Ungarn und Polen: Knackpunkt Putin
Ukrainekrieg: Die "Cousins" mit einer langen gemeinsamen Geschichte gehen getrennte Wege
Vor allem sollten zwei Lehren aus der ungarischen Wahl [1] gezogen werden. Die erste: Hände weg vom Verhältniswahlrecht. Denn nur dank dem Mehrheitswahlrecht konnte Fidesz Zweidrittel der Parlamentssitze für sich erlangen. Auch die polnische rechtskonservative Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, kurz PiS) liebäugelte mit einer entsprechenden Verfassungsänderung. Die zweite Lehre: Das Gebot, gemeinsame Oppositionskandidaten aufzustellen.
In beiden Ländern war die Opposition zerstritten und die einzelnen Akteure verfolgten viel mehr ihre politischen Interessen als sich hinter eine gemeinsame Idee zu vereinen. Die Parteien der polnischen Opposition hatten diese Warnung in den Wind geschlagen und verloren bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2019 zum zweiten Mal in Folge gegen die PiS.
Am Wahlsystem, das Orbán an seine Erfordernisse angepasst hatte, konnte die ungarische Opposition nicht rütteln, doch zumindest im zweiten Punkt zog sie ihre Lehren für sich und schloss sich für die Parlamentswahl vom 3. April 2022 zum Wahlbündnis "Ungarn in Einheit" zusammen. Spitzenkandidat Péter Márki-Zay konnte sich gegen die regierende Fidesz dennoch nicht durchsetzen und das Parteibündnis verlor mit 35 zu 53 Prozent der Stimmen. So kann Viktor Orbán nun seine vierte Amtszeit antreten.
Brüder im Unglück
Trotz Unterschieden in Sprache und Kultur verbindet Polen und Ungarn eine lang zurückreichende Geschichte der Völkerfreundschaft. Mit Stephan Báthory wurde im 16. Jahrhundert ein Ungar zum polnischen König gekrönt und in der Ostblock-Phase herrschte ein reger Austausch zwischen den beiden Ländern. Eine gängige polnische und ungarische Redewendung spricht von Polen und Ungarn als zwei "wehrhaften und trinkfesten Cousins bzw. Freunden".
Polen und Ungarn hatten Ende der 1980-er Jahre als erste Staaten des ehemaligen Ostblocks den Systemwandel in Osteuropa eingeleitet und sich dem wirtschaftlichen Neoliberalismus voll und ganz verschrieben. So mag es kein Zufall gewesen sein, dass gerade sie es waren, die ein Vierteljahrhundert später mit der Kür rechtskonservativer Traditionalisten eine Art Avantgarde bildeten beim Ad-acta-Legen des neoliberalen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Experiments.
Während die Polen angesichts der desaströsen Wirtschaftslage in den 1980-er Jahren das kommunistische Regime auf der Straße bekämpften und es 1989 am Runden Tisch zur Machtaufgabe zwangen, arrangierten sich die Ungarn mit ihrem bescheidenen Wohlstand des "Gulaschkommunismus". In Budapest erkannten pragmatische Kommunisten die Zeichen der Zeit und gaben ihre Macht freiwillig ab.
Bald nach der Wende stieg Ungarn zum neoliberalen Musterschüler auf, während Polen zunächst mit ungleich größeren Strukturproblemen, Massenarbeitslosigkeit und massiven sozialen Verwerfungen zu kämpfen hatte. Als sich mit der Zeit in beiden Ländern eine wohlhabende Mittelschicht ausbildete, verharrten dennoch Millionen weiterhin in Armut. Diese Wendeverlierer wurden lange Zeit vom politischen und medialen Mainstream an den Rand und in die Bedeutungslosigkeit gedrängt und verhöhnt und wurden so zu einer leichten Beute für Populisten.
