Unklarer und teurer Auftrag für Spionageschiffe: Bundesrechnungshof kritisiert Großprojekt
Die Anschaffung neuer, strategisch wichtiger Spionageschiffe ist ein Großprojekt. Es galt als gesichert. Bis Fragen zu den Verträgen mit einer Schlüsselindustrie aufkamen.
Die Haushaltspolitiker im Bundestag stehen vor einer schwierigen Entscheidung: Die Anschaffung angeblich dringend benötigter Spionageschiffe für die Marine könnte zum Milliardengrab werden. In einem vertraulichen Schreiben warnt der Bundesrechnungshof vor den möglichen Folgen des Projekts, berichtet jetzt der Spiegel.
Demnach existieren die Schiffe bislang nur vage und skizzenhaft auf dem Papier – und sollen dennoch für viel Geld angeschafft werden. In dem Schreiben der Finanzkontrolleure heißt es nun, aus der Vertragskonstruktion ergäben sich erhebliche Risiken.
Nach Berichten von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung sollen sich die Kosten für den Kauf der drei Schiffe um 1,2 Milliarden Euro auf insgesamt 3,2 Milliarden Euro erhöhen. Das Verteidigungsministerium begründet die Kostensteigerung vor allem mit dem allgemeinen Anstieg der Rohstoff- und Energiepreise.
Die unabhängigen Finanzkontrolleure stellen dagegen fest, dass die Gründe für die erheblichen Mehrkosten weitgehend unklar sind. Zudem warnen sie davor, dass der Vertrag mit der Bremer Werft "Naval-Vessels-Lürssen" weitere Kosten nach sich ziehen könnte.
Besonders problematisch ist, dass das Ministerium und die Bundeswehr nicht klar definiert haben, welche Leistungen die Schiffe erbringen sollen. Dies führt zu Zweifeln, ob die bisherigen Leistungsbeschreibungen ausreichen, um die Leistung zu messen und zu überprüfen. Der Bundesrechnungshof mahnt an, dass die Bundeswehr keine Beschaffungsverträge ohne klare Leistungsbeschreibung abschließen sollte.
Die Bedeutung der Aufklärung und Informationsbeschaffung auf See nimmt angesichts des Konflikts mit Russland in Nord- und Ostsee deutlich zu. Die derzeit genutzten Aufklärungsboote der Marine sind jedoch rund 30 Jahre alt und dringend modernisierungsbedürftig. Sowohl das Verteidigungsministerium als auch das Kanzleramt drängen daher auf die Beschaffung moderner Boote.
Dieser Beitrag ist die aktualisierte Fassung eines Artikels zum Thema, der am 01.07.2023 bei Telepolis erscheinen ist.
Seit Jahren kommt kaum ein Großprojekt der Bundeswehr ohne massive Verspätungen und eklatante Kostensteigerungen über die Ziellinie. Dokumentiert wird das Versagen des Beschaffungswesens in halbjährlichen Rüstungsberichten des Verteidigungsministeriums.
Im erst kürzlich erschienenen, mittlerweile 17. Rüstungsbericht wird über eine durchschnittliche Verspätung der Bundeswehr-Großprojekte von 33 Monaten bei Gesamtkostensteigerungen von 11,849 Milliarden Euro informiert.
Aktuell macht in den Medien die Meldung die Runde, die Anschaffung neuer Spionageschiffe (Flottendienstboote) werde deutlich teurer als ursprünglich geplant. Diese Entwicklung war trotz Warnungen des Rechnungshofes eigentlich absehbar und nicht zuletzt das Ergebnis massiven Drucks diverser Parlamentarierinnen und Parlamentarier.
Dazu gehört die heutige Verteidigungsstaatssekretärin Siemtje Möller (SPD), die zugunsten der Werften in ihren Wahlkreisen Druck auf die Unterzeichnung eines völlig abwegigen Vertragswerkes gemacht hatten.
