Universalwissen: Der Schlüssel zur Führung in der Zukunft?

Aufgeschlagenes Buch in einer Bibliothek

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Maschine oder Mensch: Was die Digitalisierung von uns fordert und wie wir unseren Horizont universell erweitern können. Fragen an die Kulturwissenschaftlerin Stefanie Voigt

Die Kognitions- und Kulturwissenschaftlerin Stefanie Voigt hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Der Bewusstseinscode. Universalwissen für Führungskräfte im Zeitalter der Digitalisierung".

Was ist Universalwissen?

Seit Dan Browns "The Da Vinci Code" boomen Bücher über irgendwelche Codes. Irgendwann wird es auch Bücher über Codes zum Öffnen einer Tür oder Sicherheitsgurt-Codes geben. Die Themen Führung und Digitalisierung sind genauso inflationär und geläufig – aber was ist Universalwissen?

Der Wortbaustein "universal" begegnet sonst nur in Baumärkten oder in Geschichtsbüchern über Universalgelehrte längst vergangener Zeiten, wie beispielsweise Leonardo da Vinci oder Gottfried Wilhelm Leibniz. Seitdem sich die Wissenschaften ab dem 19. Jahrhundert immer mehr spezialisieren, sind die Universalgelehrten angeblich ausgestorben.

Wenn Yuval Noah Harari universalhistorisch die hohen Grenzmauern zwischen einzelnen Epochen überwindet und auf der Basis alter Epochen Thesen für die Zukunft aufstellt, sei das schon ein großer Schritt hin "back to the future of science", sagt Voigt im Gespräch. Sie wolle da noch einen Schritt weitergehen.

Das digitale Bewusstseinsmodell

Voigt hat an dem Institut für Theoretische Psychologie des Leibniz-Preisträgers Dietrich Dörner ein digitales Bewusstseinsmodell entwickelt und dieses Modell dann auf konkrete Anwendungen der Industrie zugeschnitten.

Sie will industrielle Standardthemen wie Kommunikation oder Kreativität deutlich anders behandeln als die gängige Unternehmensberatung. Das betreffe zum Beispiel die systemtheoretische Notwendigkeit eines utilitaristischen Egoismus oder zielgenau künstlerischer Techniken im Denken.

Voigt schnürt, wie sie es beschreibt, Standardthemen der klassischen leadership-Ausbildung auf und verküpft sie sie dann mit Geisteswissenschaften und Künsten. So etwa Kommunikation mit Themen wie "Ästhetik in Geschäftsberichten" oder "Werte in der Mentalitätsgeschichte".

Ihrer Meinung nach kann nur derjenige das System Bewusstsein bestmöglich bedienen, wer die Mechanik dieser Informationsverarbeitung fachübergreifend gut kennt und wie bei Fraktalen nicht nur auf die Mikroebene – den Menschen – versteht, sondern auch die Makroebenen, also Gebilde aus mehreren Bewusstseinsträgern wie Unternehmen oder Fußballvereinen – selbst wenn dort in manchen Fällen von Bewusstsein nicht viel zu spüren oder besser gesagt gerade dann.

Was Menschen von Maschinen unterscheidet

Denn diese typisch menschliche Informationsverarbeitung scheine oft irrational und dysfunktional. Aber sie ist das, was Menschen von Maschinen unterscheidet und was immer mehr im Nebel hoch beschleunigter Digitalisierung zu verschwinden droht.

Humanistisch, nachhaltig oder einfach nur lieb gemeinte Optimierungsversuche wie Teambuilding oder Achtsamkeitstrainings vergleicht Voigt mit mittelalterlichen Blutegel-Kuren, die bis zu einem bestimmten Grad funktionieren, aber in Unkenntnis des Herz-Kreislauf-Systems in Härtefällen dann mehr schaden als nutzen.

Genauso verhalte es sich mit dem System "Bewusstsein", das zu kennen nicht nur bei "schöngeistigen Aspekten der Wochenendplanung" ein Gewinn sei, sondern vor allem im Hinblick auf Nachhaltigkeit und einen zukunftsfähigen Umgang mit den sogenannten human ressources (HR).

Telepolis stellte ihr dazu ein paar Fragen.

Wissen und Arbeitsbedingungen

▶Der Untertitel "Universalwissen für Führungskräfte im Zeitalter der Digitalisierung" verblüfft mit seinem Anspruch. Was fehlt Führungskräften an Wissen, das an der Zeit ist?

Stefanie Voigt: Nicht nur Führungskräften, sondern auch allen anderen fehlen wichtige Informationen über Bewusstsein. Nur fällt das bei Führungskräften mehr ins Gewicht als bei Floristen und Flurbereinigungstechnikern. Weil Führungskräfte Menschen führen und dafür bestmöglich ausgebildet sein sollten.