PiS-Vorsitzender Jarosław Kaczyński erklärte in der Vergangenheit immer wieder, dass Ungarns Ministerpräsident für ihn und für seine Vision für Polen ein großes Vorbild darstelle. Er unterstützte Orbán in dessen früheren Wahlkämpfen persönlich und vor Ort. "Ich bin ganz davon überzeugt, dass wir eines Tages in Warschau Budapest haben werden", sagte Kaczyński, als er noch in Opposition war. Dieses Ziel hat er 2015 schließlich erreicht.
Krzysztof Varga, polnischer Kolumnist mit einem ungarischen Vater, sprach 2018 in diesem Zusammenhang mehr von einem Mythos [2] als einer echten Völkernähe. In seinem Interview für den Deutschlandfunk sagte er:
Das Fundament der nationalen Identität in diesem Teil Europas heißt Unglück. Sowohl Polen als auch Ungarn schwelgen gern im Martyrium, beide sind Brüder im Unglück, gequält von Repressionen, stecken fest in der Geschichte. Die Zukunft scheint für sie weniger interessant zu sein als die Vergangenheit.
Krzysztof Varga
Die demonstrative Völkerfreundschaft trage heute, so Varga, nur noch die politische Rechte weiter. Selbst die Visegrád-Idee sei zu einer Worthülse verkommen. Die einzige Frage, die die Visegrád-Staaten verband, war jene der Verteilungsquote für Flüchtlinge. In anderen Belangen, etwa beim Verhältnis gegenüber Russland, verfolgte jedes Land seine eigenen Interessen.
Orbán: Treues Verhältnis zu Putin
Während die polnische Regierung seit ihrem Amtsantritt praktisch alle diplomatischen und kulturellen Verbindungen mit Russland auf ein Minimum niederfahren ließ, pflegte Orbán wie kein anderer Regierungschef Europas ein sehr enges und treues Verhältnis zum russischen Präsident Wladimir Putin. Seit 2009 trafen sich die beiden Staatschefs nahezu jährlich, zuletzt Anfang Februar 2022, nur wenige Wochen vor der russischen Invasion in der Ukraine.
Von seiner offiziell als "Friedensmission" bezeichneten Reise nach Moskau kehrte der ungarische Ministerpräsident mit einem neuen Gasliefervertrag und Garantien für Gasimporte weit unter dem marktüblichen Preis nach Budapest zurück. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz betonte Orbán die Nutzlosigkeit der EU-Sanktionen gegen Russland und lobte die gute ungarisch-russische Kooperation als beispielsgebend für andere EU-Staaten.
Auch 2014, kurz vor der Krim-Annexion, war Orbán auf Staatsbesuch in Russland, wo er Kooperationsverträge unterzeichnete, darunter über den Bau eines russischen Atomkraftwerks in Ungarn. Der Vertrag und die Finanzierung des Projektes gelten als Staatsgeheimnis. Orbán hatte sich daraufhin zunehmend dem Westen, der seiner Ansicht nach dekadent geworden sei, abgewandt. Fortan sah er die Zukunft seines Landes besser im Verbund mit Russland und China aufgehoben.
Die Erlöser
Wirtschaftsliberale Politiker der Nachwendezeit waren von einer tiefen ideellen Blockade geprägt – etwa der junge Viktor Orbán in Ungarn oder der Vater der polnischen "Schock-Therapie" Leszek Balcerowicz, aber auch Donald Tusk. Sie alle waren von neoliberalen Vordenkern des 20. Jahrhunderts, die sie aus der Oppositionsliteratur kannten, stark beeinflusst. Diese lieferten ihnen die "Roadmaps", die ihre Staaten in Richtung einer erfolgreichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation leiten sollten.
