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Ukrainekrieg: Unerhörte Stimmen aus der Bundeswehr

NATO-Ukraine-Kommission: Olha Stefanischyna, stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine, mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel bei einer Pressekonferenz über eine zu erwartende russische Invasion der Ukraine. Bild (10. Januar 2022): U.S. Nato-Botschafter/gemeinfrei

Warum hört niemand auf jene mahnenden Stimmen auch aus unseren Streitkräften, die den Krieg kommen sahen und jahrelang friedliche Lösungen vorschlugen?

Was auch immer passiert… ob russische Truppen weitere Gebiete besetzen oder gar ein Regimewechsel in Kiew inszeniert wird: Die Ukraine bliebe… ein sicherheitspolitisches Risiko ersten Ranges... In einer neutralen oder blockfreien Position kann sie umgekehrt zu einem zentralen Baustein einer europäischen Friedensordnung werden…

August Pradetto, Realismus vs. Krieg: Neutralität als Chance [1]

Derzeit überbieten sich Politik und Medien in bellizistischer Empörung über den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine. Aber warum hört niemand auf jene mahnenden Stimmen auch aus unseren Streitkräften, die den Krieg kommen sahen und jahrelang friedliche Lösungen vorschlugen?

Die Märzausgabe [2] der Blätter für deutsche und internationale Politik, einer traditionell kritischen Fachzeitschrift, widmet sich dem Thema "Krieg und Frieden: Der Ukraine-Konflikt", obwohl die Drucklegung in die Vorkriegszeit datiert.

Im Themenschwerpunkt kommen sechs Autoren zu Wort, von denen drei Russland kritisieren, drei weitere jedoch auch auf die Nato-Verantwortung für die Eskalation der Ukraine-Krise hinweisen. Online zugänglich ist leider nur der Beitrag von Sergej Lebedew, der Putin wenig originell in die sowjetischen Tradition des Autoritarismus [3] stellt, während die Nato-kritischen Artikel hinter einer Paywall stecken.

Sie stammen vom sicherheitspolitischen Strategen, Oberst a. D., Wolfgang Richter1 [4], vom Geopolitik-Experten und Bundeswehr-Professor August Pradetto sowie vom zivilen Professor Bernd Greiner, der beim Hamburger Institut für Sozialforschung (bekannt durch seine Wehrmachts-Ausstellung) für Theorie und Geschichte der Gewalt zuständig war.

Die wichtigsten Fakten und Thesen aus diesen drei Texten, die sowohl unerhört blieben, als auch im aktuellen Empörungsklima unerhört wirken, sollen hier in ausgewählten Originalzitaten kommentiert werden.

Oberst Wolfgang Richter: Von Kuba nach Kiew

Wolfgang Richter ist derzeit als Bundeswehr-Oberst a.D. bei der staatsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik tätig. Er war in Wien militärischer Leiter [5] der deutschen Vertretung bei der OSZE und zuvor strategischer Planer in Bundeswehr und Verteidigungsministerium. Sein Beitrag [6] spiegelt die unübersichtlichen Verhandlungen um die europäische Rüstungskontroll-, Friedens- und Sicherheitspolitik, wo Moskauer Sicherheitsinteressen offenbar wiederholt unberücksichtigt blieben.

Der wichtigste Satz des Textes von Richter betrifft den aktuellen Ukraine-Konflikt: "Moskau sieht sein Vorgehen wie das der USA in der Kuba-Krise von 1962 legitimiert, um strategische Sicherheitsinteressen zu schützen."2 [7] Diese Moskauer Sicht wird durch Richters Darstellung der Vorgeschichte der Ukrainekrise plausibel gemacht.

