Übersterblichkeit: Zu viele Menschen sterben und keinen interessiert es

Seite 2: Zeit für Nachfragen

Elke Bodderas schreibt in der Welt:

Sorgt sich wirklich niemand im RKI, wenn deutsche Intensivstationen im Dezember plötzlich 76 Prozent mehr Embolie-Hirninfarkte melden, wie Krankenhausdaten des Abrechnungsportals Inek zeigen? Oder warum es auch in Japan, von Drosten als "vorbildlich" gelobt, 2022 zu einer ungeheuerlich hohen Übersterblichkeit kam, mehr als doppelt so viel wie im Tsunamijahr 2011?

Eine Anfrage von Telepolis an das RKI, von welcher Übersterblichkeit in Deutschland man dort ausgeht und wodurch diese zu erklären sei, lautete die knappe Antwort:

Bitte wenden Sie sich ans Statistische Bundesamt, dort wird die Übersterblichkeit und ihre Ursachen erfasst und ausgewertet, das Statistische Bundesamt veröffentlicht regelmäßig Auswertungen.

Kein Hinweis auf irgendeine Untersuchung.

Gesagt, getan. Auf eine Anfrage von Telepolis schreibt das Statistische Bundesamt:

Wir nutzen das Konzept der Übersterblichkeit zur Einordnung der Entwicklungen im Saisonverlauf. Für ganze Kalenderjahre beziehen wir uns auf Maßzahlen wie die Lebenserwartung bei Geburt auf Basis von Sterbetafeln oder auf (altersstandardisierte) Sterbeziffern, die auf Basis endgültiger Sterbe- und Bevölkerungszahlen nach einzelnen Altersjahren berechnet werden können, sobald diese vorliegen.

Konkret nach der Anzahl zusätzlicher Todesfälle, die über das statisch zu erwartende Maß hinausgehen, befragt, erklärt das Statistische Bundesamt:

Vorbemerkung: Bei den angeführten Werten handelt es sich nicht um feststehende statistische Ergebnisse, da sich die Befunde auf was-wäre-wenn-Szenarien beziehen, die niemand definitiv ableiten kann. Wir haben in unseren Pressemitteilungen einfache Überschlagsrechnungen zu diesem Thema.

Um die statistischen Unsicherheiten zu verdeutlichen, haben wir für die entsprechenden Befunde dabei mit einer Spannweite gearbeitet, die sich aus der Streuung bzw. dem Durchschnitt der jährlichen Anstiege der Sterbefallzahlen vor der Pandemie ableitet. Demnach haben wir einen Anstieg um ein bis zwei Prozent als üblich erachtet.

Hier nun die konkreten Zahlen der Statistiker, die das Ausmaß der Übersterblichkeit in Deutschland abbilden:

Basierend auf der Sterbefallzahl von 2019 gab es im Jahr 2020 aus dieser Perspektive etwa 27.000 bis 37.000 zusätzliche Sterbefälle. Für das Jahr 2021 dann 46.000 bis 65.000 weitere zusätzliche Sterbefälle.

Vor kurzem konnte Telepolis dann auch die Zahlen für das Jahr 2022 vom Statistischen Bundesamt erhalten: Etwa 69.000 bis 98.000 zusätzlichen Sterbefälle. Dabei unterstreicht das Amt:

Wir haben bewusst davon abgesehen die Werte auf einzelne Jahre aufzuteilen, da die während der Pandemie verschobene Saisonalität (Wellen von Infektionskrankheiten zu unüblichen Zeitpunkten) bei einer Aufteilung auf einzelne Jahre nicht berücksichtigt werden kann.

Jahr Anzahl zusätzlicher Sterbefälle
2020 27.000 – 37.000
2021 46.000 – 65.000
2022 69.000 – 98.000

Diese offiziellen Zahlen sind also sogar höher als die Berechnungen von Kuhbandner und Reitzner. Für das aktuelle Jahr gibt das Statistische Bundesamt jeden Monat die Veränderung des Sterbegeschehens in Deutschland im Vergleich zum mittleren Wert der Vorjahre bekannt, also reine Beobachtungen.