Die gesellschaftliche Entwicklung hielt mit der raschen wirtschaftlichen und der Werte- Liberalisierung nicht Schritt. Diese wurde ohnehin zumeist von urbanen Eliten und an sie gerichteten Massenmedien vorangetrieben. Die Gesellschaften Polens und Ungarns blieben noch über Jahre nach der politischen Wende demoralisiert, desorientiert und mit ihren existenziellen Sorgen in einer neuen Wirklichkeit des liberalen Kapitalismus zurück. Debatten über Gender, Homoehe, aber auch Umwelt- und Tierschutz waren für die meisten abseits der urbanen Intellektuellen-Blasen abstrakte Themen.
Sowohl Viktor Orbáns Fidesz als auch die PiS wurden auf der Welle der Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsteile mit den negativen Folgen des Transformationsprozesses an die Macht gespült. Beide traten mit dem Versprechen an, den Wendeverlierern unter die Arme greifen zu wollen, ihnen Stolz und Achtung zurückzugeben, ihre Nationen "von den Knien zu heben".
PiS und Fidesz bedienten gezielt Frustrationen der Zukurzgekommenen und sprachen Probleme, die den Menschen am Herzen lagen, besser an als es ihre wirtschaftsliberalen Vorgänger vermochten. Mit "500 plus", dem Kindergeldprogramm der PiS, wurden mit einem Schlag die gröbsten Sorgen kinderreicher Familien, welchen das Geld oft nicht mal für den Schulbedarf reichte, gelöst.
Ein großangelegtes Sozialwohnbauprogramm, Erhöhung des Mindestlohns und die Einführung einer Reichensteuer sollten ebenfalls der Armutsbekämpfung dienen. In Polen war es vor allem die erfolgreiche Sozialpolitik, die der PiS den Machterhalt sicherte, während hingegen der ideologische Überbau Kaczyńskis einen überschaubaren, eisernen Teil des PiS- Elektorats interessierte.
Orbáns Modell der "illiberalen Demokratie" stützte sich hingegen auf eine breite Unterstützung im ungarischen Volk. Ausländische Beobachter orteten bei der Mehrheit der Ungarn ein Bedürfnis nach rechten Ideologien. Dies hängt mit der Vorgeschichte zusammen. Als Orbán 2010 die Sozialisten unter Ferenc Gyurcsány als Premierminister beerbte, taumelte sein Land am Rande des Staatsbankrotts.
Die Empörung in Ungarn war groß, als Gyurcsány in einer parteiinternen Rede, die nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt war, das Versagen des Staates und jahrelanges Belügen der Öffentlichkeit zugab. Hinzu kamen schwere Korruptionsvorwürfe gegen den Premierminister. Massendemonstrationen, die von brutaler Polizeigewalt begleitet waren, beschleunigten seinen politischen Abgang.
Nach dem Wahlsieg der Fidesz unter Viktor Orbán galt es zunächst, den Staatshaushalt zu stabilisieren. Hierzu wurde auf Staatsinterventionismus gesetzt. Die Steuern auf Einkommen wurden auf 16 Prozent und für kleine und mittlere Unternehmen auf 10 Prozent gesenkt. Auf der anderen Seite wurde mit einer Bankenabgabe Geld ins Budget gespült.
Einige der ungarischen Lösungen, wie etwa eine Steuer auf großflächige Supermärkte, wurden später auch in Polen implementiert. Doch Orbáns Wirtschafts- und Sozialpolitik ging wesentlich weiter. Wie Dorottya Szikra und Mitchell A. Orenstein vom Project Syndicate darlegen (Warum Orbán wieder gewonnen hat [3]) ließ Fidesz den Mindestlohn kontinuierlich, zuletzt um 20 Prozent anheben, Familien erhalten nunmehr großzügige Förderungen für Wohnraumbeschaffung oder beim Kauf eines Pkws und ab diesem Jahr auch die Rückerstattung der Einkommenssteuer.
Kinderreiche Familien wurden von letzterer sogar weitgehend befreit. Die wirtschaftliche Erholung war Orbán gelungen. Die Arbeitslosigkeit lag nicht zuletzt dank eines groß angelegten öffentlichen Arbeitsprogramms für Menschen in ärmeren ländlichen Gebieten sowie dank Steueranreizen für Großunternehmen vor der Corona-Pandemie auf einem historischen Tief. Freilich spielten auch die EU-Transfers, die bis zu 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, eine bedeutende Rolle.
