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Ukraine-Krieg: Die ukrainische Verteidigung unter Druck

Lars Lange

Vieles kommt auf die Kämpfe um Awdijiwka an. Dort findet der Hauptstoß der russischen Offensive statt. Einwurf in die Debatte über Aussichten auf einen militärischen Erfolg der Ukraine.

Sie war die größte ihrer Art der Ukraine und unter den fünf größten Kokereien Europas zu finden: die Kokerei Avdiivka (AKHZ). Zwei Kilometer Ausdehnung von Norden nach Süden und gut ein Kilometer von Westen nach Osten – die AKHZ ist ein Industriekoloss.

Früher arbeiteten hier 4.000 Menschen, die Kokerei war ein wichtiger Zulieferer der ukrainischen Stahlindustrie, lieferte Koks zum Beispiel an das Azov-Stahlwerk in Mariopol, an ArcelorMittal Kryvyi Rih oder ans Eisen- und Stahlwerk Yenakiieve.

Jetzt ist die AKHZ das letzte Bollwerk der ukrainischen Streitkräfte, das noch den Fall der Festung Awdijiwka verhindern kann. Der Industrieriese ist der Eckpfeiler der bedrohten Stadt, massiv befestigt, untertunnelt, gespickt mit Bunkern.

Fällt die AKHZ, fällt Awdijiwka. Denn nur 200 Meter südlich der Kokerei verlässt die einzige, befestigte Straße – die O0542 –, die belagerte Stadt. Und befestigt, das muss eine Straße sein in der Schlammperiode, die jetzt begonnen hat. Starke Regenfälle machen unbefestigte Straßen nahezu unpassierbar.

Und damit ist die Stadt für den militärischen Nachschub auf die O0542 angewiesen. Sie ist die Nabelschnur der ukrainischen Verteidiger. Eine ausführliche Analyse des verbliebenen Straßennetzes nach Awdijiwka findet sich in diesem X-Thread [1].

Hauptschwerpunkt der russischen Herbstoffensive

Die AKHZ-Kokerei liegt nördlich der Stadt Awdijiwka, 2,5 Kilometer Luftlinie vom Bahnhof entfernt. Die russische Armee hat sich auf der jenseits des Bahndamms gelegenen Schlackehalde der AKHZ festgesetzt.

Zusätzlich kontrolliert sie jetzt noch vier Kilometer des Bahndamms nördlich der AKHZ und einen unmittelbar am nördlichen Teil des Werkes gelegenen Abschnitt – hier liegen nur 300 Meter zwischen Werk und Bahndamm, zwischen ukrainischen Verteidigern und russischen Angreifern.

Ausgerechnet Awdijiwka. Die russische Führung will es anscheinend wissen. Seit Anfang Oktober tobt die russische Herbstoffensive, und der Hauptschwerpunkt ist ausgerechnet die Kleinstadt nördlich von Donezk. Sie ist die stärkste Festung der Ukrainer, der Schlüssel zur Eroberung der Oblast Donezk, ein erklärtes Kriegsziel der russischen Regierung.

Die militärische Entwicklung im Ukraine-Krieg (0 Bilder) [2]

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Wenn dies gelingt, dann sendet das eine fatale Botschaft an die Ukraine: Nicht nur war die ukrainische Gegenoffensive ein katastrophaler Fehlschlag, bei der keinerlei taktischen Erfolge vermeldet werden konnten und zusätzlich die westlichen, schwer zu ersetzenden Waffensysteme dezimiert worden sind.

Sondern Russland ist womöglich in der Lage, die stärkste Festung in der ganzen Ukraine einzunehmen – und das, obwohl die Ukraine sich in der militärisch günstigeren Verteidigung befindet.

Schwere Verluste der russischen Armee

Die russische Armee hat schwere Verluste erlitten, sogar von den schwersten Verlusten seit Anfang des Jahres sprechen ukrainische Quellen. Das erscheint plausibel, ist es doch der massivste Vorstoß der russischen Armee seit Beginn dieses Jahres.

Hunderte gepanzerte Fahrzeuge bot die russische Seite auf, Hunderte Panzerfahrzeuge sind offensichtlich zerstört oder außer Gefecht gesetzt worden.

Doch anders als die ukrainische hat die russische Armee bei hohen Verlusten zuletzt taktische Erfolge erzielt: Während das ukrainische Militär in der lang ersehnten Frühlingsoffensive lediglich Felder und kleine Dörfer erobern konnte und an keiner Stelle in der Lage war, auch nur die erste der drei Verteidigungslinien zu durchbrechen, rücken russische Streitkräfte gefährlich nahe an die Nachschublinie von Awdijiwka heran.

