"Übertriebener" Nationalismus oder "gesunder" Patriotismus?

Die Identifikation mit dem nationalen Fußballzirkus - Ein Kommentar

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Fußball kann ein unglaublich spannendes, ja aufregendes, weil ebenso taktisches wie unberechenbares Spiel sein, wie die Halbfinal- und Finalspiele der UEFA Europe bzw. Champions League wieder gezeigt haben. Der beliebte Ballsport hat sich inzwischen zum ersten planetarischen Massensport, zur permanenten Bühne globaler Medienereignisse und transnationalen Sphäre lukrativer Vermarktungsaktivitäten entwickelt.

Das ist die eine Seite.

Zugleich beherrschen ziemlich unangenehme Aspekte des beliebten Sports ebenso mit schöner Regelmäßigkeit die medialen Schlagzeilen: Von den trostlosen Machenschaften der Fußballverbände, die die rücksichtslose globale Vermarktung der omnipräsenten Massenveranstaltungen, notfalls gegen alle sportbezogene Zweckmäßigkeit, zu ihrer Bereicherungsquelle, manchmal auch nur ihrer Funktionäre, vorantreiben, über den generellen Ausbau der Balltreterei zur lukrativen und prestigeträchtigen Anlagesphäre für steinreiche Finanzoligarchen oder Investorenkonsortien bis zur gewaltbereiten Identifikation der Fans im Publikum mit "ihrem" Verein oder gar der jeweiligen politischen Gebietskörperschaft, für die "ihre" Mannschaft antritt, reichen die mehr oder weniger skandalträchtigen Themen rund um das Fußballspielen und dessen "Auswüchse".

Patriotismus und Nationalismus im Fußball: Vom Freizeitvergnügen zum ideellen Trost

Vor allem die Identifikation mit der Mannschaft und der Region oder Nation, für die sie steht, gilt inzwischen als das Allernormalste von der Welt. Getreu dem Motto "Wenn alle Experten sich einig sind, ist Vorsicht geboten" (Bertrand Russell) ist dieser Aspekt daher eine genauere Betrachtung wert.

Gerne wird in den Medien zwischen einem "gesunden", im Falle Deutschlands ja geradezu "zarten" Patriotismus einerseits und einem "übersteigerten" Nationalismus andererseits unterschieden - so sei z.B. bei der völkischen Rechten eher letzterer am Werke. Das häufige Insistieren gewisser Politiker auf der grundsätzlich denkbaren Anschlussfähigkeit der dort vertretenen Positionen - "man muss die berechtigten Sorgen der Bürger ernst nehmen" - verweist allerdings darauf, dass die bezeichnete Unterscheidung ihre Tücken hat. Gerade beim deutschen Fußball-Patriotismus wird die Problematik besonders deutlich.

Gemeinhin wird das deutsche "Fußballmärchen" 2006 und die damit verbundene Fahnenschwenkerei und nationale Begeisterung als "Geburtsstunde" eines neuen, ungeheuer "entspannten" deutschen Patriotismus gesehen: Endlich wurden "wir" lockerer und konnten seither mit dem Stolz auf die Nation genauso lässig umgehen wie "unsere" Nachbarn. Die permanenten Auseinandersetzungen mit rassistischen Fans, fanatischen Lokal- oder Nationalpatrioten bis zu Hooligans der gewalttätigen Sorte gelten wie überall sonst auch als unschöne Entgleisungen radikaler Minderheiten, denen man mit konsequenten Polizeieinsätzen zu begegnen hat.

Ist das eine vernünftige Position, die der Realität nationaler Begeisterung gerecht wird? Zu denken geben könnte z.B. folgende Schilderung der nationalen Enttäuschung in Brasilien, als die deutsche Mannschaft bei der letzten WM 2014 das Gastgeberland mit überraschenden 7:1 besiegt hatte:

Wann sind wir Brasilianer je so vorgeführt worden", grübelt ein Brasilien-Fan in Rios Nobelviertel Leblon. Über sein gelbes Brasilien-Trikot hat er nach dem WM-Debakel gegen Deutschland einen schwarzen Pulli gezogen. "Was sind wir jetzt noch, wenn wir nicht mehr das Land des Fußballs sind? Wir sind gerade überfahren worden." Auf dem TV-Bildschirm reicht der Platz für die Torschützen schon nicht mehr aus. "7:1. Das ist einfach unbegreiflich", sagt ein anderer. "Das sind nicht wir, wir können doch sonst Fußballspielen", sagt eine 54-Jährige, ihr Brasilien-T-Shirt ist zerknittert, in der Anspannung hat sie die Arme ganz eng vor der Brust gekreuzt.