Die meisten Ungarn spürten seit dem Machtantritt der Fidesz eine deutliche Besserung ihres Lebensstandards. Dieses Jahr kamen noch weitere, wohl mehr den aktuellen Ereignissen geschuldete Maßnahmen hinzu; Orbán konnte dank seines Vertrages mit Gazprom die Gas- und Spritpreise stabil halten und er ließ Preise auf einige Grundnahrungsmittel einfrieren – so hat er es geschafft, die Inflation niedrig zu halten.
Die Gründe für die meisten Ungarn Fidesz zu wählen, waren also jenen der polnischen PiS-Wähler durchaus ähnlich, es ging in beiden Fällen um das finanziell-materielle Wohlergehen breiter Bevölkerungsschichten. Die liberale Opposition in beiden Ländern hatte bis dahin dieser Politik nicht viel entgegenzusetzen, ganz im Gegenteil – im ungarischen Wahlkampf verhöhnte sie Orbáns Sozialpolitik.
Zeitgleich mit den populären Sozial- und Arbeitsmarktreformen wurde, wie später in Polen, auch in Ungarn der Spielraum des Verfassungsgerichts beschnitten, hauptsächlich bei sozialen und wirtschaftspolitischen Entscheidungen.
Von Anfang an vertrat Orbán neben einer pro-familiären- auch eine pro-kirchliche Linie. In die neu ausgearbeitete Verfassung wurden Begriffe wie Ehre, Familie, Christentum und Nationalstolz aufgenommen, die Kirche erhielt von der öffentlichen Hand reichlich Zuwendungen. Die katholische Kirche hatte in Ungarn dennoch bei Weitem nicht jenen Einfluss auf die Tagespolitik, wie es in Polen der Fall ist.
Auch in Polen spielte die sogenannte Abhöraffäre für die Abwahl der liberalkonservativen Platforma Obywatelska (Bürgerplattform, kurz PO) von Donald Tusk eine wesentliche Rolle. Dennoch, mit der Wahl von Andrzej Duda zum Staatspräsident und dem Sieg bei den Parlamentswahlen 2015 übernahm PiS das Steuer in einem wirtschaftlich äußerst erfolgreichen Land, mit einer historisch niedrigen Arbeitslosigkeit, einer moderaten Staatsverschuldung und einer stabilen Budgetlage.
Die Staatskasse war gut gefüllt, wodurch es PiS möglich war, das großzügige Sozialprogramm zu finanzieren.
Zwei Flüchtlingskrisen, zwei Wege
Ein wesentlicher Katalysator der Wahlerfolge Orbáns und Kaczyńskis war die Flüchtlingskrise von 2015. Beide konnten aus ihr reichlich politisches Kapital schlagen, obwohl Polen die ungarische Erfahrung, als Hunderttausende Flüchtlinge auf ihrem Weg Richtung Westen durch das Land zogen, erspart blieb.
PiS und Fidesz hatten die Flüchtlingskrise zum Hochstilisieren eines äußeren Feindes genutzt. Seitdem spielen beide Parteien mit diffusen Ängsten ihrer Bevölkerungen. Über die staatlich kontrollierten Medien verbreiten sie eine harsche antiislamische Propaganda und erzeugten so bei einem beträchtlichen Teil ihrer Gesellschaften eine Stimmung der Angst vor außereuropäischen Migranten. Seitdem lassen sie sich als Garanten einer sicheren und terrorfreien Zone, als Schutzschirm gegen Fremde und als Verteidiger "christlicher Werte" feiern.
