Ungleichheit als Megatrend des 21. Jahrhundert

Slums in der indischen Metropole Mumbai. Bild: Adam Cohn / CC BY-NC-ND 2.0

Während die Ungleichheit zwischen Norden und Süden abnimmt, wächst sie innerhalb der Länder. Die Wohlhabenden werden reicher, die Mittelschichten verlieren. Wie dem Frust ökonomisch und politisch begegnet werden sollte.

Jede Nation der Welt möchte wohlhabend sein und ihren Bürgerinnen und Bürgern einen hohen Lebensstandard bieten. Das Streben nach Wachstum und Wohlstand auf nationaler Ebene war im Laufe der Geschichte konstant und beruhte auf unterschiedlichen Auffassungen vom Wirtschaftsleben.

Der Streit um Salz und Eisen im alten China bildete den Ausgangspunkt für eine bis heute andauernde Debatte über staatliche Eingriffe und Monopolmacht, während im antiken Griechenland die "oikonomia" (Haushaltsführung) Philosophen wie Xenophon, Platon und Aristoteles in Bezug auf die Geschlechterrollen spaltete.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Monatszeitschrift Welttrends.

Seit jeher streiten sich die Titanen der Ökonomie, welche wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Maßnahmen geeignet sind, um bestimmte Ziele zu erreichen – mit wenig Aussicht auf Konsens. Dennoch können wir von ihnen lernen und manche Fehlentwicklungen erkennen. Unglücklicherweise ging die Vorstellung von Wachstum und Wohlstand einer Nation lange Zeit davon aus, dass der Wohlstand denen gehört, die an der Spitze stehen – eine Vorstellung, die immer mehr in Frage gestellt wird.

Der Lauf der Geschichte führt uns zu der immerwährenden Frage, wie eine Wirtschaft geführt werden kann, die allen oder zumindest sehr vielen zugutekommt. Es gibt inzwischen viele Analysen und eine umfangreiche Literatur darüber, dass der derzeitige Weg nicht nachhaltig ist. Er ist mit den Entwicklungsstrategien und wichtigen Zielvorstellungen, die z.B. im Rahmen der nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen niedergelegt sind, unvereinbar.

Das Überraschende an der aktuellen Entwicklung der Ungleichheit ist, dass die Märkte weniger auf internationaler Ebene versagen als auf nationaler Ebene. Die Ungleichheit zwischen den Ländern und Menschen nimmt immerhin statistisch aufgrund des Aufstiegs von Ländern wie China und Indien tendenziell ab, während sie in vielen Ländern intern zunimmt.

Trends bei der Ungleichheit

In unserem Buch "Global Perspectives on Megatrends" konzentrierten wir uns anders als manche Consultingfirmen und Denkfabriken nicht nur auf technologische, demografische und ökologische Trends, sondern haben auch Ungleichheit als einen globalen Megatrend hervorgehoben.

In Form von Interviews kommen kritische Stimmen aus Wissenschaft und Projektpraxis aus verschiedenen Staaten zu Wort, die es ermöglichen, sich unterschiedliche Perspektiven auf Ungleichheit zu erschließen. Die Geschichte mag noch nicht zu Ende sein, aber wenn ein Land seine Ziele der besseren Verteilung von Ressourcen erreichen will – so der ökonomische Mainstream – muss es sich an die Regeln des freien Marktes halten.

Aus Angst vor Kapitalflucht, langsameren Wachstumsraten und sinkender Produktivität haben die Länder allerdings weitgehend auf ein direktes Vorgehen gegen Ungleichheit verzichtet und begnügen sich damit, eine kompensatorische Politik zu verfolgen, ohne die bestehenden Ungleichheiten zu beseitigen.

Diese Politik hat jedoch zu kurz gegriffen, wie uns der Anstieg von Ungleichheiten in vielen Regionen und Bereichen zeigt. China ist fest entschlossen, die Armut mit allen Mitteln zu beseitigen, wobei die regierende Kommunistische Partei Chinas versucht, neue Wege zu finden, um den Reichtum umzuverteilen. Selbst Liberale oder konservative Ökonomen können der Armutspolitik Chinas viel abgewinnen.

Auch Indien setzt stark auf die Bedeutung der staatlichen Kapazitäten und auf massive staatliche Wohlfahrts- und Arbeitsprogramme. Und doch reiht sich Indien mit seinem sprunghaften Anstieg der Ungleichheit in die zahllosen Beispiele von Nationen ein, die wirtschaftlich wachsen und dabei viele zurücklassen und auch deutlich steigende Emissionen verursachen, wenn auch von einem sehr niedrigen Niveau aus.