Verzweiflung, Trauer, Wut und Scham im Land des Fußballs. In vielen Städten Brasiliens kam es nach dem Spiel zu Randale: In Rio musste die Polizei beim Fanfest an der Copacabana eine Massenschlägerei auflösen, frustrierte Fußball-Fans zündeten in São Paulo 15 Busse an, auch in Curitiba wurden Busse demoliert. In Belo Horizonte gab es Prügeleien im Stadion und Kneipen, Schlägereien wurden auch aus Recife und Salvador gemeldet.

Der Spiegel

Szenenwechsel zur Europameisterschaft 2016 nach Frankreich. Das Entsetzen über die Brutalität der russischen und englischen Fußballfans während der EM 2016 war groß. Russische Fans traten auf dem Boden liegenden englischen Fans gegen Leib und Kopf, bis diese sich nicht mehr rührten. Stühle flogen gegen die Anhänger der jeweils anderen Nationalmannschaft, die sich ihre Feindschaft allein durch ihre Nationalität verdient hatte. Die mediale Öffentlichkeit wandte sich mit Grausen ab und beteuerte zugleich, dass dies mit Fußball und gesundem Patriotismus nichts zu tun habe.

Umgekehrt die irischen Fans: Sie feierten zwar begeistert "ihre" Mannschaft, fielen aber durch ihre gute Laune und augenzwinkernde Performance auf: So sangen die Iren in der Metro die Marseillaise; sie stimmten beim Spiel Irlands gegen Schweden zusammen mit den Schweden ABBA-Songs an und intonierten ironische Lieder an die schwedische Adresse wie "Go home to your sexy wives".

Was ist davon zu halten? Wo liegt der Unterschied? Gibt es überhaupt einen? Wenn ja: Welchen?

Nichts spricht per se dagegen, der Mannschaft der "eigenen" Region bzw. des "eigenen" Landes - und das ist immer die Gegend/das Land, in die/das man zufällig hineingeboren wurde bzw. in dem die eigene Sippschaft irgendwann und irgendwie gelandet bis gestrandet ist - die Daumen zu drücken und mitzufiebern. Es handelt sich schließlich um ein Spiel, einen spielerischen Wettbewerb von zwei Gruppen, die wie zu allen Zeiten ihre jeweiligen Anhänger haben.

Nationalistisch aufgeladen wird das Ganze dann, wenn die Grenzen zwischen den Spielern - hochbezahlte Profis aus der Welt der Sportverbände und Fußballoligarchen - und dem eigenen Leben über das "Wir" komplett eingerissen werden: "Was sind wir jetzt noch, wenn wir nicht mehr das Land des Fußballs sind?" Mal ganz davon abgesehen, dass ein verlorenes Spiel nicht der Niedergang des brasilianischen Fußballs und ein frühes Ausscheiden aus der EM 2016 nicht das Ende englischer Fußball-Kunst sein muss, wie die Dominanz der englischen Vereine in den Europe und Champions League-Spielen 2019 gerade eindrucksvoll gezeigt hat.

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Mit Sorgen dieser Art sollten sich weder ein "Normalbürger" in Brasilien, der kaum über die Runden kommt, noch ein englischer Underdog, der sein Leben in den Vorstadtslums mehr schlecht als recht fristet, beschäftigen - zumindest nicht so: Wenn die Mannschaft seines Landes gut Fußball spielen kann, mag ihm das einen gewissen Freizeitspaß bereiten, hilft ihm jedoch bei seinen alltäglichen Sorgen praktisch gar nichts, sondern stellt bestenfalls einen ideellen Trost dar.

Wenn dieser Wunsch nach Trost und Ablenkung dann sogar verhindert, dass er, besoffen von seiner nationalen Begeisterung, der Regierung Dampf macht, ist die Regierung heilfroh - denn er lässt sich auf ein falsches Gleis führen: Das ist dann klassisches "Opium des Volkes". Über das Scharnier der "Nation", des alle Klassen, Schichten und Lebenslagen umfassenden nationalen "Wir", wissen sich alle mit "ihrem" Staat in einem Boot, auch wenn dieser Verhältnisse betreut und absichert, die vielen das Leben, mancherorts gar das Überleben schwer machen.

In dieser Funktion hat der moderne Nationalismus zumindest in unseren Breitengraden die Religion längst abgelöst.

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