Die Nachrichten der Staatssender beider Länder verbreiten plumpe Propaganda, wobei im russischfreundlichen Ungarn, im Unterschied zu Polen, die Positionen des Kremls nahezu 1:1 übernommen werden. Zudem hatte sich Viktor Orbán einen weiteren Feind vorgeknöpft: George Soros.
Dem ungarnstämmigen 87-jährigen Holocaust-Überlebenden und Förderer liberaler Institutionen und Bildungsanstalten in Osteuropa wurde unterstellt, er wolle mit seinem Geld Millionen von Moslems nach Europa schleusen, um die Europäer ihrer christlichen und nationalen Identität zu berauben.
Die von Soros 1991 mitgegründete Zentraleuropäische Universität, die in Budapest angesiedelt war und zum Ziel hatte, offene Gesellschaften in Ost- und Mitteleuropa zu fördern, musste auf Druck der Orbán-Regierung Ungarn verlassen und nach Wien zwangsumsiedeln.
Orbán hatte alle bedeutsamen Zeitungen und TV-Stationen unter seine Kontrolle gebracht und gleichgeschaltet. Kritische Printmedien – etwa 500 Titel und Radio- und TV-Sender – wurden von regierungsnahen Geschäftsleuten aufgekauft und auf Linie gebracht bzw. geschlossen.
Die so gleichgeschalteten Zeitungen wiederholten die gleichen Schlagzeilen, Bilder und politische Inhalte. Auch die Werbebranche wird von regierungsnahen Unternehmen dominiert, sodass bis zu 90 Prozent der Werbeflächen für Regierungsbotschaften genutzt werden. Hinzu kommt ein groß angelegtes Mikrotargeting durch soziale Medien.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, kurz OSZE, sprach in diesem Zusammenhang von Unredlichkeit und ließ demokratische Standards bei den Wahlen vermissen. Wojciech Przybylski, Chefredakteur von Visegrad Insight und Mitautor des 2017 erschienenen Buches "Understanding Central Europe" bezeichnet die Wahlen als frei, aber dennoch unfair [4].
Mehr als unfair war auch der Medienzugang der Opposition während des jüngsten Wahlkampfs. Ihr Spitzenkandidat Péter Márki-Zay hatte für seinen Fernsehauftritt gerade mal fünf Minuten zugesichert bekommen, bis Mitte März wurden Vertreter der Opposition nur acht Mal ins Fernsehstudio eingeladen. Damit hatten sie auch kaum Chancen, ihr programmatisches Wahlangebot zu präsentieren. Auch NGOs wurden in Orbáns Ungarn bei ihrer Arbeit massiv gehindert und mit hohen Steuern belegt.
In Polen ist die Medienvielfalt größtenteils erhalten geblieben, trotz mehrerer Versuche der Einschüchterung und Kontrollübernahme durch die PiS. Inzwischen erreichen kommerzielle regierungskritische Sender eine höhere Reichweite als die staatlichen Kanäle. Laut Internetportal wirtualnemedia.pl ziehen die Hauptnachrichtensendungen der Sender TVN und Polsat jeweils mehr Zuseher [5] an als jene des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.
Die zweite große Flüchtlingskrise, diesmal infolge der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022, verdeutlichte die Unterschiede in der Haltung beider Staaten gegenüber Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin.
Während Polens Regierung sich von Tag eins an klar auf Seite der Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland schlug und ihr Land in einen gigantischen Hub für den militärischen und wirtschaftlichen Nachschub für die ukrainischen Streitkräfte und für notleidende, vor dem Krieg geflüchtete Ukrainer verwandeln ließ, unter Einbezug sowohl offizieller Stellen als auch der Zivilgesellschaft, hatte Orbáns Ungarn gänzlich andere Signale ausgesendet.
