder in Gang setzen konnte.

Als die Jugendlichen einsahen, dass sie gemeinsam mit der anderen Gruppe handeln mussten, verringerte sich die Feindschaft und sie liehen sich sogar gegenseitig Werkzeug aus. Sobald aber das Wasser wieder lief, flammte die alte Feindschaft wieder rasch auf. Auch ein gemeinsames Kinoerlebnis, das nur möglich war, wenn alle zusammen Geld beisteuerten, erwies sich nur als vorübergehende Episode des Friedens.

Schließlich organisierte Sherif einen gemeinsamen Ausflug, wobei er absichtlich den Lastwagen mit den Nahrungsmitteln von seinen Helfern umkippen ließ. Als die beiden verfeindeten Gruppen das Unglück entdeckten, erkannten sie, dass sie ein Problem hatten, welches sie nur durch eine gemeinsame Kraftanstrengung lösen konnten.

Danach stießen die Kinder auf das nächste Problem, das Sherif geplant hatte: Die Zelte der beiden Gruppen waren durcheinandergeraten, sodass die Kinder Einzelteile tauschen mussten. Als schließlich der Lastwagen mit dem Proviant erschien, zeigte sich, dass ein mehrere Kilogramm schweres Stück Fleisch unter ihnen aufgeteilt werden musste. Schlussendlich entstanden Freundschaften zwischen Mitgliedern der verfeindeten Gruppen, und die Jungen beschlossen, gemeinsam in einem Bus zurückzufahren.

(Der Vollständigkeit halber muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass dieses Experiment bereits der dritte Anlauf von Sherif war. Im ersten Experiment 1949 wollte er die gegenseitige Feindschaft durch eine gemeinsame Aufgabe gegen einen neuen Feind aufbrechen, was nur teilweise gelang.

Das zweite Experiment 1953, bei dem alle Kinder gemeinsam zum Ferienlager fuhren und auf dem Weg bereits entstandene Freundschaften bewusst durch die Festlegung der Gruppen getrennt wurden, musste abgebrochen werden, weil sich keine wirkliche Feindseligkeit entstellen wollten und die Jungens sogar den Manipulationsversuch des Forschers durchschauten.)

Die Macht des Kontakts: Bestandener Test in der Wirklichkeit

Eine Reihe von Beispielen aus Geschichte und Gegenwart, die ganze Bücher füllen, sind lebendige und einprägsame Beweise für die Macht des Kontakts, um mögliche Gruppengegensätze zu überwinden. Beeindruckend ist beispielsweise, dass der erste Schritt zur Aufhebung der Rassentrennung in den USA aus der Not heraus geschah.

Als US-amerikanische Soldaten in Remagen am Ende des Zweiten Weltkriegs ihrer unausweichlichen Gefangennahme entgegensahen, wurden sie völlig unverhofft von einer afroamerikanischen Kompanie gerettet. Spätere Umfragen ergaben, dass nicht nur die direkt betroffenen Soldaten ihre Vorurteile verloren hatten, sondern auch die große Mehrheit der Soldaten, die durch den Rhein getrennt das Geschehen nur durch das Fernglas beobachten konnten. Sogar bei Soldaten, die das Geschehen lediglich vom Hören-Sagen kannten, senkte das Ereignis die Vorurteile nachweisbar ab.

Das berühmteste Beispiel für den Erfolg der Kontakttheorie im Krieg dürften sicherlich aber die Fraternisierungen im Ersten Weltkrieg sein, die weit über das medial aufbereitete Fußballspiel und das Weihnachtsfest 1914 hinausgingen.

Ein Studium der Feldpost zeigt, dass allein die dauerhafte physische Nähe zum Feind im Grabenkrieg bei den Soldaten häufig zu der Erkenntnis führte, den verfeindeten Menschen gegenüber sich näher zu fühlen als der Heimatfront.

Aber auch jenseits des Krieges gibt es beeindruckende Beispiele für das Gelingen der Kontakttheorie. Ein Beispiel als Stellvertreter: 1943 brachen in Detroit massive Rassenunruhen und brutale Straßenkämpfe aus. Vor dem Hintergrund einer schwierigen sozialen Lage und geringen Wohnraums machten zwei folgenschwere Gerüchte die Runde.