Richter versäumt es leider, an den Ablauf der Kuba-Krise zu erinnern: Damals hatte US-Präsident Kennedy eine völkerrechtswidrige Seeblockade gegen Kuba verhängt und mit illegalen Angriffen auf sowjetische Schiffe gedroht. Washington hatte Angst bekommen, weil die Sowjets vorhatten, den USA mit atomaren Mittelstreckenwaffen auf die Pelle zu rücken - als Antwort auf die entsprechende Stationierung von US-Raketen in der Türkei. Man einigte sich, Kuba und die Türkei atomwaffenfrei zu halten, nachdem Moskau eingelenkt hatte, bevor es zu Kampfhandlungen kam.

Oberst a.D. Richter präsentiert viele Argumente, warum man es im Ukraine-Konflikt ebenso hätte machen sollen wie 1962 in der Kubakrise, d.h. beiderseitig auf Sicherheitsbedürfnisse einzugehen. Sein historischer Rückblick beginnt mit der KSZE-Schlussakte [8] der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (ab 1995 OSZE), in der sich Nato, Warschauerpakt und blockfreie Europäer 1975 noch einmal auf das UN-Völkerrecht verpflichteten, insbesondere auf Nichteinmischung in innere Angelegenheiten souveräner Staaten, auf Gewaltverzicht, auf Unverletzlichkeit der Grenzen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Nato brach Verpflichtung auf Sicherheitspartnerschaft

Nach Ende des Kalten Krieges verpflichteten sich 1990 die KSZE-Staaten in der Charta von Paris [9] auf eine "Sicherheitspartnerschaft" sowie die Nato- und Warschauer-Pakt-Staaten auf den KSE-Vertrag [10] über Konventionelle Streitkräfte in Europa, der Abrüstung und ein militärisches Gleichgewicht vorsah:

"Bis 1996 wurden fast 60.000 Großwaffensysteme abgebaut. Damit waren die Reduzierungsverpflichtungen bereits weitgehend erfüllt. Die Hauptlast trug dabei wiederum Russland, gefolgt von Deutschland."3 [11]

Doch dann stiegen die USA aus einer zentralen Säule der strategischen Sicherheitsarchitektur aus. Der frühere Bundeswehr-Oberst macht die Kündigung des ABM-Vertrags [12] durch die Regierung von US-Präsident Bush als Verletzung der russischen Sicherheitsinteressen deutlich (und damit implizit den Bruch der Verpflichtung auf Sicherheitspartnerschaft durch die Nato):

Den Austritt der USA aus dem Vertrag über die Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag) 2002 wertete Moskau als Gefahr für die strategische Stabilität. Sie verschärfte sich, als die USA mit Polen und Tschechien bilateral vereinbarten, dort Raketenabwehrsysteme zu stationieren. Washingtons Begründung, der iranischen Bedrohung begegnen zu müssen, zog Moskau in Zweifel. Den Angriff der USA gegen den Irak 2003 kritisierte Moskau als Völkerrechtsbruch.

Wolfgang Richter, Im Spannungsfeld von Nato und Russland [13]

Dass in Washingtons "Koalition der Willigen" osteuropäische Staaten diesen Angriffskrieg gegen den Irak unterstützten, verschärfte den Ost-West-Konflikt weiter. Wenig später zerbrach die europäische Sicherheitsordnung und es kam zum Krieg.

Jugoslawien- und Georgien-Krieg

Schon 1999 hatte Moskau den Krieg der Nato gegen Serbien als illegalen Angriffskrieg gebrandmarkt. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 kritisierte Präsident Putin diese Entwicklung als Bruch der Vereinbarungen von 1997 und 1999 und unterstellte den USA, sie betreibe Geopolitik zum Nachteil Russlands. Ende 2007 suspendierte er den KSE-Vertrag, dessen Gleichgewichtskonzept obsolet geworden war.