Brandbriefe und Wahlkreise
Der Reihe nach: Anfang 2021 wurden die Klagen des Verteidigungsministeriums immer lauter, viele der geplanten Großprojekte seien ohne deutliche Erhöhungen des Militärhaushaltes nicht zu finanzieren.
Vor diesem Hintergrund übergab das Ministerium den Abgeordneten von Verteidigungs- und Haushaltsausschuss im Februar 2021 kurzerhand eine Liste, in der zahlreiche Beschaffungspläne – darunter eben auch der Ersatz der Flottendienstboote Oker, Alster und Oste – mit der Bemerkung versehen wurden, dass "deren Finanzierung zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesichert ist".
Weil die Gelder für die Spionageschiffe bis zu diesem Zeitpunkt als gesichert galten, brachte dies parteiübergreifend eine Reihe von CDU- und SPD-Abgeordnete mächtig auf die Palme.
In einem gemeinsamen Brief machten die CDU-Abgeordneten Eckhardt Rehberg (Haushalt) und Henning Otte (Verteidigung) sowie die SPD-Parlamentarier Dennis Rohde (Haushalt) und Siemtje Möller (Verteidigung) keinen Hehl aus ihrem Unmut.
Beim Militärblog Augen geradeaus! wurde damals aus dem Brief zitiert:
Für einen Großteil dieser 15 Vorlagen sind im Verteidigungshaushalt 2021 sowie in der aktuellen Finanzplanung bereits entsprechende Mittel veranschlagt und in den Geheimen Erläuterungen entsprechend ausgewiesen. Daher können wir nicht nachvollziehen, dass eine Finanzierung aus dem Einzelplan 14 (Verteidigungshaushalt) nicht mehr leistbar ist. (…)
Sowohl die mangelnde und verspätete Kommunikation als auch die nicht ausreichende Qualität der Antworten auf die Fragen aus dem parlamentarischen Raum verwundern.
Abschließend weisen wir nochmals darauf hin, dass die geplanten Vertragsabschlüsse oder deren eventuell notwendige Priorisierung nicht ohne das Parlament erfolgen werden. Um noch eine Behandlung der geplanten 25 Mio. Euro-Vorlagen in dieser Legislaturperiode gewährleisten zu können, bitten wir um Rückantwort bis Freitag, den 28. Mai 2021.
Augen geradeaus!, 21.5.2021
Im selben Artikel wurde zudem darauf hingewiesen, dass die Abgeordneten hier keineswegs uneigennützig handelten – es ging vielmehr zumindest auch darum, den lukrativen Auftrag für die Schiffe für ihre Heimatwahlkreise zu sichern:
Bei Rehberg, Rohde und Möller kommt zu dem empfundenen grundsätzlichen Affront gegen das Haushaltsrecht des Parlaments noch eine weitere Dimension hinzu: Diese drei Abgeordneten kommen aus Küstenländern mit ihrer Werftindustrie. Und im aktuellen Haushalt ist bereits Geld eingestellt für den Ersatz der betagten Flottendienstboote Oker, Alster und Oste.
Der Neubau solcher Schiffe mit ihrer Aufklärungs- und Überwachungstechnik ist aus allen denkbaren Gründen nur von deutschen Werften machbar – sowohl der Überwasserschiffbau, aber erst recht die an Bord verwendete Technik gelten als nationale Schlüsselindustrien.
Dass die gut zwei Milliarden Euro dafür zwar im Haushalt stehen, aber als nicht finanziert gelten sollen, dürfte die Parlamentarier zusätzlich erzürnt haben.
Augen geradeaus!, 21.5.2021
Schlechtester Vertrag ever
Der folgende Kompromiss stellte zunächst alle interessierten Kreise halbwegs zufrieden: Das Verteidigungsministerium erhielt deutlich mehr Geld, als in der mittelfristigen Finanzplanung eigentlich vorgesehen war.
Im Austausch dafür wurde die Nicht-finanzierbar-Liste wieder versenkt, obwohl real für die Gesamtheit der Projekte damals keine Deckung vorhanden war.
