(Un-)freundliche Vereinnahmung
Die Schule ist und bleibt eine Zwangsgemeinschaft. Manchmal zeigt sich das besonders deutlich an den kleinen Dingen
Ein Kind beendet die Grundschule, und ganz zum Schluss wird es von der Rektorin noch als Statistin zu einem Mini-Kirchentag verpflichtet. Nachrichten zu der Trennung von Kirche und Staat im Jahre 2012.
Schulabschlüsse, man weiß es, sind eine emotionale Angelegenheit. In den Jahren an der jeweiligen Schule hat man sich an sie gewöhnt, egal wie bescheiden sie gewesen sein mag, und das gilt für Schüler, Eltern und Lehrer gleichermaßen. Die Schule, auf die meine Tochter Clara (10) in den letzten vier Jahren gegangen ist (wie seinerzeit ihr älterer Bruder auch schon) kann sicher nicht als bescheiden bezeichnet werden. Brauchbares Konzept, ein angenehmes Gebäude (abgesehen von der deutlichen Überbelegung in den letzten Jahren), engagierte Pädagogen - diese Schule war eigentlich so, wie man sich eine moderne Grundschule vorstellt. Eigentlich - wenn da nicht diese winzige Kleinigkeit der Religiosität und des Religionsunterrichts gewesen wäre.
Wohlgemerkt, ich spreche hier nicht von einer religiös gebundenen oder ausgerichteten Schule. Sie ist in öffentlicher Hand und wird von Stadt und Land unterhalten und betrieben. Aber natürlich gibt es dort, wie an jeder anderen öffentlichen Schule in Baden-Württemberg, christlichen Religionsunterricht in beiden Hauptgeschmacksrichtungen. Meine beiden Kinder wollten der religiösen Indoktrinierung von sich aus eine Chance geben, und da sie nicht mein Eigentum sind, untersagte ich ihnen das auch nicht.
Mein Sohn Paul (heute 16) verließ dann den Religionsunterricht trotzdem - weil er mit dem Unfug nichts mehr anfangen konnte. War es der Religionslehrerin doch eines Tages eingefallen zu behaupten, dass Menschen zehn Finger haben, um die zehn Gebote der Bibel besser abzählen zu können. Weil ihm der Ausruf "Ach Gott!" entfahren war, ließ sie ihn eine Strafarbeit anfertigen - und dergleichen pädagogische und wissenschaftliche Großleistungen mehr. Clara, die es auch noch einmal mit derselben Lehrkraft probieren wollte, hatte ebenso eines Tages keine Lust mehr - diese Frau sei zu grob, sie erkläre nichts und rede dazu noch viel zu schnell.
Eigentlich gerne Pfarrerin
Meine beiden Kinder hatten nun also ihre Erfahrung mit dem schulischen Religionsunterricht gemacht und eine informierte Entscheidung getroffen. Aber wenn sie geglaubt hatten, dadurch ihrer religiös-schulischen Sorgen ledig zu sein, dann hatten sie sich getäuscht. Denn ausgerechnet den Schulabschluss von Clara verwandelte ihre Rektorin in einen improvisierten Mini-Kirchentag. Offensichtlich war sie der Meinung, dass die Abschied nehmenden Schüler nur mit einem Vaterunser und verschiedenen anderen gläubigen Texten und Liedern gut in ihr weiteres Leben entlassen werden konnten. Und ob das alle anderen Anwesenden - zuerst natürlich die Kinder selbst - ebenso sahen, war ihr vollkommen egal. Um ihre kleine Eskapade mit einem Anschein von Legitimation zu versehen, behauptete sie:
Es gibt hier evangelische und katholische Kinder, muslimische und welche, die nicht getauft sind, aber bei allen ist der Gott der gleiche.
Die Wirkung ihrer flotten Vereinnahmung bestand natürlich darin, alle vor den Kopf zu stoßen, deren Gott nicht nur nicht "der gleiche", sondern tot, beurlaubt oder nie über den Status einer unbelegten Annahme hinausgekommen war. Diejenigen im Publikum und unter den Schülern, die weder beim Beten noch beim Singen mittun wollten, fanden sich flugs von den liebevollen Christen zu Außenseitern und Zeugen der üblichen christlichen Selbstbeweihräucherung degradiert. Die besagte Religionslehrerin winkte beim Singen eifrig mit ihren Händen, womöglich dabei an ihren zehn Fingern die zehn Gebote abzählend. Es roch etwas streng nach früheren Zeiten, auf ähnliche Weise wie es Bertolt Brecht in seinem Gedicht "Peinlicher Vorfall" zum katholischen Coming Out des einstmals verehrten Alfred Döblin beschrieben hat.
Da betrat der gefeierte Gott die Plattform (…)
Bertolt Brecht, Die Gedichte
Und erklärte mit lauter Stimme
Vor meinen schweißgebadeten Freunden und Schülern
Daß er soeben eine Erleuchtung erlitten habe und nunmehr
Religiös geworden sei und mit unziemlicher Hast
Setzte er sich herausfordernd einen mottenzerfressenen Pfaffenhut auf
Ging unzüchtig auf die Knie nieder und stimmte
Schamlos ein freches Kirchenlied an, so die irreligiösen Gefühle
Seiner Zuhörer verletzend, unter denen
Jugendliche waren.
Paul hatte bei der Verabschiedung seiner Schwester von der Schule dabei sein wollen, die auch seine Grundschule gewesen war. Jetzt verließ er genervt die Aula. Ich tat es ihm nach, womöglich noch genervter.
In den zehn Jahren, in denen ich die Rektorin dieser Schule kennengelernt habe, war sie mir in der Regel als kompetente Pädagogin mit Übersicht erschienen. Selbst der unangenehme, singende Sprachduktus, mit dem sie ihre Zuhörer bei offiziellen Gelegenheiten traktierte, hatte in mir nie einen Verdacht aufkeimen lassen, aber die verkorkste Schulabschluss-Zeremonie meiner Tochter brachte dann immerhin den einen Erkenntnisgewinn: Die Rektorin wäre eigentlich gerne Pfarrerin geworden. Und angesichts ihrer Fähigkeit und Bereitschaft zur ausgrenzenden Vereinnahmung wäre das sicher auch eine gute berufliche Alternative gewesen.
Was die insgesamt zu beobachtende Zunahme der traditionell christlich überformten Ritualisierung angeht, könnte man mit den Schultern zucken und auf die nächsten Generationen hoffen. Das ist die optimistische Sicht der Dinge - allerdings bleibt die Sorge berechtigt, dass die neuen, alten Rituale in Wirklichkeit nur eine Angstreaktion auf eine zerbröselnde Gesellschaft sind. Schüler mit ein bisschen Kreationismus, Strafarbeiten, dem Vaterunser und naiv-delirösen Gesängen auf die Realität dieser Gesellschaft vorbereiten zu wollen - das ist in jedem Fall eine Kette peinlicher Vorfälle.