Ukraine-Krieg und Klimakatastrophe: Wo ist der Sinn für Verhältnismäßigkeit?

Seite 2: Klimakatastrophe und ökologische Zeitenwende

Einerseits wird in Sonntagsreden die Vermeidung der Klimakatastrophe zur allerhöchsten Priorität erklärt. Andererseits heißt es warnend: Das wird für alle Beteiligten sehr teuer.

Einerseits hören wir: Die Zeit bis 2030 sind die entscheidenden Jahre, in denen noch, wenn überhaupt, mit großen Anstrengungen Kipp-Punkte vermieden werden können.

Andererseits möchten viele Politiker die Bevölkerung beruhigen: Alles soll so weitergehen wie bisher und der Staat möchte die Veränderungen so gestalten, dass Verluste kompensiert werden. "Allen wohl und niemand weh" passt nicht zur massiven Wende, die angesichts der drohenden Klimakatastrophe erforderlich ist.

Wenn eine Regierung die "Zeitenwende" angesichts des Ukraine-Krieges ausruft und Unsummen in diesem Kontext ausgibt, dann scheint es ihr mit der Zeitenwende in Bezug auf die Klimakatastrophe nicht ernst zu sein. Zur Verhältnismäßigkeit gehört, die Rangordnung der Prioritäten im Blick zu haben.

Stattdessen ist der Präsident der nächsten Uno-Klimakonferenz Sultan Al-Jaber. Es handelt sich um den Industrieminister der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und den Chef des staatlichen Ölkonzerns Adnoc. Dieses Unternehmen ist für rund 700 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr verantwortlich. Das entspricht ungefähr den Emissionen von ganz Deutschland.

Man weiß also, was er meint, wenn er Anfang Mai in Berlin davon spricht, "Leidenschaften in pragmatische Lösungen zu verwandeln" und die Polarisierung beim Thema Klimaschutz zu beenden (Götze 2023). Christoph Bals von Germanwatch stellt fest, Al-Jaber vertrete ein "Programm zur Lebensverlängerung fossiler Energieträger".

Beim Klima-Volksentscheid im März 2023 in Berlin hieß es, er sei gescheitert, weil seine Gegner es geschafft hätten, die soziale Karte gegen die ökologische auszuspielen. Eine Propaganda habe verfangen, der zufolge eine klimaverträgliche Umgestaltung der Stadt für die Geringverdiener zu teuer wird.

Zum Verlust des Sinns für die Verhältnismäßigkeit gehört, an dieser Stelle einen Gedanken auszublenden: Wer hätte es für möglich gehalten, dass auf einmal so viel Geld ausgegeben wird für ein Anliegen (Unterstützung der Ukraine, Kompensation der Kosten infolge der Sanktionen gegen Russland), das in Bezug auf die Zukunft in Deutschland einen recht nachgeordneten Stellenwert hat?

Nur eine Regierung mit Notstandsbefugnissen wird die Not abwenden

Gegen den Berliner Klima-Volksentscheid hieß es: Klimaneutralität bis 2030 sei unpraktikabel, weil es bspw. nicht genügend Fachkräfte für die erforderlichen Maßnahmen gebe.

Nicht gesagt wird: Angesichts der unaufschiebbaren Dringlichkeit dessen, was auf dem Spiel steht, und in Anbetracht der enormen Aufgaben müsste die Gesellschaft alle Ressourcen auf die ökologisch erforderlichen Maßnahmen konzentrieren. Sie würde alle Kräfte für diesen Zweck bündeln und für ihn mobilisieren.

Vergleichbar ist das nur mit einem Kriegsfall. Bei ihm ist für die betreffende Nation klar: Nun gilt es alles in Bewegung zu versetzen und alle zum Handeln zu veranlassen, damit der Hauptzweck erfüllt werden kann ("Generalmobilmachung"). In einer Kriegswirtschaft heißt es nicht länger: Es sind nicht genug Fachkräfte zur Herstellung von Waffen verfügbar, also kann die Armee erst in zehn Jahren schlagfertig sein.

