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Ukraine: Wie der EU-Kriegsdiplomat Josep Borrell um westliche Werte kämpft

Es ist nicht alles Gold, was glänzt: Der Westen verkauft seine Kriege als humanitäre Interventionen. Wenn andere das Gleiche tun, sind es Verbrecher. Bild: K.H.Reichert / CC BY-NC 2.0

Wir verlieren den Kampf der Narrative gegen Russland, heißt es aus der EU-Kommission. Recycelt wird dabei der Mythos vom "guten Westen". Warum er nicht zutrifft, zeigt ein Blick in den Globalen Süden und die Vergangenheit.

In einem Blogeintrag zum G20-Außenministertreffen auf Bali [1] (Indonesien) Anfang Juli scheint der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, die schmerzliche Wahrheit akzeptiert zu haben [2], dass der Westen den "globalen Kampf der Narrative", wie er es nennt, verliert.

Der globale Kampf der Narrative ist in vollem Gange, und im Moment gewinnen wir nicht,

gibt Borrell zu. Die Lösung:

Als EU müssen wir uns weiter engagieren, um die russischen Lügen und die Kriegspropaganda zu widerlegen,

fügt der EU-Spitzendiplomat und Vizepräsident der EU-Kommission hinzu.

Ramzy Baroud [3] ist Journalist und Buchautor in den USA. Er ist Senior Research Fellow am Zentrum für Islam und Globale Angelegenheiten (CIGA).

Borrells Beitrag ist ein Zeugnis für genau jene falsche Logik, die dazu geführt hat, dass die sogenannte "Schlacht der Erzählungen" überhaupt verloren wurde.

Borrell beginnt damit, seinen Lesern zu versichern, dass obwohl sich viele Länder des globalen Südens weigern, bei den Sanktionen des Westens gegen Russland mitzumachen, "alle", wenn auch in abstrakter Form, über die "Notwendigkeit des Multilateralismus und der Verteidigung von Prinzipien wie der territorialen Souveränität" einig sind.

Der unmittelbare Eindruck, den eine solche Aussage vermittelt, ist, dass der Westen die globale Hüterin des Multilateralismus und der territorialen Souveränität ist. Das Gegenteil ist der Fall. Die militärischen Interventionen der USA und des Westens [4] im Irak, in Bosnien, Afghanistan, Syrien, Libyen und vielen anderen Regionen der Welt erfolgten größtenteils ohne internationale Zustimmung und ohne jede Rücksicht auf die Souveränität der Staaten.

Im Falle des Nato-Krieges gegen Libyen wurde eine extrem zerstörerische Militäroffensive initiiert. Sie stützte sich auf der bewussten Fehlauslegung der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates, in der der Einsatz "aller notwendigen Mittel zum Schutz der Zivilbevölkerung" gefordert wurde [5].

Doppelte Standards

Borrell, wie auch andere westliche Diplomaten, lässt die wiederholten – und lange anhaltenden – Eingriffe des Westens in die Angelegenheiten anderer Staaten außer Acht, um unangenehme Schlussfolgerungen zu vermeiden, während er den russisch-ukrainischen Krieg als das krasseste Beispiel darstellt für "eklatante Verstöße gegen das Völkerrecht, die gegen die Grundprinzipien der UN-Charta verstoßen und die globale Gesundung der Wirtschaft gefährden".

Würde Borrell eine derart klare Sprache verwenden, um die zahlreichen Kriegsverbrechen in Teilen der Welt zu beschreiben, an denen europäische Länder oder ihre Verbündeten beteiligt sind? Zum Beispiel Frankreichs verabscheuungswürdige Kriegsbilanz in Mali [6]? Oder, noch offensichtlicher, die 75-jährige israelische Besetzung Palästinas?

Beim Thema "Lebensmittel- und Energiesicherheit" beklagte Borrell [7], dass viele der G20-Staaten der "Propaganda und den Lügen des Kremls" bezüglich der tatsächlichen Ursache der Lebensmittelkrise aufgesessen seien. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht die EU, sondern "Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine die Nahrungsmittelkrise dramatisch verschärft".

Auch hier verfährt Borrell selektiv. Ein Krieg zwischen zwei Ländern, die einen großen Teil der weltweiten Grundnahrungsmittelversorgung liefern, wirkt sich natürlich nachteilig auf die Ernährungssicherheit aus. Aber Borrell erwähnte nicht, dass die Tausenden von Sanktionen [8], die der Westen gegen Moskau verhängt hat, die Versorgungskette für viele wichtige Produkte, Rohstoffe und Grundnahrungsmittel unterbrochen haben.

Die größeren Ideale des Westens und ihre Kriegs- und Hungerpolitik

Als der Westen die Sanktionen verhängte, dachte man ausschließlich an die eigenen nationalen Interessen, die sich in einer Fehleinschätzung darauf konzentrieren, Russland zu besiegen. Die Menschen weder in Sri Lanka, Somalia oder dem Libanon noch – offen gesagt – in der Ukraine sind für die Entscheidung des Westens von signifikanter Bedeutung.

Borrell, dessen Beruf als Diplomat nahelegt, dass er an Diplomatie zur Lösung von Konflikten interessiert sein sollte, hat wiederholt dazu aufgerufen, den Krieg gegen Russland auszuweiten. Er besteht darauf, dass der Krieg nur "auf dem Schlachtfeld" gewonnen werden kann [9]. Solche Äußerungen werden mit Blick auf westliche Interessen gemacht, trotz der offensichtlichen verheerenden Folgen, die Borrells "Schlachtfeld" für den Rest der Welt haben wird.

Gleichzeitig tadelt Borrell auf dreiste Weise die G20-Mitglieder für ihr Verhalten [10], das seiner Meinung nach nur auf deren nationale Interessen ausgerichtet sei.