Dabei hat die russische Führung vermutlich nicht das Ziel, den Kessel von Awdijiwka ganz zu schließen. Obwohl auch Truppen von Süden kommend langsam auf die einzige, befestigte Straße (O0542) vorstoßen – hier konnten russische Einheiten nördlich von Opytne vorrücken – braucht es keine totale Umfassung der Stadt, um diese mit der Zeit einnehmen zu können.

Denn es reicht aus, fortwährend den in die Stadt kommenden Nachschub zu dezimieren, und zwar aus gut zu verteidigenden Stellungen heraus.

Vorteile aufseiten der russischen Armee

Das hat für die angreifende, russische Seite zwei Vorteile:

1. Bei einem geschlossenen Kessel sind die Umschließungskräfte, die den Kessel zumachen, von zwei Seiten den Angriffen der Verteidiger ausgesetzt, einmal aus dem Inneren des Kessels, also dem dann abgeschnittenen Teil, und von außerhalb des Kessels in Form von Entsatzangriffen. Dadurch ist das Risiko, durch den Verteidiger von zwei Seiten aufgerieben zu werden, für die belagernde Partei hoch.

2. Die Ukraine wird vermutlich ständig Kräfte und Material nachführen, um den Halbkessel zu halten. Dieser Nachschub kann aus besser zu verteidigenden Stellungen leicht eingesehen und ausgedünnt werden – so verlieren die ukrainischen Streitkräfte womöglich im Endeffekt mehr Material als bei einem geschlossenen Kessel, denn der Verteidiger erleidet kontinuierlich einen erheblichen Verlust der zugeführten Versorgung.

Die größte Gefahr für den Nachschub über die einzig verbliebene Straße O0542 wäre die ATGM (Anti Tank Guided Missle), eine Weiterentwicklung der Panzerfaust. Wie die Panzerfaust wird die ATGM oft schultergestützt aus einem Starterrohr verschossen.

Die amerikanische Variante der ATGM, die Javelin, ist besonders zu Beginn der russischen Invasion zu einiger Bekanntheit gelangt, konnte sie doch die angreifenden, russischen Panzerkolonnen erheblich dezimieren.

Das russische Pendant heißt Kornet und verfügt über ähnliche Eigenschaften. Anders als die Javelin ist das russische Gegenstück aber schwerer und wird von einer Dreibein-Lafette aus gestartet. Dafür hat die Kornet aber eine erheblich höhere Reichweite von bis zu zehn Kilometern, während die Javelin höchstens vier Kilometer erreicht.

Daher ist das Ziel der russischen Streitkräfte, mindestens an einer Stelle nahe genug an die befestigte Straße O0542 heranzurücken, um den Einsatz von Kornet-Raketen oder anderen Panzerabwehrlenkwaffen (ATGMs) zu ermöglichen.

Gleichzeitig werden die russischen Streitkräfte versuchen, in die Stadt selbst vorzudringen und den Druck auf den Kessel zu erhöhen. Das geschieht mithilfe der überlegenen Artillerie der russischen Streitkräfte.

Es gibt Berichte, wonach Russland wieder bis zu 30.000 schwere Artillerie-Granaten verschießt – ukrainische Quellen sprechen sogar von bis zu 60.000 Granaten pro Tag [4].

Nachschub von Munition

Möglich macht das nicht nur die gesteigerte, heimische Munitions-Produktion, die westliche Beobachter [5] auf 2,5 Millionen Granaten des Kallibers 152mm schätzen. Erste Munitions-Lieferungen aus Nordkorea [6] scheinen in Avdijiwka angekommen zu sein, Quellen sprechen von bis zu zehn Millionen Granaten, die Nordkorea geliefert haben könnten.

Nordkorea besitzt zahlenmäßig die zweitgrößten Artilleriekräfte der Welt mit wahrscheinlich riesigen Munitionsvorräten. Die nordkoreanische Wehrtechnik basiert auf russischen Entwürfen und ist somit kompatibel zu den russischen Streitkräften.

Ab jetzt werden wir vermutlich keine massenhaften Durchbruchsversuche mit gepanzerten Fahrzeugen seitens der russischen Armee sehen wie noch zu Beginn der Offensive. Dienten die russischen Panzervorstöße mit Hunderten von Panzern anfangs dazu, die ukrainischen Stellungen zu stürmen und Infanterie möglichst nahe an das Hauptziel, die Schlackehalde und an die Kokerei zu bekommen, wird die russische Panzerwaffe jetzt vermutlich vorwiegend zur Feuerunterstützung eingesetzt, um ukrainische Stellungen mit präzisem Feuer zu bekämpfen.