Wolfgang Richter, Im Spannungsfeld von Nato und Russland [14]

Richter diskutiert die damaligen Nato-Rechtfertigungen für ihren völkerrechtswidrigen "Kosovo-Krieg" nicht, stellt aber klar, dass der Westen mit dem Überfall auf Jugoslawien und der Bombardierung Belgrads die KSZE-Verträge zuerst gebrochen hat:

"Als westliche Staaten die im Februar 2008 ausgerufene Unabhängigkeit Kosovos anerkannten, wurden erstmals seit der Charta von Paris Grenzen in Europa nach vorheriger Gewaltanwendung und ohne Zustimmung des Sicherheitsrates verändert... Moskau reagierte, indem es seine Beziehungen zu Abchasien und Südossetien aufwertete. Deren politischer Status wurde seit den Kriegen 1990 bis 1994 unter Leitung der UN und der OSZE verhandelt."

Im April 2008 forcierte Washington die Nato-Ostexpansion weiter, drängte auf einen Nato-Beitritt von Georgien und der Ukraine: "Mit Unterstützung osteuropäischer Staaten wollte US-Präsident George W. Bush dieses Ziel zügig erreichen, aber Deutschland und Frankreich verhinderten einen konkreten Beitrittsplan."

Die georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien hatten sich 1991 bzw. 1992 für unabhängig erklärt. Der Georgien-Krieg von 2008 wird derzeit in den Medien oft falsch dargestellt: "Georgien fürchtet Opfer einer weiteren russischen Invasion zu werden. Schon 2008 sind russische Truppen nach Georgien eingedrungen und haben sich 20 Prozent des georgischen Territoriums einverleibt." (arte-Journal, 7.3.22 [15])

Diese arte-Version widerspricht dem Abschlussbericht, den die vom Europäischen Rat eingesetzte "Unabhängige Untersuchungskommission zum Konflikt in Georgien" 2009 vorgelegt hatte, die den Angriff Georgiens auf Südossetien als Kriegsauslöser feststellte [16]. Anzeichen für eine damals von Präsident Saakaschwili behauptete russische Invasion konnte man nicht finden.

Ebenso sieht es der Bundeswehr-Stratege Richter und verweist sogar auf eine direkte Verantwortung des Nato-Staates USA: Die Bush-Administration hatte den georgischen Präsidenten Saakaschwili "ermutigt", so OSZE-Experte Oberst Richter, im August 2008 die von UN bzw. OSZE legitimierten russischen Friedenstruppen anzugreifen:

Der russische Gegenschlag vertrieb die georgische Armee… Dass Moskau nach dem Waffenstillstand die beiden abtrünnigen Regionen als "Staaten" anerkannte, wertete der Westen als illegale Änderung von Grenzen durch Gewalt und als Verletzung der Souveränität Georgiens. Mit Moskaus völkerrechtswidriger Annexion der Krim und seiner Unterstützung der Rebellen im Donbas erreichte die Erosion der europäischen Sicherheitsordnung ihren Kulminationspunkt.

Wolfgang Richter

Krieg durch erodierte Sicherheitsordnung

Wenn eine Sicherheitsordnung erodiert, wird Krieg möglich, wie jetzt in der Ukraine. Die Darstellung Richters ist eine Antwort auf die derzeit oft gestellte Frage: "Was will Putin?" und korrigiert die mediale Darstellung Putins als eines russischen Präsidenten, der hauptsächlich aus gekränktem Stolz über den Zerfall der Sowjetunion handelt.

Den Expansionsdrang, der oft Putin unterstellt wird, zeichnet Wolfgang Richter eher auf Seite der Nato nach. Der frühere Bundeswehr-Oberst Richter betont legitime Sicherheitsinteressen Moskaus, die immer wieder vor allem von den USA ignoriert wurden. Seinen Artikel begann er mit den, rückblickend als letzte Chance für den Frieden erkennbaren, Verhandlungsangeboten Moskaus:

"Am 17.Dezember vergangenen Jahres hat Moskau mit zwei Vertragsentwürfen verdeutlicht, worum es ihm geht, nämlich eine weitere Ausdehnung der Nato nach Osten zu verhindern und dafür verbindliche Zusicherungen zu erhalten. Dabei beruft er sich auf die Nato-Russland-Vereinbarungen der 1990er Jahre… (…) Die Vorschläge wurden im Januar 2022 sowohl bilateral mit den USA in Genf als auch multilateral im Nato-Russland-Rat und in der OSZE diskutiert. Der Westen wies russische Forderungen nach einem Ende der Nato-Erweiterung zurück und verlangte, Moskau solle seine Truppen von den Grenzen zur Ukraine abziehen."