Die harte Wahrheit ist, dass nationale Interessen oft schwerer wiegen als allgemeine Verpflichtungen gegenüber größeren Idealen,

schreibt er. Wenn es für die "größeren Ideale" Borrells und der EU von zentraler Bedeutung ist, Russland zu besiegen, warum sollte dann der Rest der Welt, vor allem im globalen Süden, diese eigennützigen Prioritäten des Westens übernehmen?

Borrell muss auch daran erinnert werden, dass der "globale Kampf der Narrative" des Westens schon lange vor dem 24. Februar diesen Jahres verloren wurde. Ein Großteil des globalen Südens sieht die Interessen des Westens zu Recht in Widerspruch zu den eigenen. Die vermeintlich zynische Sichtweise ist das Ergebnis jahrzehntelanger – eigentlich jahrhundertelanger – realer Erfahrungen, die mit dem Kolonialismus begannen und gegenwärtig mit den ständigen militärischen und politischen Interventionen weitergeführt werden.

Borrell spricht von "größeren Idealen", als sei der Westen die einzige moralisch reife Instanz, die in der Lage ist, selbstlos und unabhängig über Recht und Unrecht zu reflektieren. Abgesehen davon, dass die Geschichte Borrells Behauptung nicht belegen kann, verhindert die herablassende, von kultureller Arroganz geprägte Sprache, dass sich nicht-westliche Länder mit der politischen Moral des Westens überhaupt auseinandersetzen.

Der EU-Diplomat wirft Russland beispielsweise vor [11], dass es "absichtlich versucht, Nahrungsmittel als Waffe gegen die schwächsten Länder der Welt, insbesondere in Afrika, einzusetzen". Selbst wenn wir diese problematische Prämisse als von Moral bestimmten Standpunkt akzeptieren, wie kann Borrell die Sanktionen des Westens dann rechtfertigen, die viele Menschen in "geschwächten Ländern" auf der ganzen Welt tatsächlich ausgehungert haben?

Vielleicht sind die Afghanen heute die am meisten gefährdeten Menschen der Welt, dank eines 20-jährigen verheerenden US-Nato-Krieges, in dem Zehntausende getötet und verstümmelt wurden. Obwohl die USA und ihre westlichen Verbündeten im August letzten Jahres gezwungen waren aus Afghanistan abzuziehen [12], sind viele Milliarden Dollar von dort illegal auf westlichen Bankkonten eingefroren, wodurch die Bevölkerung an den Rand des Hungertodes gebracht wird. Warum kann Borrell in diesem speziellen Szenario nicht seine "größeren Ideale" anwenden und die sofortige Freigabe der afghanischen Gelder fordern?

In Wahrheit verlieren Borrell, die EU, die Nato und der Westen nicht nur im Moment die globale Schlacht der Narrative. Sie haben sie tatsächlich nie gewonnen [13]. Ob sie die Schlacht für sich entscheiden können oder verlieren, ist den westlichen Regierungen in der Vergangenheit immer egal gewesen. So wurde der Globale Süden mit seinen Interessen nie berücksichtigt, als der Westen aus eigennützigen Motiven über Kriege, militärische Invasionen oder Wirtschaftssanktionen entschied.

Der Globale Süden ist jetzt wichtig, weil der Westen nicht mehr alle politischen Resultate kontrollieren kann, wie es sonst der Fall gewesen ist. Russland, China, Indien und andere müssen ernster genommen werden, weil sie gemeinsam eine Weltordnung ausbalancieren können, die viel zu lange von Borrell und seinesgleichen dominiert wurde.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit US-amerikanischen Website Znet [14].

Dr. Ramzy Baroud [15] ist Journalist und Herausgeber der Palästina-Chronik. Er ist der Autor von sechs Büchern. Sein neuestes Buch, das er gemeinsam mit Ilan Pappé herausgegeben hat, ist "Our Vision for Liberation: Engagierte palästinensische Führungspersönlichkeiten und Intellektuelle kommen zu Wort [16]". Baroud ist ein Non-Resident Senior Research Fellow am Zentrum für Islam und Globale Angelegenheiten (CIGA). Seine Website lautet: www.ramzybaroud.net.


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https://www.heise.de/-7190310

Links in diesem Artikel:
[1] https://g20.org/media-announcement-g20-foreign-ministers-meeting-2022/
[2] https://www.eeas.europa.eu/eeas/g20-difficult-times-multilateralism_en
[3] http://www.ramzybaroud.net/
[4] https://www.worldatlas.com/articles/major-nato-military-interventions.html
[5] https://www.bbc.com/news/world-africa-12782972
[6] https://www.thenewhumanitarian.org/investigations/2021/6/16/uncovering-the-civilian-toll-of-france-anti-jihadist-war-in-Mali
[7] https://www.eeas.europa.eu/eeas/g20-difficult-times-multilateralism_en
[8] https://www.globaltimes.cn/page/202205/1265735.shtml
[9] https://tass.com/world/1435329
[10] https://www.eeas.europa.eu/eeas/g20-difficult-times-multilateralism_en
[11] https://www.eeas.europa.eu/eeas/g20-difficult-times-multilateralism_en
[12] https://www.cnbc.com/2021/08/30/afghanistan-update-last-us-troops-leave-kabul-ending-evacuation.html
[13] https://www.rt.com/op-ed/532235-afghanistan-empire-narrative-collapse/
[14] https://zcomm.org/znetarticle/the-war-diplomat/
[15] http://www.ramzybaroud.net/
[16] https://www.amazon.com/Our-Vision-Liberation-Palestinian-Intellectuals/dp/1949762440