Afroamerikaner waren sich sicher, dass ein weißer Mob eine Frau und ihr Kind von einer Brücke geworfen hatten. Weiße waren sich sicher, dass ein schwarzer Mob auf derselben Brücke eine Frau vergewaltigt und getötet hatte. Beides stellte sich später als ein reines Gerücht heraus. Die Gewalt eskalierte und innerhalb der nächsten 36 Stunden wurden 34 Menschen getötet. Beachtenswert hierbei: Afrokamerikaner und Weiße, die mit Menschen der anderen Gruppe zusammenarbeiteten, beteiligten sich deutlich weniger an den Straßenschlachten und versuchten viel eher friedlich aktiv zu sein und Menschen der anderen Gruppe vor Gewalt zu schützen.

Je weniger man sich kennt

Natürlich gibt es auch sehr vielsagende Beispiele für die Auswirkungen von fehlendem Kontakt. Beispielsweise zitiert die Nobelpreisträgerin für Wirtschaftswissenschaften Elisabeth Duflo eine Studie, die belegt, je weniger Einwanderern in US-Bundesstaaten leben, desto unbeliebter sind sie. Fast die Hälfte der Bewohner von Bundesstaaten, in denen es fast keine Einwanderer gibt - wie Wyoming, Alabama, West Virginia, Kentucky und Arkansas - glaubt, dass Einwanderer eine Bedrohung für die US-amerikanische Kultur und Werte darstellen.

Ähnliches lässt sich auch in Europa feststellen. Umfragen zeigen, dass die Angst vor Flüchtlingen größer ist, je weniger Flüchtlinge in dem jeweiligen Land leben.

In diesem Zusammenhang ist auch festzustellen, wie groß die Fehleinschätzungen beim Thema Zuwanderung ist. Eine Umfrage unter 22.500 einheimischen Befragten aus sechs Ländern, in denen Zuwanderung ein bestimmendes politisches Thema war (Frankreich, Deutschland, Italien, Schweden, Großbritannien und die USA), ergab massive Fehleinschätzungen über die Anzahl und Zusammensetzung der Zuwanderer.

In Italien beispielsweise liegt der tatsächliche Anteil der Zuwanderer an der Bevölkerung bei zehn Prozent, die durchschnittliche Wahrnehmung dieses Anteils jedoch bei 26 Prozent. In Deutschland herrscht die Annahme, 21 Prozent der Bevölkerung sei muslimisch. Tatsächlich sind es fünf Prozent [3].

Möglichkeiten, Gefahren, Hoffnungen

Der Allport-Schüler Thomas F. Pettigrew erstellte 2006 eine aufwendige Meta-Studie, die 515 Studien aus 38 Ländern auswertete [4]. Die Schlussfolgerung: Unter den von Allport geforderten Bedingungen verringert Kontakt deutlich Vorurteile und Abwertungen. Auch die Überzeugung, dass die besondere Wertschätzung für die in-group einer Abwertung der out-group erfordere, wie eine häufig geäußerte Überzeugung lautet, die im ersten Teil des Artikels präsentiert wurde, ist keinesfalls gesichert.

So zeigt eine weltweite Analyse von 186 traditionell ausgerichteten Gesellschaften [5], dass sich dort kein Beweis für einen Zusammenhang zwischen Gruppenloyalität und Hass auf out-groups finden ließ. Eine Ostafrika-Studie über dort lebende Stämme kommt zu dem gleichen Ergebnis [6].

Das Gruppenbewusstsein und die Einteilung in in-group und out-group ist zwar durchaus in der Natur angelegt und macht im Rahmen der Evolution Sinn. Es ist aber keineswegs ein menschliches Naturgesetz, das zwangsläufig verhindert, dass Gruppentrennungen nicht überwunden werden können.

Studien über den Erfolg der Kontakt-Theorie

Einige Beispiele von Studien, die den Erfolg der Kontakt-Theorie belegen, sollen an dieser Stelle kurz angeführt werden:

Weiße College-Neulinge, die zufällig afroamerikanischen Mitbewohnern zugewiesen wurden, sind im Frühjahr weniger voreingenommen und haben weniger Vorurteile.