Moskau bezog sich dabei auf "...mündliche Äußerungen des amerikanischen Außenministers James Baker und des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher von 1990, laut denen die Nato nicht beabsichtigte, sich nach der deutschen Vereinigung weiter Richtung Osten auszudehnen."4 [17]

Nachdem Moskau seine Truppen aus Osteuropa zurückgezogen hatte, wollte der Westen von diesen Zusicherungen bekanntlich nichts mehr wissen. Die folgende Nato-Ostexpansion wurde begleitet von fruchtlosen Verhandlungen über friedenssichernde Änderungen der KSE-Verträge (Konventionelle Streitkräfte in Europa), die letztlich Washington torpedierte:

"Das KSE-Anpassungsabkommen ist nicht in Kraft getreten, obwohl Russland es 2004 ratifiziert hat. Im Bündnis blockierten die USA die Ratifizierung des AKSE, nachdem George W.Bush 2001 sein Amt als US-Präsident angetreten hatte."

Im Fazit lässt sich Wolfgang Richters Darstellung kaum anders als so deuten, dass USA und Nato die russische Seite von 1991 bis 2022 fortgesetzt in eine Eskalation hineintrieben, die über eine erodierte Sicherheitsordnung jetzt im gleichwohl völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine mündeten.

Vorausgegangen war seitens der Nato mithin das Ableugnen, Aufkündigen oder Brechen von sicherheitspolitisch bedeutsamen Verabredungen und Verträgen. Eine Mitverantwortung der westlichen Seite betrifft, so Richter implizit, auch zuvor wiederholt begangene völkerrechtswidrige Angriffskriege der Nato, beginnend mit dem Überfall auf Jugoslawien, die Russland nun als Rechtfertigung seines Überfalls auf die Ukraine nutzen kann.

Geopolitik und Propaganda

Wenn alle Seiten auf ihren Standpunkten beharren, steigen die Chancen, dass es einen großen Krieg gibt. Die Anzeichen dafür mehren sich. Moskau verlegt immer mehr Truppen an die ukrainische Grenze.

Bundeswehr-Professor August Pradetto, Realismus vs. Krieg: Neutralität als Chance [18]

Politik-Professor August Pradetto lehrte an der Bundeswehr-Universität in Hamburg und schrieb diese Zeilen vor etwa zwei bis drei Wochen. Sein Text bleibt nicht bei der Andeutung, dass man die Schuld eines Krieges nicht allein bei Moskau suchen sollte. Schon nach der Sezession der Krim 2014 vertrat Pradetto eine Sichtweise, die wohl viele damals und noch mehr heute mit dem Unwort "Putinversteher" diffamieren würden.

Geopolitisch haben die USA und andere westliche Länder nach dem Ende des Kalten Krieges alles getan, um ihre Einflusssphären auszudehnen, und zwar keineswegs nur friedlich, etwa über die Erweiterung der EU, sondern auch mit einer globalen Ausweitung ihres Stützpunktsystems, der Entwicklung von Generationen hochmoderner Waffen und einer Reihe von völkerrechtswidrigen Kriegen, von Kosovo über den Irak bis Libyen (jedenfalls bei der Absetzung Gaddafis).

Kurzum: Der militärisch gestützte Regimewechsel ist seit 1995 zu einem Kennzeichen westlicher Außenpolitik geworden. Möglich war das nur aufgrund der großen wirtschaftlichen und militärischen Übermacht des Westens.

