zurück zum Artikel

Ukraine: Frieden über einen Pyrrhus-Sieg?

Wer in Deutschland derzeit für eine politische Lösung des Krieges in der Ukraine eintritt, sieht sich rasch harscher Kritik ausgesetzt. Das ist keinesfalls neu. Ein Kommentar mit Blick auf andere Debatten und Zeiten

Wer heute für Diplomatie und Frieden demonstriert, wer auch jetzt noch dabei bleibt, die Nato zu kritisieren, gilt schnell als Unterstützer Russlands, als Kreml-Propagandist [1] und als mitschuldig an Leid und Tod. Der Aggressor, so heißt es dann, könne schließlich nur mit Waffen in die Schranken gewiesen werden.

Der Pazifismus wird als Phänomen behandelt, das vielleicht eine an sich schöne Idee sei, aber eben aus der Zeit gefallen [2], wie es Kanzler Olaf Scholz Anfang Mai in der Wochenzeitung Die Zeit formulierte.

Die Forderung nach schweren Waffen für die Armee der Ukraine verbindet der Präsident der Ukraine, Wladimir Selenskyj, entsprechend mit der Verweigerung von Verhandlungen über eine Beendigung der Kampfhandlungen, solange die Ukraine das nicht aus einer Position der militärischen Stärke tun kann [3]. Ein Siegfrieden wäre allerdings ein Pyrrhus-Sieg, der den Keim weiterer und durchaus heftigerer Nachfolgekonflikte und Kriege in sich trägt – und er wäre mit einer Eskalation, auch der Opferzahlen, verbunden.

Die Forderungen der Friedensbewegung, auf Diplomatie statt Krieg zu setzen, haben die Erkenntnis zur Basis, dass Kriege nicht im Frieden enden. Ein Siegfrieden ist ein Pyrrhus-Sieg, da er den Konflikt weiter schwelen lässt, ehe er erneut entbrennt. Nur eine beidseitig ausgehandelte Lösung, wie sie auch Uno-Generalsekretär António Guterres fordert [4], kann zu einer nachhaltigen Befriedung von Spannungen führen.

Hubert Kleinert, ein Urgestein der BündnisGrünen stellte dem diplomatisch ausgerichteten Konzept am 10. Juni 2022 in der Süddeutschen Zeitung einen gegen den Pazifismus gerichteten Text [5] entgegen. Seine Betrachtung mündet in den Schlusssätzen:

Der Pazifismus gehört zu den Traditionen der Grünen. Aber manchmal hilft er eben nicht weiter.

Damit reiht auch er sich in den Mainstream der Medien des transatlantischen Raumes ein, und er unterstützt damit zugleich die Position der bündnisgrünen und Ampel-Spitzenpolitiker wie Robert Habeck, der beispielsweise anlässlich der Ostermärsche für den Frieden den Pazifismus als fernen Traum [6] ins Reich der Illusion verwies.

Robert Habeck war dabei noch einen Schritt weiter gegangen und verlangte von der Friedensbewegung, eine Bewegung für die Bewaffnung der ukrainischen Armee und ihrer paramilitärischen, mitunter ultrarechten Kämpfer [7] zu werden sowie dem Kriegswaffenexport in ein Kriegsgebiet zuzustimmen, obwohl das dem Kriegswaffenkontrollgesetz widerspricht und einem erneuten Dammbruch der Militarisierung der Innen- und Außenpolitik gleichkommt.

Denjenigen, die am Pazifismus festhalten, unterstellte Robert Habeck, sie nähmen durch Zuschauen große Schuld auf sich. Er – wie alle anderen Befürworter der Nato-affinen Kräfte – ignoriert die nukleare Gefahr für die europäische Zivilisation, die bereits unterhalb der ebenfalls von den Militärs aller Seiten in Kauf genommenen Schwelle des Atomkrieges unkalkulierbar und deshalb auch im Sinne der Bevölkerung in der Ukraine sowie in Russland nicht zu verantworten ist.

Die Rolle der Großmachtkonkurrenz

Er erfüllt damit allerhöchstens die Interessen der USA, denen es im Rahmen der Großmachtkonkurrenz um die globale Vormacht geht, wie es der 2017 verstorbene US-Stratege Zbigniew Brzeziński in seinem Buch Die einzige Weltmacht vor einem Vierteljahrhundert darlegte.