Ginge es wirklich um eine ökologische "Zeitenwende", so würden unter Hintanstellung anderer Vorhaben sofort Fachkräfte ausgebildet bzw. umgeschult, um schnell die ökologisch notwendigen technischen Maßnahmen durchführen zu können.

Man muss sich schon ehrlich machen: Im Unterschied zur Pluralität der Zwecke im Frieden ist die Kriegswirtschaft "an einem (im Prinzip) eindeutigen Zweck orientiert und in der Lage, Machtvollkommenheiten auszunutzen", wie sie in Friedenszeiten nicht "zur Verfügung stehen.

Sie ist ferner 'Bankrotteurswirtschaft' ihrem innersten Wesen nach: Der überragende Zweck lässt fast jede Rücksicht auf die kommende Friedenswirtschaft schwinden. Die Rechnungen haben daher vorwiegend [...] gar nicht den Sinn, dauernde Rationalität der gewählten Aufteilung von Arbeit und Beschaffungsmitteln zu garantieren" (Weber 1976, 57).

Ein der Kriegswirtschaft entsprechende Notstandsphase kann kein Dauerzustand sein, sondern nur für die Übergangszeit gelten, in der die notwendigen Veränderungen durchgesetzt werden, um die Klimakatastrophe zu vermeiden.

Die Gesellschaft kann sich angesichts der sich zuspitzenden klimatischen Entwicklung den Widerstand der verschiedenen Interessengruppen gegen die Klima-Wende nicht leisten. Er bildet eine "Blockiermacht in den Machtketten, die nichts bewirken und nichts verantworten, aber viel verhindern kann" (Luhmann 1975, 84). Selbst die Commerzbank wirbt unter Bezug auf die Klimakrise mit dem Slogan "Keine Zeit für 'aber'!".

Die Blockademacht der Veto-Gruppen gehört zur Schwäche der Selbstgestaltungsfähigkeit von bürgerlichen Gesellschaften. Sie zeigen "eine Scherenentwicklung, in der einerseits aufgrund der hohen Probleminterdependenzen […] ein Bedarf an umfassenden Strukturreformen auftritt und andererseits die sozialen Unterstützungsbereitschaften für politische Innovationen aufgrund von heterogenen Betroffenheiten, Orientierungen und Politikpräferenzen auf ein unzureichendes Niveau absinken" (Wiesenthal 1987, 27).

Was das Grundgesetz für den Notstand vorsieht

Die Erklärung des staatlichen Notstands folgt der Einsicht, dass ohne die entsprechenden Maßnahmen der Bevölkerung ein ähnlich hoher Schaden wie in einem Krieg droht. Not-wendig wird diejenige Erweiterung der Zuständigkeiten für die Regierung, die das Grundgesetz (Artikel 115a) im Verteidigungsfall vorsieht.

Er schließt Einschränkungen der Grundrechte ein. Das Grundgesetz erachtet es als erforderlich, dass zur Sicherung des Bedarfs an Arbeitskräften im Verteidigungsfall "die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben […], eingeschränkt" werden kann (Artikel 12a (6)). In Artikel 12a (3) heißt es:

Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereich der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen". Das Grundgesetz hält eine Einschränkung der Freizügigkeit für legitim "zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen.

Grundgesetz, Artikel 11

Daran schließt sich eine Kapitalverkehrs-Kontrolle an, die das Abfließen von Kapital aus der Bundesrepublik in solche Länder verhindert, die noch keinen Klima-Notstand erklärt haben. Gewiss birgt ein Notstandsregieren immer autoritäre Gefahren in sich.

Es kann nur als notwendiges (und kleineres) Übel angesichts der Klimakatastrophe sowie als vorübergehende Lösung akzeptiert werden.