Psychologen untersuchten etwa siebzig kontaktbasierte Programme. Vielen gelingt es, zwischen den Gruppen Fürsorge und Kameradschaft aufzubauen. Zumindest einige dieser Vorteile hielten bis zu einem Jahr danach an.

In einer kürzlich durchgeführten Analyse von mehr als einer Viertelmillion Menschen stellte sich ein deutliches Muster heraus:

Je mehr Zeit jemand mit Außenstehenden verbringt, desto weniger Vorurteile äußert er.

Organisierte Filterblase

Es gibt wenig Ansätze in den Sozialwissenschaften, die besser belegt sind, als die Kontakttheorie von Gordon Allport. In einer aber zunehmend polarisierten Welt wird das Gruppenbewusstsein stärker und hat der Glaube, es sei naturgemäß und auch notwendig, zwischen in- und out-group messerscharf zu trennen, immer größere Bedeutung und Selbstverständlichkeit.

Daher schwinden die Gelegenheiten für einen Kontakt zwischen den Gruppen und lassen sich zunehmend hermetisch in sich geschlossene Filterblasen nicht nur in der virtuellen, sondern auch in der analogen Welt nachweisen. Beispielsweise belegen Studien nach Jahren der Politik zur Auflösung der Segregation in den USA einen Trend zur freiwilligen Segregation. US-Amerikaner achten heute stärker bei einem Umzug darauf, dass sie sich in Gegenden niederlassen, wo die Bewohner ihre politischen Meinungen teilen.

Ein vergleichbares Phänomen lässt sich auch in Deutschland feststellen. Die Vermächtnisstudie von Jutta Allmendinger zeigt, dass zwar knapp die Hälfte der Befragten mehrmals in der Woche mit Fremden spricht, aber zehn Prozent tun dies höchstens einmal im Jahr. Zudem kommt ein Forschungsbericht des Bundessozialministeriums zum Ergebnis: Je größer die Stadt, desto größer die ethnische und soziale Segregation.

Der Journalist Bastian Berbner kommentiert:

Die individualisierte Moderne hat es möglich gemacht, dass wir mit den immer selben Menschen und den immer selben Ansichten Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr dieselbe Schrittfolge vollführen, schlafwandlerisch sich wie Profitänzer mit einer eingeübten Choreographie. Das Unbekannte, das Fremde, das Abenteuer verbannen wir auf einen zweiwöchigen Abschnitt im Terminkalender, den wir Urlaub nennen. Das ist nur verständlich, und es wäre auch kein Problem, wenn uns diese Endlosschleife aus Vertrautem nicht dazu verleiten würde, unseren eigenen Erfahrungshorizont mit der Realität zu verwechseln. (…) Es gibt nicht viele Orte in dieser Gesellschaft, an denen sich Fremde begegnen, an denen sich Andersdenkende wirklich kennenlernen. (…) Wann haben Sie zuletzt mit jemandem gesprochen, der ganz anders war als Sie oder wenigstens ganz anderer Meinung?

Ent-Polarisierung

Die Soziologin Arlie Russell Hochschild mahnt angesichts einer sich zunehmend polarisierenden USA: "Weil wir uns nicht mehr kennen, ist es so einfach, sich in Abscheu und Verachtung einzurichten" und Bastian Berbner führt den Gedanken weiter: "Weil wir uns in Abscheu und Verachtung einreichten, lernen wir uns nicht mehr kennen."

Auch die bereits kurz angesprochene Fraternisierungen von deutschen und französischen Soldaten im Ersten Weltkrieg belegen, wie sehr die Kraft des persönlichen Kontaktes den universalen Anspruch des Gruppenbewusstseins in Frage stellen. Darauf anspielend fordert der Historiker Rutger Bregman: "Wenn wir uns in unsere eigenen Schützengräben eingraben, verlieren wir den Blick für die Wirklichkeit."

Ganz in diesem Sinne resümiert auch Bastian Berbner: "So wie das Stammesdenken der natürliche Feind der Empathie ist, ist die Empathie auch der natürliche Feind des Stammesdenken."

