Ukrainischer Kommandeur räumt "Pattsituation" ein: Was nun?
Eine Einheit der ukrainischen Streitkräfte, die Flugabwehrsystem MR-2 Viktor einsetzt. Bild: Armyinform
Kiew gibt erstmals zu: Wir stecken fest. Doch Selenskyj tabuisiert weiter Diplomatie. Warum selbst die US-Presse beginnt, den Krieg als Last anzusehen. Gastbeitrag.
Der oberste Befehlshaber der Ukraine hat eingeräumt, dass sich seine Armee derzeit in einer "Pattsituation" mit Russland befindet, die ein baldiges Ende unwahrscheinlich macht.
General Walerij Saluschnyj sagte gegenüber The Economist [1]: "Wie im Ersten Weltkrieg haben wir ein technologisches Niveau erreicht, das uns in eine Pattsituation bringt. Es wird höchstwahrscheinlich keinen tiefen und erfreulichen Durchbruch geben."
Es ist bisher das deutlichste Eingeständnis des ukrainischen Militärs, dass seine Gegenoffensive ins Stocken geraten ist, und kommt "inmitten einer größeren Anstrengung ukrainischer Offizieller, die Erwartungen der Verbündeten auf einen schnellen Erfolg auf dem Schlachtfeld zu dämpfen, während sie sie drängen, die militärische Unterstützung aufrechtzuerhalten, damit die Ukraine den Vorteil auf dem Schlachtfeld erlangen kann", so die New York Times [2].
Doch trotz des zermürbenden Krieges und der schwindenden internationalen Aufmerksamkeit und Unterstützung ist die Diskussion über eine Verhandlungslösung mit Russland in Kiew immer noch ein "Tabu", heißt es in einem neuen Time-Artikel [3] über den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Selenskyjs Hartnäckigkeit, so sagen einige seiner Mitarbeiter, habe die Bemühungen von ihnen um eine neue Strategie, eine neue Ausrichtung, beeinträchtigt. Während sie über die Zukunft des Krieges debattierten, blieb ein Thema tabu: die Möglichkeit, ein Friedensabkommen mit den Russen auszuhandeln,
… schreibt Simon Shuster im Time Magazine.
Selenskyj lehnt selbst einen vorübergehenden Waffenstillstand strikt ab. "Für uns würde das bedeuten, diese Wunde für künftige Generationen offen zu lassen", sagt der Präsident.
Shuster berichtet aus Kiew, dass viele der BefĂĽrchtungen, die angesichts der Finanzierung und Bewaffnung der Ukraine ohne klares "Endgame", also ohne realistische Zielperspektive, nun wahr werden.
UnterstĂĽtzung in USA nimmt ab
Im US-Medium Responsible Statecraft analysierte David Sacks [4] letzte Woche, welche dieser BefĂĽrchtungen sich bewahrheitet haben: Die maximalistischen Kriegsziele der Ukraine sind unrealistisch. Der lange Krieg hat Selenskyjs Armee dezimiert. Kiews Wehrpflichtpolitik wird immer drakonischer. Die Moral im Lande bricht zusammen. Und die Korruption in der Regierung verbreitet sich zunehmend.
Die sich verändernde Dynamik im Land und auf dem Schlachtfeld geht einher mit der nachlassenden Unterstützung durch die wichtigsten internationalen Geberländer der Ukraine. Im Artikel konzentriert sich Shuster in erster Linie auf Washington, wo die Abneigung gegen die Finanzierung Kiews – vor allem seitens der Republikaner im Kongress [5] – in den letzten Monaten stetig zugenommen hat und sich der Schwerpunkt mit dem Ausbruch des Krieges im Nahen Osten schnell von Europa weg verlagert hat.
Die neue Strategie der Biden-Regierung, die die Unterstützung Kiews als gut für die US-amerikanische Wirtschaft [6] darzustellen und die nächste Tranche der Hilfe mit einer Reihe anderer politischer Prioritäten zu kombinieren [7], zeigt, dass die Kriegsbemühungen der Ukraine nicht mehr die gleiche politische Kraft haben wie früher.
Auch die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten hat sich tendenziell von der Hilfe für die Ukraine abgewendet.
"Die öffentliche Unterstützung für die Hilfe an die Ukraine ist in den USA seit Monaten rückläufig, und Selenskyjs Besuch hat nichts dazu beigetragen, sie wiederzubeleben", heißt es in dem Time-Artikel.
Laut einer Reuters-Umfrage, die kurz nach Selenskyjs Abreise [von einem Besuch in Washington im September] durchgefĂĽhrt wurde, wollen 41 Prozent der US-Amerikaner, dass der US-Kongress mehr Waffen an Kiew liefert, gegenĂĽber 65 Prozent im Juni, als die Ukraine eine groĂźe Gegenoffensive startete.
Wie Anatol Lieven vom Quincy Institute bereits vor ĂĽber einem Jahr argumentierte [8]:
Jede Friedensinitiative wird von den Vereinigten Staaten ausgehen müssen. (...) Die Fähigkeit der ukrainischen Regierung zu verhandeln, wird durch die (verständliche) Wut über die russische Invasion und die russischen Gräueltaten, durch den Druck der ukrainischen Hardliner, vor allem im Militär, und mehr und mehr auch durch die eigene Rhetorik der Regierung beeinträchtigt, die die Ukraine auf Ziele (wie die Rückgewinnung der Krim) festlegt, die nur durch einen totalen militärischen Sieg über Russland erreicht werden könnten.
Selenskyjs Zögern, eine diplomatische Lösung mit der Invasionsmacht anzustreben, ist verständlich und wird sich ohne die Unterstützung Washingtons nur schwer ändern lassen. Die vom Magazin Time dargelegten, immer deutlicher werdenden Realitäten des Krieges könnten die Biden-Regierung jedoch dazu veranlassen.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original [9]. Ăśbersetzung: David GoeĂźmann [10].
URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9355566
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.economist.com/podcasts/2023/11/02/ukraines-commander-in-chief-valery-zaluzhny-on-the-wars-stalemate
[2] https://www.nytimes.com/2023/11/02/world/europe/ukraine-zaluzhny-war.html#:~:text=Ukraine%27s%20Top%20Commander%20Says%20War%20Has%20Hit%20a%20%27Stalemate%27,require%20advances%20in%20technological%20warfare
[3] https://time.com/6329188/ukraine-volodymyr-zelensky-interview/
[4] https://responsiblestatecraft.org/zelensky-war-time-magazine/
[5] https://responsiblestatecraft.org/ukraine-aid-government-shutdown/
[6] https://www.politico.com/news/2023/10/25/biden-ukraine-aid-messaging-00123466
[7] https://apnews.com/article/joe-biden-ukraine-israel-budget-3762a0bdf00653e3c8a38175d3c3d3cb
[8] https://responsiblestatecraft.org/2022/09/22/tick-tock-putin-escalation-begins-countdown-of-diplomacy-clock/
[9] https://responsiblestatecraft.org/ukraine-war-stalemate/
[10] https://www.telepolis.de/autoren/David-Goessmann-7143590.html
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