Hubert Kleinert wendet den Tunnelblick auf die unmittelbare Situation von Angriff und Verteidigung an, ohne auf die Einbettung des Krieges und seiner konfliktreichen Vorgeschichte in das globale Weltgeschehen einzugehen:

…dem Opfer muss man helfen, weil die brutale Logik der Gewalt sich nicht durchsetzen darf und es sonst womöglich bald weitere Opfer eben wird. … Die Grünen haben lange gebraucht, um zu begreifen, dass es mit dem Ende des Kalten Krieges nicht den immerwährenden Frieden gibt.

Zur Vorgeschichte gehört vor allem die Nato-Osterweiterung, vor der viele renommierte Strategen aus Nato-Staaten seit ihrem Beginn gewarnt hatten, so etwa George F. Kennan, der am 5. Februar 1997 in der New York Times einen Text dazu unter dem Titel "Ein schicksalhafter Irrtum" – "A Fateful Error [8]" – veröffentlichte.

Hubert Kleinert stellt demgegenüber den Pazifismus als Träumerei dar, dessen Anhänger sich nach 1990 der Illusion hingegeben hätten, nun käme es zu einem "immerwährenden Frieden".

Mit diesem Zerrbild erweckt er zwischen den Zeilen den Eindruck, Pazifisten und damit die Friedensbewegung seien durch ihre Realitätsverweigerung und Beschwichtigung der Öffentlichkeit in der heutigen von Militarisierung geprägten Welt fahrlässig und damit gefährlich, da sie der Gewalt nichts entgegensetzen, statt mit Härte – und nur das sei zu verantworten – dagegenzuhalten. Sein Parteikollege Winfried Kretschmann greift Pazifisten direkter an [9] und spricht von der "die verlogene(n) Seite des Pazifismus".

Diese Angriffe ermöglichen es Spitzenkräften ihrer einst aus der Friedensbewegung entstandenen Partei, nun unter Verweis auf den Ukraine-Krieg auch noch die atomaren Arsenale als Bestandteil der Strategie [10] von Bundeswehr und Nato zu unterstützen, wie das Joschka Fischer [11] und die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung [12] (HBS) bereits im 2020 taten. Die HBS empfahl:

Die Grünen sollten im Hinblick auf die nukleare Abschreckung fordern, dass sich Frankreich und Großbritannien explizit zur erweiterten Abschreckung bekennen, … ein Beharren auf atomarer Abrüstung in Frankreich und Großbritannien … wäre verfrüht und kontraproduktiv.

Die nukleare Gefahr spielt im aktuellen Diskurs über die Frage der Lieferung auch schwerer Waffen an die Ukraine keine Rolle, obwohl diese Eskalationsgefahr den Konflikt mit der Atommacht Russland auf eine vielfältige Weise begleitet. Es geht hier nicht alleine um die Gefahr, die von einem Nuklearkrieg ausgeht, sondern auch um die Gefahren, die von Atomkraftwerken im Krieg ausgehen.

In der Ukraine sind 15 Reaktoren am Netz. Wenn einer davon kriegsbedingt nicht mehr gekühlt wird oder durch Zerstörung des Reaktorschutzes havariert, mutiert die Anlage zur Atombombe. Dieses unkalkulierbare Risiko gehen die ein, die schwere Waffen in dieses besonders stark nuklearisierte Land liefern.

Wie beeinflusst die Nato die öffentliche Meinung?

Infratest berichtete in den letzten Tagen, dass die Unterstützung für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine bei deutlich mehr als der Hälfte der im Deutschlandtrend [13] Befragten liegt, wobei die Unterstützung auf Seiten der Bündnisgrünen am deutlichsten ausfiel.

Die Frage ist, wie es zu einem solchen Umschwung der Meinung kommt. Kaum beachtet ist, dass auf Nato-Seite Profis am Werk sind, etwa das Nato Strategic Communications Centre [14] in Riga, das die öffentliche Meinungsbildung durch Informationen im Sinne der Nato beeinflusst.

Beeinflussung mit manipulativem Charakter im Sinn der Unterstützung der Nato-Strategie erfolgt auch ohne direkte Einflussnahme von außen in den Redaktionen einiger Leitmedien zum Beispiel über die Auswahl der Bilder und Informationen zum Kriegsgeschehen.

So kommen in den Nachrichten seit Ende Februar kaum mehr Bilder von Opfern anderer Kriege als dem in der Ukraine vor; die Inhalte der Berichterstattung sind ebenfalls so einseitig, als gäbe es die anderen Kriege weltweit nicht mehr. Dies geschieht, obwohl etwa der Jemen-Krieg von der Uno als die Menschenrechts-Katastrophe unserer Zeit [15] bewertet worden ist.

