Übersterblichkeit: Zu viele Menschen sterben und keinen interessiert es
In den letzten beiden Jahren ist eine ausgeprägte Übersterblichkeit festzustellen. Erstaunlicherweise sind die Zehntausende Menschen, die mehr gestorben sind, als erwartet wurde, kaum ein Thema in Medien und Politik.
Der Philosoph Michael Andrick fragte kürzlich in der Berliner Zeitung.
Warum gab es 2020 keine statistisch relevante Übersterblichkeit in Deutschland, obwohl so dramatisch über die Corona-Pandemie berichtet wurde? Warum aber stiegen die Todesfälle hierzulande ab April 2021 über die statistisch zu erwartenden Werte an? Was geschah ab April 2021, das vorher nicht geschah? Hat jemand eine Idee?
Sterbefälle
Für das Jahr 2021 meldet die Tagesschau:
Noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik sind in einem Jahr so viele Menschen gestorben wie 2021. Laut Statistischem Bundesamt waren es rund 1,02 Millionen. Die hohe Zahl ist nur teilweise durch das Coronavirus zu erklären. (…) Rund 31.000 Sterbefälle mehr als 2020.
Für das Jahr 2022 berichtet das Statistische Bundesamt:
Im Jahr 2022 sind in Deutschland nach vorläufigen Ergebnissen einer Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) 1,06 Millionen Menschen gestorben. Die Zahl der Sterbefälle ist im Vergleich zum Vorjahr damit um 3,4 Prozent oder mehr als 35. 000 Fälle gestiegen.
Im aktuellen Jahr sterben fast jeden Monat mehr Menschen als im Jahr 2022. Das Statistische Bundesamt meldet für den Januar Sterbefallzahlen, die um 13 Prozent über dem mittleren Wert der Vorjahre liegt. Für den Februar ist es eine Steigerung von zwei Prozent.
Im März liegen die Sterbefallzahlen acht Prozent höher. Im April sind es dann ein Prozent. Im Mai sterben vier Prozent mehr und im Juni zwei Prozent. Im Juli waren es dann ein Prozent weniger.
Den Zahlen auf den Grund gehen
Übersterblichkeit bezeichnet eine Sterberate, die für den betreffenden Zeitraum höher als erwartet ausgefallen ist. Nicht ganz einfach hierbei ist es, die zu erwartende Anzahl der Sterbefälle zu berechnen.
Laut Statistischem Bundesamt muss man berücksichtigen, dass die Sterberate von der Größe und der Altersstruktur der Bevölkerung beeinflusst wird. Mit anderen Worten: Leben in einer Gesellschaft mehr ältere Menschen, muss man auch mit mehr Sterbefällen rechnen. Mehr Sterbefälle als im Vorjahr bedeutet also nicht automatisch eine Übersterblichkeit.
Zur Berechnung der "durchschnittlich erwartbaren Todesfälle" gibt es unterschiedliche Methoden. Bernhard Gill hat einige auf Telepolis dargestellt.
Für das Jahr 2020 gab es viel Diskussionen, inwiefern eine Übersterblichkeit vorlag. Eine Studie deutet darauf hin, dass es trotz Corona zu keiner oder nur geringen Übersterblichkeit kam. Und der Statistiker Göran Kauermann von der LMU München erklärt:
Wir haben bei der Auswertung der Todeszahlen der Vorjahre im Vergleich zum letzten Jahr gesehen, dass es über das ganze Jahr hinweg betrachtet durchschnittlich in ganz Deutschland kaum eine nennenswerte Übersterblichkeit gab.
Christof Kuhbandner, Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität Regensburg, und Matthias Reitzner, ein Mathematik-Professor aus Osnabrück, haben gemeinsam eine viel besprochene peer-reviewte Studie über die Übersterblichkeit der Jahre 2021 und 2022 in Deutschland geschrieben, in der sie unter anderem versucht haben zu berechnen, wie viele Menschen mehr gestorben sind, als zu erwarten gewesen wäre. Ihr Ergebnis:
Insgesamt liegt die Zahl der überzähligen Todesfälle im Jahr 2021 bei etwa 34.000 und im Jahr 2022 bei etwa 66.000 Todesfällen, was kumuliert 100.000 überzählige Todesfälle in beiden Jahren ergibt.