Es gibt durchaus auch positive Tendenzen, die Hoffnung geben, dass die Filterblasen nicht von Dauer sein werden: "Jeweils über 75 Prozent geben in der Vermächtnisstudie an, dass es ihnen sehr wichtig ist, dass Alt und Jung, Arm und Reich, Menschen mit und ohne Migrationserfahrung nebeneinander wohnen und dass Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten zusammen in die Schule gehen. Und nur sehr wenig, um die fünf Prozent, wehren ab."

Eine zukunftsweisende Vorlage hierfür könnte zum Beispiel die Kalkbreite-Siedlung in Zürich sein. Die Architektur des Hauses ist bewusst so konzipiert, dass Menschen ständige Begegnungen mit ihren Nachbarn erleben. Hierbei ist die Nachbarschaft so zusammengestellt, dass sie ein exaktes Abbild der Gesellschaft in ihrer Diversität ist.

Miteinander sprechen

Die Aufhebung des Gruppendenkens durch eine bewusste Grenzüberschreitung zu erreichen, kann auch in einem offenen Gespräch gelingen. Ein offenes Gespräch setzt aber auch gerade den eigenen Willen voraus, nicht nur der anderen Gruppe die eigenen Argumente in einem Dauermonolog aufzuzwingen, sondern vielmehr das offene Interesse, den Willen zum Zuhören.

Gerade in der aktuellen Krise ist aber eher das Gegenteil zu erkennen. Die gegenseitige Pathologisierung, indem die jeweils andere Gruppe als "Aluhutträger" oder "Faschisten" bezeichnet wird, ist leider eher die Regel als die Ausnahme. Die bewusste Schwarz-Weiß-Zeichnungen der anderen Gruppe mag zwar eine wunderbare Vorlage für eine möglichst spitze Feder und scharfe Rhetorik sein, sind aber keineswegs hilfreich, sondern polarisieren.

"Die Abwertung des Anderen - je umfassender, desto effektiver - ist ein absolut sicheres Rezept, um eine echte Debatte gar nicht erst entstehen zu lassen. Denn die pauschale Attacke kränkt. Sie erzeugt Ressentiments. Sie produziert Verhärtungen und ruiniert die Möglichkeiten empathischer Anteilnahme," so gibt der Kommunikationsforscher Friedemann Schulz von Thun in dem lesenswerten Buch "Die Kunst des Miteinander-Redens" zu bedenken, das er gemeinsam mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen geschrieben hat.

Pörksen seinerseits warnt vor den Gefahren gegenseitiger Diffamierung, wie man sie gerade jetzt so deutlich sehen kann: "Sobald man den anderen in dieser Weise diffamiert, setzt unvermeidlich ein Teufelskreis wechselseitiger Abwertung ein, eine symmetrische Eskalation, wie dies der Anthropologe Gregory Bateson einmal genannt hat: Alle Beteiligten rüsten sprachlich auf, sehen sich im Zweifel als Opfer der jeweils anderen Seite. Und es entsteht ein Sog der Aggression, aus dem man sich nur sehr schwer wieder befreien kann, wenn überhaupt."

"Das Miteinander-Reden und Miteinander-Streiten ohne falsche Harmonieerwartung ist in einer Demokratie tatsächlich alternativlos," heißt es in "Die Kunst des Miteinander-Redens". Eine Erkenntnis, die man insbesondere heute jedem Menschen in der Corona-Krise mit auf den Weg geben möchte. Gerade in einer hochpolarisierten Gesellschaft, die an der aktuellen Krise und ihrer unerträglichen Unsicherheit aufzubrechen und in ihrem Zusammenhalt zu scheitern droht, kann an einem wirklichen Dialog kein Weg vorbeiführen.

Natürlich hat der oftmals inflationär geforderte Dialog, der meist nur als ein mediales Schaulaufen der eigenen argumentativen Schlagwörter verstanden wird, seine Grenzen. So geben Pörksen und Schulz von Thun zu bedenken: "Es ist falsch so zu tun, als sei der Dialog ein Allheilmittel, eine Art Zaubertrank gegen die Polarisierung der Gesellschaft."

Nimmt man sich aber - gerade in der aktuellen Lage - wirklich die Ratschläge von Pörksen und Schulz von Thun zu Herzen, sollte einsichtig sein, warum kein Weg an einem echten Dialog vorbeiführen kann: "An die Stelle des Wahrheitsdisputs tritt also die Anstrengung des Verstehens. (…) Harte Konflikte können nur in einer Gesprächs- und Kommunikationskultur gelöst werden, die verschiedene Teilwahrheiten würdigt, unterschiedliche Positionen gelten lässt und diese dann in gemeinsamem Ringen zusammenführt."