August Pradetto, Die Krim, die bösen Russen und der empörte Westen [19]

Selbst Kissinger warnte Nato vor Ukraine-Aufnahme

Pradetto verweist auch noch im Kriegsjahr 2022 darauf, dass Washington sich beim Expansionsdrang in Osteuropa gegenüber mäßigenden Stimmen sogar der Realistischen Schule in der US-Politik taub stellte:

"Die meisten führenden Politiker und Theoretiker der Realistischen Schule gerade in den USA -von Henry Kissinger über Rovert McNamara, Samm Nunn, Paul Nitze, George F. Kennan bis John Mearsheimer- haben sich gegen eine Aufnahme der Ukraine in die Nato ausgesprochen. Maßgeblich bei der US-amerikanischen Nato-Erweiterungspolitik waren aber von Beginn der Administration unter George W. Bush an jene neokonservativen Kräfte, die den hegemonialen Traum eines 'New American Century' verfolgten und bereits 2002 neben der möglichst schnellen Integration praktisch aller osteuropäischen Staaten auch die Ukraine ins Auge fassten."5 [20]

Ein Washingtoner Urgestein wie Henry Kissinger gilt nicht als Russenfreund, seine Ablehnung der Ukraine-Nato-Aufnahme kann daher kaum mit dem Unwort "Putinversteher" abgetan werden. Das Project New American Century (PNAC), so kann man ergänzen, hatte eine Remilitarisierung des Westens mit umstrittenen Mitteln gefordert und gilt als Sprachrohr des Militärisch-Industriellen Komplexes in der US-Administration. Pradetto beschreibt die Aktivitäten der USA in der Ukraine konkreter und enthüllt dabei Fakten, die man in unseren Medien selten finden konnte:6 [21]

Seit dem politischen Umbruch in der Ukraine 2014 unterhalten die USA Ausbildungsprogramme, trainieren das ukrainische Militär nach Nato-Standards und beliefern die Ukraine mit Waffen -ebenfalls gegen die Sicherheitsbedenken westeuropäischer Verbündeter. Diese Aktivitäten wurden im Jahr 2021 massiv verstärkt. Von Washington gelieferte panzerbrechende Lenkraketen werden mittlerweile an der Front gegen die Kräfte der beiden abtrünnigen "Volksrepubliken" eingesetzt. (…)

Dies alles ist keine Rechtfertigung für die russische Einmischung in ukrainische Angelegenheiten und schon gar nicht für eine russische Intervention. Im Ergebnis bewirkt die Politik der US-Administration aber eine Eskalation nicht nur mit politischen, sondern auch mit militärischen Mitteln.

August Pradetto

USA eskalierten Ukraine-Konflikt auch militärisch

Die USA eskalierten den Ukraine-Konflikt also bereits seit 2014 auch mit militärischen Mitteln. Das mag jene Kommentatoren schockieren, welche die Kriegsgründe derzeit vornehmlich "in Putins Kopf" suchen, in den "man nicht hineinschauen könne". Pradetto hatte schon 2017 auf das Eingreifen von US-Söldnern in der Ukraine und die Kooperation der Kiewer Regierung mit dem Rechten Sektor hingewiesen:7 [22]

Auf der anderen Seite hatte der deutsche Nachrichtendienst BND schon Anfang Mai 2014 gemeldet, dass 400 US-Söldner des Militärdienstleisters Academi (früher Blackwater) den Kampf der ukrainischen Armee gegen die Separatisten unterstützten (vgl. Spiegel Online 2014a) – was ohne Einverständnis Washingtons nicht möglich wäre. (…) Mitte August 2014 vereinbarte die ukrainische Regierung mit dem rechtsradikalen Rechten Sektor eine Zusammenarbeit, seine Legalisierung sowie die Freilassung von Mitgliedern, die wegen illegalen Waffenbesitzes festgenommen worden waren.

August Pradetto [23]

Vor vier Jahren war man sich des Problems von Rechtsradikalen und Neo-Nazis in der Ukraine noch bewusst [24].