Es überrascht kaum, dass diese Studie nicht auf viel Gegenliebe gestoßen ist. Wie Telepolis am ARD-Faktenfinder dazu kritisierte, legte der "Check" bei der Beurteilung der Studie ein Framing an.
Eine Studie des japanische Kinderarzts Keiji Hayashi und des deutschen Mathematikers Hagen Scherb untersuchte die Sterblichkeit der letzten Jahre in Deutschland und Japan und kommt ebenso wie Kuhbandner und Reitzner zu dem Ergebnis, dass eine ungewöhnliche Sterblichkeit in den letzten beiden Jahren zu beobachten ist.
Besonders das vergangene Jahr sticht in der Statistik im asiatischen Land heraus:
Im Jahr 2022 ist die Sterblichkeitsrate jedoch mit 8,37 Prozent extrem erhöht, was mehr als das Doppelte der durchschnittlichen Überschreitung in den Erdbeben- und Tsunami-Jahren in Japan ist. Dieser Effekt in Japan im Jahr 2022 bedarf einer gründlichen Untersuchung und Klärung.
Auch Günter Eder erkennt eine auffallende Übersterblichkeit und schreibt auf Telepolis:
Im Jahr 2021 steigt die Übersterblichkeit auf 5,77 Prozent an und im Jahr 2022 dann sogar auf einen absoluten Rekordwert von 8,65 Prozent. Ob es eine derart hohe Übersterblichkeit wie 2022 in der Bundesrepublik/DDR schon einmal gegeben hat, ist sehr fraglich und eher unwahrscheinlich.
Vergleicht man die Coronasterbezahlen mit den Übersterblichkeitswerten, so zeigt sich, dass Letztere in den Jahren 2020 und 2021 niedriger ausfallen, als man nach der Zahl der Coronatoten erwarten würde. Die Übersterblichkeit macht lediglich 68 Prozent bzw. 78 Prozent der Coronatoten aus.
Im Jahr 2022 kehrt sich die Situation dann um, und das in dramatischer Weise. Jetzt ist die Übersterblichkeit plötzlich fast doppelt so hoch wie die Zahl der Coronatoten: einer Übersterblichkeit von 84.580 Verstorbenen stehen "lediglich" 46.426 Coronatote gegenüber.
Christof Kuhbandner und Matthias Reitzner steuern in ihrer Entgegnung auf eine Kritik aus der Rheinischen Post einen neuralgischen Punkt an.
Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Beginn der Impfungen und dem Anstieg der Übersterblichkeit (ist) ein empirischer Fakt, den man nicht wegdiskutieren kann. Wie diese Fakten aber hinsichtlich der möglichen Gründe für die Übersterblichkeit zu interpretieren sind, ist wissenschaftlich bisher nicht geklärt. Hier liefert unsere Studie empirische Anhaltspunkte, aber keine Fakten.
Den beiden fällt dabei besonders auf:
Im April 2021 – mit dem Beginn der Impfkampagne – tritt eine frappierende Änderung des Übersterblichkeitsmusters auf. Anders als zuvor zeigt sich plötzlich eine Übersterblichkeit bis in die jüngsten Altersgruppen hinein, welche bis Ende 2022 zunehmend stärker wird.
Zeit für Nachfragen
Elke Bodderas schreibt in der Welt:
Sorgt sich wirklich niemand im RKI, wenn deutsche Intensivstationen im Dezember plötzlich 76 Prozent mehr Embolie-Hirninfarkte melden, wie Krankenhausdaten des Abrechnungsportals Inek zeigen? Oder warum es auch in Japan, von Drosten als "vorbildlich" gelobt, 2022 zu einer ungeheuerlich hohen Übersterblichkeit kam, mehr als doppelt so viel wie im Tsunamijahr 2011?