Auf diese Art ist "der gute Dialog (...) ein Geburtsort der Vernunft." Denn "wenn es gelingt, nach guten Debatten eine integrale Lösung zu finden, die intelligenter und weiser ist, als was jeder Einzelne im Kopf hatte, dann hätte Demokratie sich auf schönste Weise verwirklicht. Gewiss, dieses Ideal ist eine Utopie - aber Utopien stellen den Kompass, damit die Richtung stimmt."

Notwendigkeit und Utopie

Bezugnehmend auf die Idee des globalen Dorfes des Philosophen Marshall McLuhan gibt der Journalist Ryszard Kapuscinski zu bedenken: "Das Wesen des Dorfes besteht darin, dass alle Bewohner einander näher kennen, dass sie miteinander Umgang pflegen, ein gemeinsames Schicksal teilen. Von der Gesellschaft auf unserer Erde kann man jedoch nichts Derartiges behaupten, sie erinnert eher an eine riesige anonyme Menge auf einem der großen Flughäfen, eine in Eile dahinströmende Menge einander gleichgültigen, fremden Menschen."

Angesichts immer größerer Gefahren für die Menschheit wie Klimakatastrophe und Ressourcenverbrauch oder Umweltverschmutzung ist aber die Notwendigkeit einer echten weltweiten Solidargemeinschaft eine Binsenweisheit und evident, dass dauerhaft nationale Einzelwege, die insbesondere den eigenen Standort im Sinn haben, nicht hilfreich sein können.

Der Sachbuchautor Jacques Attali mahnt daher: "Um zu überleben muss die Menschheit noch weit über das heutige vage Bewusstsein einer "internationalen Gemeinschaft" hinausgehen. Sie muss ein Bewusstsein für ihre Schicksalsgemeinschaft und zunächst überhaupt für deren Existenz entwickeln. Sie muss einsehen, dass sich mit vereinten Kräften viel mehr erreichen lässt, als allein auf sich gestellt."

Ist eine Weltgemeinschaft realistisch? Paradoxerweise spricht vieles dafür. Noch im Ersten Weltkrieg war beispielsweise die Armee des Kaiserreiches regional, weil die regionale Identität stärker ausgeprägt war, als die nationale. Einhundert Jahre später ist hiervon nur noch wenig zu spüren. Sogar eine dauerhafte Überwindung mit dem jahrhundertelangen Erzfeind Frankreich zu einer gemeinsamen europäischen Gemeinschaft ist inzwischen möglich geworden und politische Realität (auch wenn Spannungen in massiven Krisen offenbaren, wie fragil diese Gemeinschaft noch ist).

Auch und sogar bei den Fußball-Fans, die im ersten Teil des Artikels als sprechendes Beispiel für die Unüberwindlichkeit der Gruppengegensätze aufgeführt wurden, gibt es beeindruckende Fälle der spontanen Überwindung der Gegensätze: Psychologen rekrutierten beispielsweise Fans von Manchester United. Sie schrieben auf, was ihnen ManU bedeutet, und wurden dann gebeten, in einem anderen Gebäude ein kurzes Video für ihr Team aufzuzeichnen.

Auf wem Weg kreuzten sie einen Jogger (in Wirklichkeit ein Schauspieler), der sich den Knöchel verstauchte und zu Boden fiel. In einigen Fällen trug er ein ManU-Trikot, in anderen die Farben von Liverpool (Die Rivalität zwischen beiden Vereinen ist mit der zwischen Dortmund und Schalke zu vergleichen. Ihr Aufeinandertreffen wird als "Derby von England" bezeichnet) und in wieder anderen trug er schlicht neutrale Sportkleidung.

Über 90 Prozent der Teilnehmer hielten an, um dem Fan des eigenen Vereins zu helfen. War das Opfer jedoch Liverpool-Fan waren nur 30 Prozent bereit zu helfen. So weit, so bekannt und im ersten Teil des Artikels beschrieben.