Das Ausmaß der manipulativ wirkenden Desinformation im medialen Mainstream wird auch sichtbar, wenn etwa das Hamburger Institut für Kriegsursachenforschung [16] neben dem Ukraine-Krieg über 20 Kriege weltweit auflistet.

Die exklusive Fokussierung des Nachrichten-Managements führt unter anderem dazu, dass immer mehr Gespräche an Informationsständen der Friedensbewegung offenbaren, wie fundamental Menschen, die früher für Frieden ohne Waffen eingetreten sind, nun verunsichert sind und sich von ihrer Grundüberzeugung unter Verweis auf Wladimir Putin verabschieden und für die Lieferung auch schwerer Waffen an die ukrainische Armee eintreten.

Es kommt auch vermehrt zu Angriffen gegen Friedensaktivisten [17], die etwa als Putin-Versteher oder gar als fünfte Kolonne des Kreml [18] oder auch als gefährliche Träumer von einer Welt, die es nicht gibt, herabgewürdigt und beschimpft werden.

Wenn Ampel-Politiker wie Alexander Graf Lambsdorff d [19]er Friedensbewegung vorwerfen, sie spucke den ukrainischen Opfern des Krieges ins Gesicht, dann droht der nächste Eskalationsschritt, den die deutsche Geschichte kennt, der über die Verunglimpfung von Friedensaktivisten zu Verboten ihrer Aktivitäten reicht.

Angriffe dieser Art hat es immer wieder in der Geschichte gegeben. Erhard Eppler erklärte in der ersten der großen Hunderttausender-Friedensdemonstrationen im Bonn der 1980er-Jahre1 [20]:

Wir haben keine Angst vor moralischer Abqualifizierung … Wir haben keine Angst davor, als Kommunistenknechte abqualifiziert zu werden. Das ist Gustav Heinemann nicht anders gegangen. Wir haben keine Angst vor dem Verfassungsschutz…

Aktion Sühnezeichen

Neu ist, dass derartige Angriffe auch aus Spektren erfolgen, die einst selbst ihren Beitrag zur Friedensbewegung geleistet haben.

Diese Angriffe auf die Forderung nach Diplomatie statt immer weiterer militärischer Eskalation übergehen auch, dass die Ukraine infolge der Waffenlieferungen erst dann wieder auf Verhandlungen setzt, wenn die militärische Lage einen Sieg ihrer Seite bedeutet [21]:

Kiew will erst bei eigenen militärischen Erfolgen wieder mit Moskau sprechen. Die Hoffnungen ruhen dabei auf neuen Lieferungen der Verbündeten.

ntv [22]

Rückeroberung der Krim?

Wer auf eine solche Strategie setzt, der übergeht die Gefahren auch eines nuklearen Infernos, vor dem die Internationale Atomenergiebehörde IAEA seit Kriegsbeginn warnt [23].

Und er setzt mit dem Bild des Opfers auch auf eine Vermehrung von Leid und Tod, denn die Rückeroberung der Krim mit ihrer russischsprachigen Bevölkerung wäre blutig.

Waffenlieferungen, die ein Risiko heraufbeschwören, das dem Ziel des Friedens die Basis entziehen kann, sind unverantwortlich, sie stellen sogar ein Verbrechen, einen Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907 dar – Zitat [24]: "Die Kriegführenden haben kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes."

Die "meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen Volkes oder Heeres" ist verboten. Das umfasst auch das Inkaufnehmen eines nuklearen Infernos, für das es 1907 noch keine Vorstellung gegeben hatte.

Die weltweit mehrere Hundert Atomreaktoren alleine, zusätzlich die Chemieanlagen in allen Erdteilen, sowie das Erfordernis, Klimaschutz zu betreiben und Verbrennungsabgase sowie Ressourcenvernichtung zu vermeiden, führen zum Gebot der Gegenwart, im Sinne des Überlebens der Zukunftsgefährdungen, eine Friedenspolitik mit Abrüstung und einer weltweiten Kooperation zu betreiben. Dazu sagte der damalige Generalsekretär Sithu U Thant im Jahr 1969 [25]:

Nach den Informationen, die mir zugehen, bleibt den Mitgliedsstaaten der Uno nicht mehr viel Zeit, um … eine weltweite Zusammenarbeit zu beginnen, um das Wettrüsten [26] zu stoppen, den menschlichen Lebensraum zu verbessern, …. Wenn eine solche weltweite Partnerschaft innerhalb der nächsten zehn Jahre nicht zustande kommt, so werden, fürchte ich, die erwähnten Probleme derartige Ausmaße erreicht haben, daß ihre Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt.