Nur klappt das nicht optimal, wenn immer nur fachspezifisch gedacht wird. Nicht umsonst hat Goethe vor zweihundert Jahren geschrieben: "Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen". Denn das gilt für Fachsprachen genauso.

Wer aber die Grammatik aller Fachsprachen kennt, der könnte damit nicht nur starke KI konstruieren, sondern vor allem so etwas wie artgerechte Haltungsbedingungen für Menschen auf der Arbeit ermöglichen. Denn Fachkräftemangel entsteht nicht durch einen Mangel an Fachkräften, sondern viel zu oft durch ungute Arbeitsbedingungen.

Das ist dann nicht nur suboptimal für die Opfer dieser Umstände, sondern auch für die Wirtschaft. Ob ein entsprechender Paradigmenwechsel aus idealistischen oder aus finanziellen Gründen anvisiert wird, ist aus universalwissenschaftlicher Sicht egal. Weil es systemtheoretisch auf das Gleiche hinausläuft.

Und das ist nur eines von vielen Beispielen dafür, dass viele Annahmen auf einer unzureichenden Informationslage basieren, wenn es um menschliches Bewusstsein geht. Gerade jetzt ist das ein größeres Problem als zu jedem anderen Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte.

Weil die Digitalisierung und KI mit diesen unzureichenden Informationen vorangetrieben werden. Darum ist Universalwissen über das menschliche Bewusstsein für zukünftige Führungskräfte obligatorisch, wenn es für alles andere Maschinen gibt.

Eine solche goldene Brücke zwischen der Betriebswirtschaftslehre und "weichen Fächern" wie der Psychologie, Philosophie, Literatur oder Kunst fehlt bisher.

▶ Ist das denn auch für eine größere Öffentlichkeit wichtig?

Stefanie Voigt: Ja. Ich erlebe auch und gerade jenseits der Managerausbildung einen unglaublich hohen Bedarf an dieser Art von Wissen. Das haben mir auch mehrere Universitätpräsidentinnen und - präsidenten so gesagt – und mir im gleichen Atemzug empfohlen, dieses Universalwissen über die Wirtschaft in die Welt zu bringen.

Aufgrund der Spezialisierung aller Wissenschaften ist Universalwissen rein organisatorisch schlecht vermittelbar und scheinbar hält man sogar in der Bildung die Wirtschaft für agiler als das eigene System. So kam ich zur Wirtschaft, aber natürlich funktioniert ein universales Bewusstseinsmodell überall, nicht nur exklusiv als Führungskräfte-Fachbuch, sondern völlig basisdemokratisch.

Es ist notwendig, weil Missverständnisse im Umgang mit Bewusstsein überall Zeit und Energie kosten und manchmal sogar Leben: zum Beispiel bei Burnouts oder anderen psychischen Krankheiten, Frauenfeindlichkeit oder Amok: Wussten Sie zum Beispiel, dass Attentäter von Breivik bis 9/11 sich in ihren Bekennerbriefen immer auf die Topoi der klassischen Erhabenheits-Philosophie berufen und eigentlich an dieser Vorliebe erkennbar wären? Milton und Kant würden sich im Grab herumdrehen.

Das Gleiche gilt aber auch auf der anderen Seite des Spektrums: Es gibt Tiefen des menschlichen Denkens, die das Leben lebenswert machen und die nicht nur Dostojewski-Lesern und Arbeitslosen zugänglich sein sollte, die viel Zeit für lebenbejahende TV-Filme haben. Diese Tiefen beginnen dort, wo unser Schulwissen aufhört, und das ist natürlich schade. Darum arbeite ich mit engagierten Studenten an einem öffentlich zugänglichen Bewusstseinscode-Format.

"Mechanik der Seele"

▶ Um welches Universalwissen geht es Ihnen dabei?

Stefanie Voigt: Bewusstseinsbildung funktioniert nach einem bestimmten Code. Ob man den dann eher naturwissenschaftlich und psychologisch interpretiert, religiös oder wie auch immer, das ist völlig egal. Dieser Code ist wie immer das gleiche Kind in verschiedenfarbigen Pullovern.

Das Wissen über diese informationstheoretische "Mechanik der Seele" ist in vielen Alltagssituationen sehr nützlich und erzeugt das Gegenteil von dem, was man vom Vergleich mit einer Maschine erwarten würde. Es gab im 18 Jahrhundert einen Philosophen LaMettrie, der mit seinem Buch "L'homme machine" (Der Mensch eine Maschine) viele Leute verstimmt hat und vielleicht deswegen den sogenannten Pasteten-Tod starb: eine damals verbreitete Art der Lebensmittelvergiftung bei Menschen, über die sich andere vorher geärgert hatten.