Faszinierenderweise gibt es aber ein einfaches Mittel, um Menschen zur scheinbar undenkbaren Grenzüberschreitung zu bewegen: In einer Folgeuntersuchung baten die Forscher die Probanden, nicht über ManU zu schreiben, sondern über ihre Liebe zum Fußball. Wieder machten sie sich auf den Weg, um ihre Videos aufzunehmen, und wieder trafen sie auf einen Jogger in Schwierigkeiten. Diesmal halfen sie allerdings fast genauso oft Liverpool-Fans wie Fans des eigenen Vereins.

Studien zeigen noch eine weitere Situation auf [7], in dem verfeindete Fußballfans instinktiv ihren Hass vergessen und einander helfen: Im realen Katastrophenfall. Das gemeinsame Schicksal lässt den scheinbar unüberwindlichen Gruppengegensatz vergessen.

Erweiternde Kreise

Insgesamt spricht Wissenschaft und Geschichte dafür, dass ein nur binär ausgeprägtes Gruppenbewusstsein kein Naturgesetz ist. Aber wie steht es mit der im ersten Teil formulierten zentralen Frage, ob angesichts der nur noch global zu meisternden Herausforderungen eine solidarische Menschengemeinschaft denkbar ist oder angesichts des thematisierten Gruppendenkens schlicht ein naiver Gedanke bleibt?

Der Philosoph Peter Singer glaubt, dass sich unser "Kreis der Fürsorge" im Laufe der Zeit erweitert hat. Dass sich über die Jahrhunderte also das, was Menschen als ihre eigene Gruppe empfinden, langsam aber stetig erweitert und sich "der Durchmesser unserer Fürsorge" sich über Stamm, Stadt und sogar Nation hinaus ausgedehnt hat.

Es besteht also Hoffnung, dass Charles Darwin mit seiner Utopie recht behalten könnte: "Wenn der Mensch in der Zivilisation vorschreitet und kleine Stämme sich zu größeren Gemeinschaften verbinden, so wird der schlichteste Verstand jedem Individuum sagen, daß es seine geselligen Instinkte und Sympathien auf alle Mitglieder des Stammes ausdehnen müsse, mögen sie ihm auch persönlich unbekannt sein. Ist das einmal erreicht, so verhindert nur noch eine künstliche Schranke, daß er seine Sympathie auf die Individuen aller Völker und Rassen erstreckt."

Die Studie "Globalization and human cooperation" [8] ist der Frage nachgegangen, ob Globalisierung Einfluss darauf hat, was Menschen als eigene Gruppe empfinden. Das Ergebnis macht Hoffnung: "Im Wesentlichen ziehen "globalisierte" Individuen breitere Gruppengrenzen als andere (…) Die Globalisierung kann somit grundlegend für die Gestaltung der heutigen groß angelegten Kooperation sein und eine positive Kraft für die Bereitstellung globaler öffentlicher Güter darstellen."

Benutzte Literatur:
Jutta Allmendinger: Die Vertrauensfrage.
Gordon W. Allport,: The Nature of Prejudice.
Bastian Berbner: 180 Grad.
David Berreby: Us & Them.
Rutger Bregman: Im Grunde gut.
Esther Duflo, Abhijit V. Banerjee: Gute Ökonomie für harte Zeiten.
Ryszard Kapuczinski: Der Andere.
Gina Perry: The Lost Boys.
Bernard Pörksen, Friedemann Schulz von Thun: Die Kunst des Miteinander-Redens.
Matthieu Ricard: Allumfassende Menschenliebe.
Peter Singer: The Expanding Circle.
Dirk Splinter und Ljubjana Wüstehube: Mehr Dialog wagen!

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen"


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[1] https://www.heise.de/tp/features/Wir-gegen-sie-5037858.html
[2] http://www.yorku.ca/pclassic/Sherif/index.htm
[3] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Forschungsberichte/fb06-muslimisches-leben.pdf?__blob=publicationFile&v=11
[4] https://www.researchgate.net/publication/7046266
[5] https://www.researchgate.net/publication/41431901
[6] https://psycnet.apa.org/record/1976-20560-000
[7] https://bpspsychub.onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1348/014466608X357893
[8] https://www.pnas.org/content/106/11/4138.short