Quintessenz: Es gibt keine Alternative zu einer friedensökologischen Politik der Kooperation statt der Rivalität, die der Menschheit die Kraft zum Überleben nimmt, wenn die Generationen unserer Epoche sie nicht überwinden.

Das beginnt da, wo die Schwarz-weiß-Propaganda der Gut-Böse-Zerrbilder ersetzt wird durch unvoreingenommene Kommunikation, durch die Einhaltung der Uno-Charta aller Staaten in einer Welt-Friedensordnung, die die Sicherheitsinteressen "eines jeden" berücksichtigt, wie es im Zwei-plus-Vier-Vertrag [27] über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges und den damals beiden deutschen Staaten vereinbart worden war.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7140475

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.rnd.de/politik/anti-nato-kongress-in-berlin-unmut-ueber-die-putinversteher-6K3AMOWKTJAC3MGHPZ6CHOOZYI.html
[2] https://www.zeit.de/news/2022-05/01/scholz-radikaler-pazifismus-aus-der-zeit-gefallen
[3] https://www.n-tv.de/politik/Ukraine-will-erst-bei-Erfolgen-verhandeln-article23378169.html
[4] https://www.rnd.de/politik/krieg-in-der-ukraine-un-generalsekretaer-guterres-fordert-ende-der-gewalt-CMC6WIKXXIKRUUYWDCWYTCTA5A.html
[5] https://www.sueddeutsche.de/kultur/gastbeitrag-hubert-kleinert-gruene-ukraine-pazifismus-1.5600026?reduced=true
[6] https://www.tagesschau.de/inland/habeck-ostermaersche-ukraine-krieg-101.html
[7] https://krone.at2633372/
[8] https://www.netwargamingitalia.net/forum/resources/george-f-kennan-a-fateful-error.35/
[9] https://www.n-tv.de/politik/Da-zeigte-sich-die-verlogene-Seite-des-Pazifismus-article23316568.html
[10] https://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland-und-die-bombe-wenn-sogar-gruene-neue-atomraketen-fordern/28414944.html
[11] https://taz.de/Die-Gruenen-und-die-Bomben/!5731186/
[12] https://www.boell.org/sites/default/files/2021-05/FNS_3_Die_Zukunft_europ%C3%A4ischer_Sicherheit_V2.pdf
[13] https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/gut-die-haelfte-spricht-sich-fuer-lieferung-von-schweren-waffen-an-die-ukraine-aus/
[14] https://stratcomcoe.org/news/rigastratcom-dialogue-2022-is-set-to-take-place-on-25-26-may/147
[15] https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/jemen
[16] https://www.weser-kurier.de/politik/ausland/kriege-auf-der-welt-in-diesen-laendern-wird-aktuell-gekaempft-doc7k1q1me4349tvpnpdwg
[17] https://www.tagesspiegel.de/politik/propagieren-sichtweise-des-kremls-wo-war-die-friedensbewegung-vor-putins-kriegserklaerung/28092250.html
[18] https://www.merkur.de/politik/ukraine-krieg-ostermaersche-deutschland-putin-demonstration-waffen-pazifismus-fdp-91478144.html
[19] https://www.fr.de/politik/ostermaersche-ukraine-krieg-wladimir-putin-lambsdorff-kritik-krieg-konflikt-news-zr-91480623.html
[20] https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Frieden-ueber-einen-Pyrrhus-Sieg-7140475.html?view=fussnoten#f_1
[21] https://www.n-tv.de/politik/Ukraine-will-erst-bei-Erfolgen-verhandeln-article23378169.html
[22] https://www.n-tv.de/politik/Ukraine-will-erst-bei-Erfolgen-verhandeln-article23378169.html
[23] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-oesterreich-iaea-101.html
[24] https://rechtssachverstaendiger.de/die-haager-landkriegsordnung-und-die-gueltigkeit-bis-heute/
[25] https://www.1000dokumente.de/index.html/dokumente/thumbs/index.html?c=dokument_de&dokument=0073_gwa&object=translation
[26] https://de.wikipedia.org/wiki/Wettr%C3%BCsten
[27] https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/zwei-plus-vier-vertrag/44112/praeambel/