Doch zurück zum aktuellen Artikel Pradettos. Was die Haltung der Nato zur Ukraine angeht, kritisiert der Bundeswehr-Professor die USA, aber auch die ukrainische Führung, der er Naivität vorwirft:

"In Washington wird negiert, in welch katastrophale Lage man Europa bringt, wenn man auf dem vermeintlichen Recht beharrt, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Der größte Realitätsverlust ist Kiew zu bescheinigen. In einem Krieg mit Russland wird dem Land außer Solidaritätsbekundungen und Hilfspaketen wenig Unterstützung zuteil werden. Die Ukraine wird, wenn es hart auf hart kommt, allein dastehen."

Derzeit scheint es, als sollte August Pradetto damit Recht behalten, obwohl die geschnürten Hilfspakete immer mehr militärische Güter und Waffen erhalten. Der Bitte Kiews an London, die Royal Air Force sollte russische Kampfjets abschießen, wurde bislang nicht entsprochen, wohl aus Angst vor der Entfesselung eines Atomkrieges.

Offenbar sah Putin sich jedoch genötigt, den Westen noch einmal nachdrücklich an seine Atomstreitmacht zu erinnern, die für den Fall eines Nato-Angriffs auf russische Truppen bereitsteht. Das Gleichgewicht des Schreckens hat mit dem Ende des Kalten Krieges nicht aufgehört zu existieren. Die Situation der Ukraine erinnert an die Georgiens 2008, wie sie Oberst Wolfgang Richter beschrieb.

Doch nicht nur Kiew, auch EU und USA haben ihr Blatt überzogen, befürchtet August Pradetto, denn sie übersehen, dass ein Großteil der Welt ihre Expansion gegen die Grenzen Russlands nicht so wahrnimmt, wie unsere Westmedien sie uns darstellen:

Die USA und die Nato werden in einem solchen Fall, wie auch immer das Ergebnis letztlich aussieht, international ebenfalls verlieren… auch, weil kaum jemand in der Welt außerhalb der Nato versteht, dass die USA ihre Geostrategie so vorantreiben, dass es zu derartigen Konflikten kommt. Es ist ja keineswegs nur China, das sich an die Seite Moskaus stellt, sondern auch potentielle Verbündete wie Indien.

August Pradetto, Realismus vs. Krieg: Neutralität als Chance [25]

Was erklären könnte, warum die in unseren Medien als vermeintlicher PR-Sieg gegen Moskau gefeierte UN-Resolution zur Verurteilung des (unzweifelhaft völkerrechtswidrigen) russischen Angriffs auf Kiew von fünf Staaten abgelehnt und von weiteren 35 Staaten mit Enthaltung quittiert wurde.

Im Sicherheitsrat hatten sich bereits mit China und Indien die volkreichsten Staaten einer Verurteilung Moskaus verweigert. Pradetto mahnt als politische Lösung abschließend eine Neutralität der Ukraine als einzig realistische Lösung an:8 [26]

"Was auch immer passiert, ob die Teilung der Ukraine andauert, der Westteil in die Nato kommt und ein Teil im Osten sich nach Russland orientiert, die Nato-Mitgliedschaft in der Schwebe und der Status quo aufrecht erhalten bleibt, ob russische Truppen weitere Gebiete besetzen oder gar ein Regimewechsel in Kiew inszeniert wird: Die Ukraine bliebe ein europäischer Konfliktfall und ein sicherheitspolitisches Risiko ersten Ranges an der Bruchstelle zwischen Nato und Russland. In einer neutralen oder blockfreien Position kann sie umgekehrt zu einem zentralen Baustein einer europäischen Friedensordnung werden…"

Nun wird diese Lösung erst am Ende eines blutigen Waffengangs möglich werden, nachdem viele Menschen sinnlos ihr Leben lassen mussten. Wie konnte es dazu kommen?

Rationale Strategen wurden hierzulande als "Putinversteher" diffamiert, Friedenspolitik zugunsten bellizistischer Propaganda links liegen gelassen. So lässt sich die scharfzüngige Ursachenanalyse des Historikers Bernd Greiner zusammenfassen, die abschließend dargestellt werden soll.