Hohe Verluste hat Russland augenscheinlich einkalkuliert, um dieses taktische Ziel zu erreichen. Auch bei dem kommenden Versuch, in der riesigen Kokerei Fuß zu fassen, wird die zahlenmäßig weit überlegene, russische Artillerie zum Einsatz kommen, um die gegnerischen Stellungen auszudünnen.

Im Süden von Awdijiwka könnte sich die Situation anders gestalten. Hier könnten die russischen Streitkräfte versuchen, mithilfe von Panzern näher an die Straße O0542 heranzurücken.

Anders als in Bachmut hat sich die russische Führung also entschieden, die stärkste und wichtigste Bastion von Awdijiwka, gleich zu Beginn einnehmen zu wollen. Mit einer möglichen Einnahme der AKHZ-Kokerei müssten sich die ukrainischen Streitkräfte gänzlich aus der Stadt zurückziehen, Awdijiwka wäre auf Dauer aufgrund stetiger Attacken auf den einzigen Nachschubweg nicht zu halten.

Probleme der ukrainischen Verteidigung

Zur Stabilisierung der Lage haben die ukrainischen Streitkräfte bereits Reserven von anderen Frontabschnitten abgezogen und in die Schlacht geworfen, Beobachter sprechen von mehreren Brigaden.

Darunter befindet sich auch die 47. Selbstständige mechanisierte Brigade, die den Sommer über in Robotyne gekämpft hat.

Als Folge könnte dies in anderen Regionen Lücken in die Stellungen der Ukrainer reißen. Lücken, die eine vermutlich immer größer werdende russische Armee [7] ausnutzen könnte.

Zum Beispiel in Kupjansk: dort befürchten Experten ebenfalls die Bildung eines Kessels. Dort soll Russland nach ukrainischen Schätzungen 100.000 Soldaten zusammengezogen haben [8].

In jüngster Vergangenheit zerstörte die russische Luftwaffe wichtige Brücken über den Fluss Oskil, die Versorgung der ukrainischen Truppen südlich von Kupjansk, östlich des Flusses wird dadurch erheblich erschwert.

Vorstöße der ukrainischen Armee

Dennoch macht auch die Ukraine weiter Vorstöße, sie konnte sich zum Beispiel bei Cherson mit geringen Kräften östlich des Flusses Dnipro festsetzen. Allerdings gelingt es der Ukraine hier nicht, schweres Material überzusetzen. Die schwierige Nachschublage über den Fluss veranlasste die russische Armee im vorigen Jahr, Cherson aufzugeben und sich auf das linke Dnipro-Ufer (östliches Ufer) abzusetzen.

Die russische Führung scheint dennoch alles andere als glücklich mit der Entwicklung in dem genannten Abschnitt zu sein: Der Befehlshaber der russischen Dnipro-Gruppe in der südlichen Ukraine, Generaloberst Oleg Makarevich, wurde gerade seines Postens enthoben. Nachfolger ist Generaloberst Michail Jurjewitsch Teplinski.

Teplinski war seit Sommer Kommandeur der russischen Luftlandetruppen und mit diesem Truppenverband für einen Flankenangriff bei Bachmut verantwortlich. Er steht in dem Ruf, seine Soldaten mit Bedacht einzusetzen, statt diese sinnlos zu verheizen.

Auch in Robotyne, wo der Hauptstoß der ukrainischen Frühlingsoffensive stattfand, versuchen Kievs Truppen weiter vorzustoßen. Hier konnte westlich des Dorfes ein Baumstreifen eingenommen werden.

Allerdings weisen Videoaufnahmen darauf hin, dass mehrere gepanzerte Fahrzeuge verloren gingen, darunter auch deutsche Leoparden.

Ausblick: Waffenlieferungen und Rüstungsindustrie

Russland greift zurzeit an mehreren Stellen der östlichen Front an, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Awdijiwka.

Es zeigt sich deutlich eine personelle Überlastung der ukrainischen Streitkräfte. Da etwa die 47. Selbstständige mechanisierte Brigade aus dem Raum Robotyne nach Awdijiwka verlegt wurde, obwohl dort weiterhin versucht wird, die erste russische Verteidigungslinie zu durchbrechen.

Soldaten der 47. Selbstständigen mechanisierten Brigade hissten noch im August die ukrainische Flagge in Robotyne, nachdem das Dorf eingenommen wurde.