Das Land hat sich geweigert, Waffenlieferungen des Westens für die Ukraine über sein Gebiet zuzulassen. Orbán begründete diese Entscheidung damit, dass er die Sicherheit der in der Westukraine lebenden 100.000 ethnischen Ungarn nicht gefährden wolle. Zwar hatte der ungarische Premierminister die erste Welle der EU-Sanktionen gegen Russland mitgetragen, doch die Verurteilung des russischen Angriffskriegs erfolgte spät und sie klang aus seinem Mund mutlos und halbherzig.
"Wir verurteilen den Krieg, vor allem, dass er hier in unserem Nachbarland stattfindet. Wir sagen Nein zur Gewalt und wir stehen zu unseren Verbündeten. Doch das Allerwichtigste ist, dass Ungarn sich aus diesem Kriegskonflikt heraushält [6]", sagte Orbán bei einem Treffen mit Bauernvertretern.
Der ungarische Finanzminister Mihaly Varga sagte in einem Facebook-Video, dass seine Regierung keine Sanktionen auf russische Energieträger unterstützen werde. Als Grund nannte er den angeblich negativen Einfluss solcher Maßnahmen auf den ungarischen Forint [7]: "Die ungarische Währung ist Opfer der Brüsseler Sanktionen, die der ungarischen Wirtschaft einen schwerwiegenden Schaden zugefügt haben." Orbán wiederum forderte bei einer Wahlkampfrede:
"Die ungarischen Familien sollen nicht mit höheren Energiepreisen den Preis für den Krieg im Nachbarland bezahlen."
Beobachtern zufolge wurde in Ungarn die Hilfsbereitschaft für die vor dem Krieg fliehenden Ukrainer in erster Linie von Privatpersonen getragen. Es war die Zivilgesellschaft, die die Koordination der Hilfsmaßnahmen übernahm, während die Regierung auf den Ansturm völlig unvorbereitet war und auch nur zögerlich reagierte [8].
"Hör zu Viktor, weißt du eigentlich was in Mariupol los ist?"
Diese Frage stellte Wolodymyr Selenskyj dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán bei einer Live-Schaltung anlässlich des EU-Gipfels am 24. März 2022:
"In Mariupol geschieht ein Massenmord und wenn du in deine eigene Geschichte zurückblickst, dann weißt du gut, wie so etwas ausgeht."
Einige Tage später, bereits nach seinem Wahlsieg, reihte Orbán den ukrainischen Staatschef Selenskyj neben "Linken im In- und Ausland, Brüsseler Bürokraten, Geldern und Organisationen von George Soros und internationalen Mainstream-Medien" in die Riege seiner "zahlreichen Gegner".
Fidesz und ihrer Propagandamaschine ist es seit 2014 gelungen, in Ungarn, das durch traumatische historische Erfahrungen mit der Sowjetdominanz gezeichnet, tendenziell antirussisch war, eine Russland-freundliche Atmosphäre aufzubauen. Gleichzeitig wurde in den Staatsmedien massiv gegen die Ukraine Stimmung gemacht, mit der Botschaft einer vermeintlichen Hetze gegen die ungarische Minderheit in der Ukraine.
Für den ungarischen Durchschnittswähler ist Wojciech Przybylski zufolge gar nicht klar, wer im Krieg in der Ukraine der Aggressor ist. Dieser denkt, dass beide Seiten im gleichen Maße am Konflikt Schuld tragen und dass Russland sich gegen Provokationen der Ukrainer zu Wehr setzt. Deswegen blieb die Botschaft der Opposition, der Urnengang wäre eine Wahl zwischen dem Westen und Russland, für die meisten Ungarn unverständlich.
Bruch unter Freunden
Bis zum Ausbruch des Kriegs in der Ukraine verblieb Orbán nur noch ein einziger treuer Verbündeter in der EU – das von PiS regierte Polen. Doch damit ist nun Schluss. PiS hatte bislang stets eine Delegation zu den Feierlichkeiten anlässlich des ungarischen Nationalfeiertags entsandt, doch dieses Jahr kam es anders.