Auch der Westen könnte indes den Anschluss verlieren. Während die Ungleichheit zwischen den Ländern aufgrund der massiven Wachstumsraten der aufstrebenden Giganten im Süden, speziell China und Indien, sinkt, nimmt sie innerhalb vieler Gesellschaften zu, vor allem in den westlichen Ländern. In ihrem unerbittlichen Streben nach weiterem Wachstum, das andere zu genießen scheinen, arbeiten die westlichen Länder hart daran, höhere BIP-Zahlen auf Kosten einer gleicheren Gesellschaft aufrechtzuerhalten.

Und dieser Wandel ist auch leicht messbar und nachweisbar in dem, was Ungleichheitsforscher die "Elefantenkurve" genannt haben. Dies ist ein Diagramm, das das Wachstum darstellt, das die unteren 50 Prozent der Menschen in den Schwellenländern derzeit genießen, während die armen und mittleren Schichten in den reichen Nationen weit hinter ihre reichen Mitbürger zurückfallen.

Ausgehend von dem, was wir über Ungleichheit wissen und verstehen, macht diese Entwicklung durchaus Sinn, denn die Entwicklungsländer werden immer reicher, während die Wohlhabenden in den reichen Ländern ihren Reichtum auf Kosten derjenigen anhäufen, die ganz unten stehen.

Das folgende Schaubild hilft, anschaulich zu machen, wie eine Elefantenkurve aussehen kann, wobei es allerdings mehrere Darstellungen von Elefantenkurven gibt, die je nach Streckung der Achsen mehr oder weniger dramatisch aussieht. Aber es bleibt ein Elefant.

Die zentrale Aussage der Kurve ist, dass die Mittelschichten in Ländern mit mittleren Einkommen, speziell in Schwellenländern, im Vergleich zu den Mittelschichten in Industrieländern deutlich profitiert haben. Diese Entwicklung hat sich seit 2008 weiter fortgesetzt.

Veränderung im realen Einkommen zwischen 1998 und 2008: Die Elefantengrafik. Quelle: Brank Milanovic, The world is not a country/F.A.Z.-Grafik Brocker

In einer Entwicklung, die jeder mit einem guten Verständnis der Wirtschaftsgeschichte leicht vorhersehen konnte, gipfelt die Unzufriedenheit, die in manchen Staaten auch im Versagen liberaler Wirtschaftspolitik begründet ist, vor allem darin, dass eine gerechtere Verteilung der Ressourcen nicht gelungen ist.

Dies führt immer wieder zu populistischen Gegenreaktionen. Wie in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg macht sich auch eine aufstrebende populistische Rechte mit Verbindungen zum Faschismus die Inflationskrise zunutze, da das Vertrauen in die Regierung im westlichen Kontext sinkt und Demagogen wie in Schweden oder Italien von den Leiden der unteren Schichten profitieren wollen.

In Lateinamerika hingegen wird der Washingtoner Konsens aktiv abgelehnt und es werden (wieder) eher linke Regierungen gewählt, die sich gegen das mit dem Aufstieg des Neoliberalismus verbundene historische Erbe auflehnen, wie unser Experte aus Mexiko erklärte.

In Chile wurde mit Gabriel Boric ein junger und charismatischer Linker gewählt, und obwohl der erste Versuch, die Verfassung umzuschreiben, gescheitert ist, ist der Schwung auf der Seite der Regierung geblieben. In Brasilien stehen sich der linke Lula und der rechte Bolsonaro unversöhnlich gegenüber. Wie in den USA droht eine tiefe Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft.

Dennoch verfügen wir heute über ein solides Verständnis der Gefahren, die mit großer Ungleichheit verbunden sind: geringerer sozialer Zusammenhalt, geringeres soziales Vertrauen, Tod durch Verzweiflung, höheres Stressniveau und geringeres BIP-Wachstum. Die Vernachlässigung der Ungleichheit in einer Marktwirtschaft ist ein Fehler, der unsere Volkswirtschaften belastet und die Zukunft der Demokratien gefährdet.

Jedes Wirtschaftssystem, das das 21. Jahrhundert überleben will, muss sich mit der Realität der Ungleichheit auseinandersetzen. Wohlstand für einige wenige ist eine Sackgasse und wird unweigerlich zu politischen Verwerfungen führen.

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