Eine Anfrage von Telepolis an das RKI, von welcher Übersterblichkeit in Deutschland man dort ausgeht und wodurch diese zu erklären sei, lautete die knappe Antwort:
Bitte wenden Sie sich ans Statistische Bundesamt, dort wird die Übersterblichkeit und ihre Ursachen erfasst und ausgewertet, das Statistische Bundesamt veröffentlicht regelmäßig Auswertungen.
Kein Hinweis auf irgendeine Untersuchung.
Gesagt, getan. Auf eine Anfrage von Telepolis schreibt das Statistische Bundesamt:
Wir nutzen das Konzept der Übersterblichkeit zur Einordnung der Entwicklungen im Saisonverlauf. Für ganze Kalenderjahre beziehen wir uns auf Maßzahlen wie die Lebenserwartung bei Geburt auf Basis von Sterbetafeln oder auf (altersstandardisierte) Sterbeziffern, die auf Basis endgültiger Sterbe- und Bevölkerungszahlen nach einzelnen Altersjahren berechnet werden können, sobald diese vorliegen.
Konkret nach der Anzahl zusätzlicher Todesfälle, die über das statisch zu erwartende Maß hinausgehen, befragt, erklärt das Statistische Bundesamt:
Vorbemerkung: Bei den angeführten Werten handelt es sich nicht um feststehende statistische Ergebnisse, da sich die Befunde auf was-wäre-wenn-Szenarien beziehen, die niemand definitiv ableiten kann. Wir haben in unseren Pressemitteilungen einfache Überschlagsrechnungen zu diesem Thema.
Um die statistischen Unsicherheiten zu verdeutlichen, haben wir für die entsprechenden Befunde dabei mit einer Spannweite gearbeitet, die sich aus der Streuung bzw. dem Durchschnitt der jährlichen Anstiege der Sterbefallzahlen vor der Pandemie ableitet. Demnach haben wir einen Anstieg um ein bis zwei Prozent als üblich erachtet.
Hier nun die konkreten Zahlen der Statistiker, die das Ausmaß der Übersterblichkeit in Deutschland abbilden:
Basierend auf der Sterbefallzahl von 2019 gab es im Jahr 2020 aus dieser Perspektive etwa 27.000 bis 37.000 zusätzliche Sterbefälle. Für das Jahr 2021 dann 46.000 bis 65.000 weitere zusätzliche Sterbefälle.
Vor kurzem konnte Telepolis dann auch die Zahlen für das Jahr 2022 vom Statistischen Bundesamt erhalten: Etwa 69.000 bis 98.000 zusätzlichen Sterbefälle. Dabei unterstreicht das Amt:
Wir haben bewusst davon abgesehen die Werte auf einzelne Jahre aufzuteilen, da die während der Pandemie verschobene Saisonalität (Wellen von Infektionskrankheiten zu unüblichen Zeitpunkten) bei einer Aufteilung auf einzelne Jahre nicht berücksichtigt werden kann.
Jahr | Anzahl zusätzlicher Sterbefälle |
2020 | 27.000 – 37.000 |
2021 | 46.000 – 65.000 |
2022 | 69.000 – 98.000 |
Diese offiziellen Zahlen sind also sogar höher als die Berechnungen von Kuhbandner und Reitzner. Für das aktuelle Jahr gibt das Statistische Bundesamt jeden Monat die Veränderung des Sterbegeschehens in Deutschland im Vergleich zum mittleren Wert der Vorjahre bekannt, also reine Beobachtungen.
Im Januar liegt eine Steigerung um 13 Prozent vor. Im Februar gar um 25 Prozent. Im März sind es noch acht Prozent. Ab April pendelt sich dann das Ausmaß der Sterblichkeit im Bereich des Erwartbaren ein. (Bei den Zahlen sollte man berücksichtigen, dass das Amt "einen Anstieg um ein bis zwei Prozent als üblich erachtet"). Eine gravierende Übersterblichkeit zeigt sich also in Deutschland bis ins Frühjahr 2023 hinein.