Schnappatmung und brusttrommelnde Überheblichkeit

Sollte es tatsächlich zu einem kalten oder gar heißen Krieg mit Russland um die Ukraine kommen, so lässt sich bereits jetzt feststellen, dass der Westen -ungeachtet der von Moskau betriebenen militärischen Eskalation- einen erklecklichen Teil dazu beigetragen hat.

Bernd Greiner, "Alleintäter Russland": Wie man Feuer mit Benzin löscht [27]

So beginnt der Beitrag des Hamburger Politik-Professors Bernd Greiner, der auch Leiter eines "Berliner Kollegs Kalter Krieg" ist. Konkreter als Pradetto verweist Greiner auf die Realistische Schule und ihre Warnungen vor der aktuell auf die Spitze getriebenen Nato-Expansionspolitik:9 [28]

"George F. Kennan, der große alte Mann amerikanischer Nachkriegsdiplomatie, geißelte die geplante Ost-Erweiterung der Nato bereits 1997 als einen schicksalhaften Fehler… John Mearsheimer, der wohl bekannteste Vertreter der 'realistischen Schule'… sieht… die gegenwärtige Zuspitzung auch als 'direkte Folge der närrischen Entscheidung der USA und ihrer Verbündeten, die Ukraine in die Nato bringen zu wollen'."

Greiner und kritisiert vor diesem Hintergrund unsere Medien, denen neuerdings russische Sicherheitsinteressen nur noch als "Petitesse" gelten. Er fordert einen anderen Umgang mit Russland, denn er attestiert dem deutschen Mediendiskurs zu Russland unter anderem "geschichtsvergessene Arroganz", "das Verdrängen nüchterner Analyse durch Küchenpsychologie" (bzgl. Putins Paranoia und Expansionsgelüsten), "brusttrommelnde Überheblichkeit" und "reflexhafte Schnappatmung" durch "Intellektuelle, die… kraftmeiernd im Schützengraben ihren Ort gefunden haben"10 [29]

Diese Kritik scheint kaum übermäßig polemisch angesichts dessen, was man seit Kriegsausbruch von Politik und Medien in Deutschland zu hören bekam. Auch die hier zitierten Blätter haben nicht nur Nato-Kritikern, sondern auch, nach Auffassung des Autors, ausgesprochenem Bellizismus, etwa jenem von Herfried Münkler [30], viele Seiten zur Feier der Überlegenheit des Westens und seiner Werte eingeräumt.

Derzeit sehen westliche Medien sich der Kritik des Rassismus ausgesetzt, etwa von der auch im Westen bekannten indischen Journalistin Swati Chaturvedi, der Reporter ohne Grenzen einen Preis für mutigen Journalismus verlieh: "Russia-Ukraine war: Racism of Western media is shameful" [31].

Das dazugehörige Bild zeigt westliche Pressevertreter, die ihre Kamera auf eine gequälte ukrainische Frau mit Kind richten, dabei aber eine muslimische Frau mit Kind ignorieren, die sich ebenso durch Stacheldraht quält. Eine Erinnerung z.B. an den Jemen-Krieg, die schlimmste humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts: Nach sieben Tagen Ukrainekrieg sahen wir mehr Bilder leidender Zivilisten als in sieben Jahren des immer wieder von Politikredaktionen "vergessenen" Jemenkriegs [32].

Anzufügen ist noch, dass Prof. Greiner Experte für die Geschichte der Menschenrechtsverletzungen in modernen Kriegen ist, sein Buch über den Vietnamkrieg wurde diesbezüglich bereits von Telepolis zitiert [33].