Dabei meinte LaMettrie in Wirklichkeit etwas ganz anderes: keine normale Maschine, sondern eine von innen heraus leuchtende. Dieses Leuchten hat eine bestimmte Logik – und wenn wir uns dieser Logik nicht jetzt im Zeitalter der Digitalisierung bewusst werden, dann verlieren wir es vielleicht für immer.

Dieses Leuchten umschreibt das, was uns Menschen ausmacht. Wenn wir das nicht jetzt zum diesem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte kommunizieren, dann müssen wir keine Angst vor KI haben und davor, dass die uns ausrottet. Weil dann bekommen wir das schon vorher ganz gut alleine hin.

Denn dieses Leuchten entsteht durch Schönheitsempfinden, dem Treibstoff dieser Mechanik. Viele der besten Denker wie Einstein, Bohr, Picasso oder Adorno haben immer schon gesagt, dass genau das der Schlüssel zum menschlichen Bewusstsein ist. Sie haben es nur immer in ihren jeweiligen Fachsprachen gesagt, die dann keiner verstanden hat. Ich auch nicht.

Bis ich eher zufällig auf einmal diesen Code auf meinem Schreibtisch vor mir liegen hatte. Damit kann man Menschen bestimmte Vorteile bringen und sie auf die Zukunft vorbereiten – und das ist, worum es geht. Weil die Alternative eine ewige Wiederholung von Geschichte wäre und das muss eigentlich nicht sein. Es geht um etwas Neues.

Manager statt Künstler

▶Treten Führungskräfte nun an die Stelle der Künstler? Man hat diesen Eindruck, wenn man die vielen Psycho-Beratungsbeiträge anschaut: Jetzt geht es vor allem um das Potenzial einer Führungskraft in jedem von uns?

Stefanie Voigt: Ja und ja. Künstler sind nicht nur Kunstakademieabsolventen mit Diplom, sondern Menschen, die künstlerische Denktechniken erfolgreich mit Kunsttechniken verbinden und das gilt auch für die Kunst der Führung. Der moderne Kunstbegriff ist bei dieser Parallele natürlich ambivalent.

Wenn laut Kant in der Kunst derjenige ein Genie ist, der gekonnt Regeln bricht, und wenn Kunst provozieren und anteilig unverständlich sein soll, dann heißt das im Umkehrschluss nicht, dass vorher nicht Regeln erlernt werden müssen oder Unverständnis beim Zielpublikum ein Gütesiegel bedeutet. Ein verbreitetes Missverständnis. Mit Blick auf die Mechanik von Bewusstseinsbildung ist nicht nur der Vergleich von Führungskräften mit Künstlern erlaubt, sondern auch der mit archaischen Initiationsriten.

Solche Riten werden in jeder Gesellschaft nur den wirklich Belastbaren zugetraut und zugemutet. Nur fanden frühere Initiationsriten innerhalb eines Sozialnetzes statt, aber heutige Führungskräfte werden abgestraft, wenn es sie bei der langen Initiation der bei Höchstleitung fast zwangsläufigen Überarbeitung "zerlegt".

Das ist nur einer von vielen toxischen Regelkreisläufen gegenwärtiger Kultur. Aber alle sind spannend und abenteuerlich und betreffen jeden. Denn Führung meint nicht nur Führung anderer und daheim die Oberherrschaft über die Fernbedienung, sondern auch Selbstführung.

▶ Früher stand die Kreativität eher im Zentrum. So hieß die Parole etwa bei Beuys, dass in jedem von uns ein Künstler mit kreativem Potenzial steckt. Jetzt geht es anscheinend mehr um Motivation und Managerqualitäten auch fürs eigene Leben?

Stefanie Voigt: Jein. Genau genommen verkaufe ich nur alten Wein in neuen Schläuchen. Aber die Schläuche der modernen Systemtheorie sind sehr schick und man kann mit diesem Schlauchsystem den Wein effektiver sortieren. Gut gemacht, entsteht dadurch ein Schlausystem, das nicht mit zusätzlichen Informationen belastet, sondern Wissen entbürokratisiert und vereinfacht. Ob man Manager ist oder nicht.

Manager wurden Werbeikonen unserer modernen Lebenswelt, weil Geld der Wert ist, auf den man sich in der Moderne am besten hat einigen können, als alle anderen Werte und Lebensentwürfe zur Privatsache wurden.

Geld ist auch besser zu verwalten als etwas Unberechenbares wie Glück oder Sinn. Also sind Manager zwar unsere Leitbilder. Aber dieses Ideal hat Risse bekommen, weil Geld eben doch nicht alles ist und noch dazu weniger wird, wenn der Blick fürs Ganze fehlt. Den soll das Buch möglich machen.