Das zuständige Ministerium
Wie sind die 115.000 – 163.000 Todesfälle der letzten beiden Jahre, die statisch nicht zu erwarten waren, zu erklären? Woran sind sie gestorben?
In der Hoffnung auf Aufklärung einer solch lebenswichtigen Frage wie die offenbar grassierende Übersterblichkeit in Deutschland, bat Telepolis das Bundesgesundheitsministerium um eine Stellungnahme. Sie lautet:
Die Anzahl von Todesfällen in Deutschland im Jahr 2022 liegt insgesamt höher als in den Vorjahren und insbesondere auch höher als im Zeitraum der Jahre 2015 bis 2019. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Erstens hat die Corona-Pandemie auch im Jahr 2022 zu zusätzlichen Todesfällen geführt,
Zweitens führte die starke Influenzawelle von Mitte November bis zum Ende des Jahres 2022 ebenfalls zu einer deutlichen Übersterblichkeit und
Drittens altert die Gesellschaft in Deutschland, so dass bei etwa konstanter Gesamtbevölkerung die Altersgruppe der über 80-jährigen einen größeren Anteil einnimmt. Dies führt zu einer steigenden Anzahl von Todesfällen, ohne dass sich die altersspezifische Sterberate ändert.
Weitere erklärende Faktoren zum Ausmaß der erhöhten Sterblichkeit, z.B. warum es im Rahmen der Covid-19-Pandemie zu zusätzlichen Sterbefällen kam, die parallel zu den Coronawellen 2022 auftraten, werden derzeit noch umfangreich untersucht.
Inwiefern das eine zufriedenstellende Antwort auf Fragen ist, die absolut existenzielle Bedeutung hat, soll jede Leserin und jeder Leser selbst entscheiden. Die Frage von Telepolis: "Welche Maßnahmen hat das BMG eingeleitet, um den Gründen für die Übersterblichkeit möglichst umfassend zu ergründen?" blieb unbeantwortet.
Untersuchung jetzt
Die Wissenschaftler Kuhbandner und Reitzner äußern sich vor dem Hintergrund ihrer Studie sehr deutlich zur Notwendigkeit, der Frage auf den Grund zu gehen, weshalb in Deutschland seit zwei Jahren so viele Menschen sterben:
"Am meisten würden wir uns eine – methodisch solide – wissenschaftliche Debatte darüber wünschen, welche Ursachen hinter der beobachteten Übersterblichkeit bis in die jungen Altersgruppen hinein stehen", erklären sie der Berliner Zeitung.
Dabei sollten die Covid-Impfungen als "eine mögliche Ursache unter vielen" weiter betrachtet werden. Sie fragen sich, warum solche Hypothesen "von vielen von vornherein als nicht diskussionsrelevant angesehen werden". Aktuell ergänzen sie ihren Wunsch:
Die Fakten liegen auf dem Tisch, die Ursachen der Übersterblichkeit müssen ermittelt werden. Und dabei müssen alle möglichen Erklärungen wirklich wissenschaftlich valide geprüft werden, anstatt durch das Vorbringen von nicht stichhaltigen Erklärungen von möglichen Erklärungen abzulenken, welche mit unliebsamen Konsequenzen verbunden wären.
Der Philosoph Michael Andrick teilt dieses Anliegen:
Was ist der Inzidenzwert unerwartet gestorbener Menschen, der für SPD, FDP und Grüne überschritten sein muss, damit ein Untersuchungsausschuss einberufen, damit die Ursachen und Verantwortlichkeiten geklärt und dann gesellschaftlich sowie nötigenfalls juristisch aufgearbeitet werden? Hat jemand eine Idee? Irgendjemand?
Etwas weniger emphatisch: Hinter diesen nackten, abstrakten Zahlen verbergen sich verstorbene Menschen in einer Menge, die der Einwohnerschaft von Großstädten entspricht. Wann interessiert sich die Politik dafür?