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[1] https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/maerz/realismus-vs-krieg-neutralitaet-als-chance
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[3] https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/maerz/nostalgie-und-autoritarismus-das-toxische-erbe-der-sowjetunion
[4] https://www.heise.de/tp/features/Ukrainekrieg-Unerhoerte-Stimmen-aus-der-Bundeswehr-6547358.html?view=fussnoten#f_1
[5] https://www.swp-berlin.org/assets/swp/people/life_career/Lebenslauf_Wolfgang_Richter.pdf
[6] https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/maerz/im-spannungsfeld-von-nato-und-russland
[7] https://www.heise.de/tp/features/Ukrainekrieg-Unerhoerte-Stimmen-aus-der-Bundeswehr-6547358.html?view=fussnoten#f_2
[8] https://www.osce.org/de/mc/39503
[9] https://www.bundestag.de/resource/blob/189558/21543d1184c1f627412a3426e86a97cd/charta-data.pdf
[10] https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/abruestung-ruestungskontrolle/-/203008
[11] https://www.heise.de/tp/features/Ukrainekrieg-Unerhoerte-Stimmen-aus-der-Bundeswehr-6547358.html?view=fussnoten#f_3
[12] https://www.atomwaffena-z.info/geschichte/ruestungskontrolle/abm-vertrag.html
[13] https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/maerz/im-spannungsfeld-von-nato-und-russland
[14] https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/maerz/im-spannungsfeld-von-nato-und-russland
[15] https://www.arte.tv/de/videos/106141-046-A/arte-journal/
[16] https://www.euractiv.de/section/prioritaten-der-eu-fur-2020/news/eu-bericht-georgien-begann-kaukasuskrieg/
[17] https://www.heise.de/tp/features/Ukrainekrieg-Unerhoerte-Stimmen-aus-der-Bundeswehr-6547358.html?view=fussnoten#f_4
[18] https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/maerz/realismus-vs-krieg-neutralitaet-als-chance
[19] https://www.blaetter.de/ausgabe/2014/mai/die-krim-die-boesen-russen-und-der-empoerte-westen
[20] https://www.heise.de/tp/features/Ukrainekrieg-Unerhoerte-Stimmen-aus-der-Bundeswehr-6547358.html?view=fussnoten#f_5
[21] https://www.heise.de/tp/features/Ukrainekrieg-Unerhoerte-Stimmen-aus-der-Bundeswehr-6547358.html?view=fussnoten#f_6
[22] https://www.heise.de/tp/features/Ukrainekrieg-Unerhoerte-Stimmen-aus-der-Bundeswehr-6547358.html?view=fussnoten#f_7
[23] https://www.researchgate.net/publication/331691584_Die_Ukraine_Russland_und_der_Westen_Die_Inszenierung_einer_Krise_als_geopolitischer_Konflikt
[24] https://www.reuters.com/article/us-cohen-ukraine-commentary/commentary-ukraines-neo-nazi-problem-idUSKBN1GV2TY
[25] https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/maerz/realismus-vs-krieg-neutralitaet-als-chance
[26] https://www.heise.de/tp/features/Ukrainekrieg-Unerhoerte-Stimmen-aus-der-Bundeswehr-6547358.html?view=fussnoten#f_8
[27] https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/maerz/alleintaeter-russland-wie-man-feuer-mit-benzin-loescht
[28] https://www.heise.de/tp/features/Ukrainekrieg-Unerhoerte-Stimmen-aus-der-Bundeswehr-6547358.html?view=fussnoten#f_9
[29] https://www.heise.de/tp/features/Ukrainekrieg-Unerhoerte-Stimmen-aus-der-Bundeswehr-6547358.html?view=fussnoten#f_10
[30] https://www.blaetter.de/ausgabe/2021/oktober/eine-weltordnung-ohne-hueter-afghanistan-als-globale-zaesur
[31] https://gulfnews.com/opinion/op-eds/russia-ukraine-war-racism-of-western-media-is-shameful-1.86103686
[32] https://www.heise.de/tp/features/Wahrheitsliebe-in-Zeiten-der-Cholera-Jemen-Berichterstattung-mangelhaft-3839460.html?seite=all
[33] https://www.heise.de/tp/features/Hybride-Kriegsfuehrung-verdeckte-Operationen-und-geheime-Kriege-3374228.html?seite=all