Im Januar liegt eine Steigerung um 13 Prozent vor. Im Februar gar um 25 Prozent. Im März sind es noch acht Prozent. Ab April pendelt sich dann das Ausmaß der Sterblichkeit im Bereich des Erwartbaren ein. (Bei den Zahlen sollte man berücksichtigen, dass das Amt "einen Anstieg um ein bis zwei Prozent als üblich erachtet"). Eine gravierende Übersterblichkeit zeigt sich also in Deutschland bis ins Frühjahr 2023 hinein.

Das zuständige Ministerium

Wie sind die 115.000 – 163.000 Todesfälle der letzten beiden Jahre, die statisch nicht zu erwarten waren, zu erklären? Woran sind sie gestorben?

In der Hoffnung auf Aufklärung einer solch lebenswichtigen Frage wie die offenbar grassierende Übersterblichkeit in Deutschland, bat Telepolis das Bundesgesundheitsministerium um eine Stellungnahme. Sie lautet:

Die Anzahl von Todesfällen in Deutschland im Jahr 2022 liegt insgesamt höher als in den Vorjahren und insbesondere auch höher als im Zeitraum der Jahre 2015 bis 2019. Dafür gibt es mehrere Gründe:

Erstens hat die Corona-Pandemie auch im Jahr 2022 zu zusätzlichen Todesfällen geführt,

Zweitens führte die starke Influenzawelle von Mitte November bis zum Ende des Jahres 2022 ebenfalls zu einer deutlichen Übersterblichkeit und

Drittens altert die Gesellschaft in Deutschland, so dass bei etwa konstanter Gesamtbevölkerung die Altersgruppe der über 80-jährigen einen größeren Anteil einnimmt. Dies führt zu einer steigenden Anzahl von Todesfällen, ohne dass sich die altersspezifische Sterberate ändert.

Weitere erklärende Faktoren zum Ausmaß der erhöhten Sterblichkeit, z.B. warum es im Rahmen der Covid-19-Pandemie zu zusätzlichen Sterbefällen kam, die parallel zu den Coronawellen 2022 auftraten, werden derzeit noch umfangreich untersucht.

Inwiefern das eine zufriedenstellende Antwort auf Fragen ist, die absolut existenzielle Bedeutung hat, soll jede Leserin und jeder Leser selbst entscheiden. Die Frage von Telepolis: "Welche Maßnahmen hat das BMG eingeleitet, um den Gründen für die Übersterblichkeit möglichst umfassend zu ergründen?" blieb unbeantwortet.

Untersuchung jetzt

Die Wissenschaftler Kuhbandner und Reitzner äußern sich vor dem Hintergrund ihrer Studie sehr deutlich zur Notwendigkeit, der Frage auf den Grund zu gehen, weshalb in Deutschland seit zwei Jahren so viele Menschen sterben:

"Am meisten würden wir uns eine – methodisch solide – wissenschaftliche Debatte darüber wünschen, welche Ursachen hinter der beobachteten Übersterblichkeit bis in die jungen Altersgruppen hinein stehen", erklären sie der Berliner Zeitung.

Dabei sollten die Covid-Impfungen als "eine mögliche Ursache unter vielen" weiter betrachtet werden. Sie fragen sich, warum solche Hypothesen "von vielen von vornherein als nicht diskussionsrelevant angesehen werden". Aktuell ergänzen sie ihren Wunsch:

Die Fakten liegen auf dem Tisch, die Ursachen der Übersterblichkeit müssen ermittelt werden. Und dabei müssen alle möglichen Erklärungen wirklich wissenschaftlich valide geprüft werden, anstatt durch das Vorbringen von nicht stichhaltigen Erklärungen von möglichen Erklärungen abzulenken, welche mit unliebsamen Konsequenzen verbunden wären.

Der Philosoph Michael Andrick teilt dieses Anliegen:

Was ist der Inzidenzwert unerwartet gestorbener Menschen, der für SPD, FDP und Grüne überschritten sein muss, damit ein Untersuchungsausschuss einberufen, damit die Ursachen und Verantwortlichkeiten geklärt und dann gesellschaftlich sowie nötigenfalls juristisch aufgearbeitet werden? Hat jemand eine Idee? Irgendjemand?

Etwas weniger emphatisch: Hinter diesen nackten, abstrakten Zahlen verbergen sich verstorbene Menschen in einer Menge, die der Einwohnerschaft von Großstädten entspricht. Wann interessiert sich die Politik dafür?