Ein polnischer Honorarkonsul trat aus Protest zurück und die vereinte ungarische Opposition lud stattdessen Donald Tusk, den Orbán als "einen schwarzen Kater, der Unglück bringe" bezeichnete, zur Staatsfeier ein.
Selbst Politiker des polnischen Regierungslagers kritisieren mittlerweile Orbán scharf. So erklärte der polnische Präsident Duda am Tag nach dem Besuch des US-Präsidenten Biden in Warschau, dass es ihm zunehmend schwerfalle, Orbáns Russland-Politik zu verstehen. Orbán hätte Ungarn von russischer Energie abhängig gemacht und diese Politik werde für das Land sehr kostspielig werden.
Jarosław Kaczyński distanzierte sich nach dem Massaker von Butscha noch schärfer von Orbán: "Wir können nicht mehr wie bisher kooperieren [9]", sagte er gegenüber dem polnischen Radio Plus und weiter:
"Ich verheimliche es nicht, dass es alles sehr traurig ist. Mein Urteil ist eindeutig negativ. Wenn Premierminister Orbán sagt, dass er nicht sehe, was in Butscha passiert ist, dann muss man ihm raten, einen Augenarzt aufzusuchen."
Wojciech Przybylski spricht in Zusammenhang mit Viktor Orbáns Wahlerfolg von einem Pyrrhussieg. Indem dieser die Außenpolitik seines Landes den russischen Interessen untergeordnet hat, hat er den Vertrauensverlust seiner polnischen Verbündeten riskiert.
Das werde für die Zukunft massive Konsequenzen nach sich ziehen, etwa beim gemeinsamen Kampf gegen den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus der EU oder beim Hochziehen einer Koalition rechtsnationaler Parteien, zusammen mit Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński, Matteo Salvini und Marine Le Pen im EU-Parlament. Orbán habe sich selbst von der politischen Bühne weggeschossen und werde nun isoliert. Es werde für ihn auch immer schwerer, die EU-Fonds anzuzapfen, da er für die EU zu einem restlos unglaubwürdigen Partner geworden wäre.
Ungarns Szenario für Polen?
Bis vor wenigen Monaten dominierte die PiS in sämtlichen Meinungsumfragen. Die Aushebelung des Verfassungsgerichts, die Gleichschaltung öffentlich-rechtlicher Medien, katastrophale Personalentscheidungen, wie etwa im Falle des Verteidigungs- oder Außenministers, Gewalt gegen protestierende Frauen, ein Dauerkampf gegen unabhängige Medien, all das vermochte nicht, den Erfolg der PiS im sozialen Bereich zu überschatten.
Seit Beginn dieses Jahres äußern jedoch immer weniger Menschen bei der Sonntagsfrage die Absicht, der PiS ihre Stimme zu schenken. Die Unterstützung für Kaczyńskis Partei hat sich auch angesichts des Krieges im Nachbarland und eines kurzwirkenden nationalen Schulterschlusses bei 30 Prozent, 13 Prozentpunkte unter jener bei der letzten Parlamentswahl eingependelt.
Am 21. März 2022 lud Ministerpräsident Mateusz Morawiecki die Führer der Oppositionsparteien in sein Büro ein, um sich angesichts des Ukraine-Krieges gemeinsam zu beraten. Der Regierungschef und der für die nationale Sicherheit zuständige Vize-Premierminister Jarosław Kaczyński trafen sich erstmals nach vielen Jahren mit Donald Tusk, dem Vorsitzenden der größten Oppositionspartei Platforma Obywatelska.
Seit Monaten wird über einen möglichen Bruch innerhalb der rechten Koalition aus PiS und dem Juniorpartner "Solidarisches Polen" des ultrarechten Justizministers Zbigniew Ziobro spekuliert. Auch Donald Tusk gewann nach dem Treffen im Amt des Premierministers den Eindruck, dass PiS mit vorgezogenen Wahlen noch im kommenden Sommer rechne.