Brutaler Stresstest

Strategische Reserven hat die Ukraine nicht mehr zur Verfügung. Dagegen hat Russland weiterhin Reserven, mit denen es an anderen Abschnitten ebenfalls in die Offensive gehen kann. Insofern ist der entschlossene und unter Inkaufnahme hoher Verluste geführte Stoß auf die Festung Awdijiwka ein brutaler Stresstest der ukrainischen Gesamtverteidigung.

Awdijiwka gilt als die stärkste Festung der ukrainischen Abwehr-Front, die kontinuierlich seit 2014 ausgebaut wurde. Der Zeitpunkt mit dem Einsetzen der Schlammperiode ist günstig für die Angreifer, da es nur eine befestigte Straße in die Stadt gibt und somit der Nachschub leicht abgewürgt werden kann.

Sollte es den russischen Steinkräften tatsächlich gelingen, Awdijiwka unter ihre Kontrolle zu bringen, wäre das ein empfindlicher Rückschlag für die ukrainische Armee und würde sich vermutlich demoralisierend auf die Kampfkraft auswirken. Die erfolglose Frühlingsoffensive hat diese entscheidend geschwächt.

Russland braucht obendrein einen Erfolg, den man dem heimischen Publikum präsentieren kann, um der Öffentlichkeit eine siegreiche, russische Armee vorzeigen zu können – auch wenn ein möglicher Sieg teuer erkauft sein wird.

Russland könnte, ähnlich wie nach der Einnahme von Bachmut, sich gleichsam wieder zurücklehnen und in den schonenden Verteidigungsmodus zurückfallen, nachdem ein kostspieliger Sieg über die Festung Awdikiwka erreicht wurde. Denn die Verteidigung gegen die ukrainische Frühlingsoffensive verlief überaus erfolgreich für Russland, mit vermutlich minimalen, eigenen Verlusten [9].

Westliche Waffenlieferungen und Rüstungsfabriken in der Ukraine

Sendet der Westen dagegen kein neues Kriegs-Material in großen Mengen nach, wird die Ukraine über kurz oder lang nicht mehr in der Lage sein, die Verteidigung aufrechtzuerhalten. Eine eigene Rüstungsindustrie ist nicht mehr vorhanden.

Aufgrund der Luftüberlegenheit des russischen Militärs ist die Wahrscheinlichkeit auch nicht sehr groß, dass es mit westlicher Hilfe gelingen kann, eine eigene, nationale Rüstungsindustrie aufzubauen – jedes verlorene Panzerfahrzeug, jede zerstörte Haubitze, jedes explodierte Munitionsdepot ist so für die Ukraine ungleich schwerer zu ersetzen.

Zudem konkurriert die Ukraine jetzt um Waffenhilfe und Aufmerksamkeit mit Israel. Bedeutende Waffenlieferungen sollen schon in den Nahen Osten umgeleitet [10] worden sein, wie zum Beispiel dringend benötigte Luftverteidigungs-Systeme [11].

Die hier zusammengestellten Informationen speisen sich aus folgenden OSINT-Quellen: Weeb Union, Military Summary Channel, Suriyakmap, Deepstatemap, Remilind23, HistoryLegends, simplicius76, Militaryland, Red Fish Bubble 2.1 (geschlossene Gruppe)


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https://www.heise.de/-9348109

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[1] https://twitter.com/J_JHelin/status/1717932692153462993
[2] https://www.heise.de/bilderstrecke/3533042.html?back=9348109;back=9348109
[3] https://www.heise.de/bilderstrecke/3533042.html?back=9348109;back=9348109
[4] https://kyivindependent.com/investigation-eu-inability-to-ramp-up-production-behind-acute-ammunition-shortages-in-ukraine/
[5] https://www.france24.com/en/live-news/20230913-north-korean-shells-could-keep-russian-guns-firing
[6] https://www.rnd.de/politik/frontstadt-awdijiwka-im-ukraine-krieg-russland-erhaelt-containerweise-munition-aus-nordkorea-L2QCPVJMQVFCDIM5GWGEIX5RQU.html
[7] https://www.n-tv.de/politik/Russland-stellt-neun-Reserve-Regimenter-auf-article24442336.html
[8] https://www.ukrinform.de/rubric-ato/3778995-etwa-100000-russische-soldaten-im-raum-lymankupjansk.html
[9] https://en.zona.media/article/2022/05/20/casualties_eng
[10] https://www.nytimes.com/2023/10/22/us/politics/israel-ukraine-weapons.html
[11] https://www.eurasiantimes.com/s-to-repeal-possible-iran-attacks-thad/?amp