Vordergründig könnte Kaczyński die Notwendigkeit vorgezogener Neuwahlen als Resultat des innerkoalitionären Streits um die Justizreformen erklären; Ziobro blockiert jeden Kompromiss mit der EU und damit auch die Freigabe an Polen der insgesamt 58 Milliarden Euro aus dem Corona-Aufbaufonds. Ziobro stellt sich aber auch dem Kompromissvorschlag des Staatspräsidenten Andrzej Duda in den Weg.
Der Rausschmiss Ziobros aus der Koalition könnte so Neuwahlen notwendig machen, außer, eine Partei aus der Opposition erklärt sich bereit, gemeinsam das PiS-"Reformwerk" fortzuführen – ein eher unwahrscheinliches Szenario.
Kaczyński könnte Neuwahlen als ein notwendiges Übel verkünden, um in Wahrheit dadurch bloß die Flucht nach vorne zu ergreifen und die für seine Partei günstige Stimmung zu nutzen. Ihm ist bewusst, dass sich Polens wirtschaftliche Lage im Herbst verschlechtern werde. Die hohe Inflation, eine unweigerliche Erhöhung der Kreditraten und zunehmende Probleme mit Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine, die in Polen Zuflucht fanden, könnten die Stimmung bis dahin kippen.
Für die Verkürzung der Legislaturperiode des Sejm, des polnischen Parlaments, und damit auch für vorgezogene Wahlen bedarf es der Zweidrittelmehrheit, also auch der Zustimmung der Opposition. Diese wäre laut Klubchef der Bürgerplattform Borys Budka für Neuwahlen jederzeit bereit.
Doch die Opposition stellt eine Vorbedingung: Wechsel an der Spitze des Staatsrundfunks TVP. Dieser wäre unter dem Intendant Jacek Kurski zu einer Propagandatube der Regierungspartei verkommen und würde der Opposition, ähnlich wie in Ungarn, keinen fairen Zugang garantieren.
Die Opposition bringt sich jedenfalls in Stellung. Donald Tusk versucht bereits ein Wahlbündnis aller Oppositionsparteien zu schmieden. Er hofft, dass vorgezogene Wahlen deren Chefs zur Zusammenarbeit motivieren würden. Ohne das gemeinsame Vorgehen abzuwarten, hat Tusk den Wahlkampf bereits jetzt schon eröffnet: er verspricht, nach seinem Sieg die Löhne im öffentlichen Sektor um 20 Prozent anzuheben.
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ungarn-parlamentswahl-117.html
[2] http://www.deutschlandfunk.de/vor-der-ungarn-wahl-best-friends-mit-polen-100.html
[3] https://www.project-syndicate.org/commentary/orban-victory-in-hungary-reflects-popular-economic-policies-by-dorottya-szikra-and-mitchell-a-orenstein-2022-04/german
[4] https://wiadomosci.gazeta.pl/wiadomosci/7,114881,28295563,opozycja-mowila-o-wartosciach-za-ktore-trzeba-zaplacic-cene.html
[5] http://www.wirtualnemedia.pl/artykul/fakty-lider-programy-informacyjne-2021-rok-jak-odbierac-w-internecie
[6] https://ungarnheute.hu/news/orban-wir-muessen-verhindern-dass-die-ungarn-den-preis-des-krieges-zahlen-29691/
[7] https://magyarnemzet.hu/gazdasag/2022/03/a-forint-ellen-spekulacio-zajlik
[8] https://wiadomosci.gazeta.pl/wiadomosci/7,114881,28195881,wegry-winia-unie-za-kryzys-swojej-waluty-orban-nie-poprze-sankcji.html#do_w=46&do_v=306&do_st=RS&do_sid=716&do_a=716&s=BoxNewsImg9
[9] https://wiadomosci.gazeta.pl/wiadomosci/7,114884,28313897,kaczynski-uderza-w-orbana-jesli-nie-widzi-co-sie-zdarzylo.html
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