Um die Kosten zu deckeln, versah der Haushaltsausschuss die Beschaffung der Flottendienstboote laut Augen geradeaus! mit einem Kostendeckel:
Die Nachfolger der drei bisherigen Flottendienstboote Oste, Oker und Alster sollen nach der vom Parlament gebilligten Vorlage einschließlich einer Ausbildungs- und Referenzanlage Aufklärung (ARAA) knapp 2,1 Milliarden Euro kosten.
Augen geradeaus!, 24.6.2021
Gleichzeitig wurde aber ein Vertrag mit Lürssen geschlossen, der faktisch keinerlei Details enthielt, was denn eigentlich überhaupt für diesen Preis gebaut werden soll. Dies wurde auch vom Rechnungshof gegenüber Vertreter:innen des Verteidigungsministeriums wie auch aller Parteien bemängelt.
Allerdings kam dies erst nach Recherchen von WDR, NDR und SZ im Januar 2023 ans Licht, weil die Rechnungshofprüfung als Verschlusssache eingestuft worden war:
Die Kontrolleure [äußerten] beim Blick auf den Zwei-Milliarden-Vertrag "erhebliche Bedenken". Die vorliegende Vertragskonstruktion mit der Bremer Werft Naval-Vessels-Lürssen (NVL) sei so aufgesetzt, dass erst nach Vertragsschluss eine "Bauspezifikation" erarbeitet werden solle.
Mit anderen Worten: Erst nachdem der Auftrag schon erteilt war, wollte der Bund gemeinsam mit der Werft erarbeiten, wie genau die Schiffe gebaut werden sollen. Eine Milliardenvergabe im Blindflug. Der Bundesrechnungshof befürchtete "mittelfristig zusätzliche Ausgaben". (…)
Ein Kenner von zahlreichen Marineaufträgen, der anonym bleiben möchte, sagt: "Das ist der schlechteste Vertrag, den ich jemals gesehen habe. So etwas hätte Lürssen sich noch vor ein, zwei Jahren nicht einmal selbst geschrieben, weil es zu unverschämt wäre."
Tagesschau.de, 16.1.2023
Das absehbare Ende
Am vorläufigen Ende kam alles, wie es kommen musste: Im April 2023 hing ein erstes Preisschild an dem Vorgang, als erneut auf Basis von Recherchen von WDR, NDR und SZ berichtet wurde, Lürssen könne den Kostenrahmen nicht einhalten, die Schiffe würden rund 800 Millionen Euro teurer als vorgesehen.
Und dasselbe Recherchekollektiv brachte nun am 28. Juni 2023 ans Tageslicht, dass auch damit nicht das Ende der Fahnenstange erreicht ist:
Die Anschaffung von drei neuen Spionageschiffen für die Bundeswehr wird deutlich teurer als bisher bekannt. […] Demnach fordert das Bundesverteidigungsministerium für die Fortführung der Verträge weitere Mittel in Höhe von mehr als 1,2 Milliarden Euro vom Deutschen Bundestag ein, um das Rüstungsprojekt fortsetzen zu können.
Das ergibt sich aus vertraulichen Dokumenten. Bislang waren die drei Schiffe mit einem Gesamtpreis von etwas mehr als zwei Milliarden Euro veranschlagt worden.
Tagesschau.de, 28.6.2023
Theoretisch könnten die Abgeordneten bei der in Kürze anstehenden Abstimmung über die Kostensteigerungen noch die Reißleine ziehen.
Hier sind es nun aber die klaren Ansagen aus dem Verteidigungsministerium, die eine Ablehnung unwahrscheinlich machen:
Den Abgeordneten, die in der kommenden Woche darüber entscheiden sollen, lässt die Bundesregierung nur wenig Spielraum. Das Verteidigungsministerium argumentiert, dass der neue Änderungsvertrag bis zum 1. August abgeschlossen werden müsse.
Sonst sei der Auftragnehmer, also die Werft, auch nicht an die zuvor vereinbarten Änderungen gebunden. Und dann, so argumentiert das Verteidigungsministerium, wären "die Folgen für den dann zu vereinbarenden Preis sowie die daraus resultierenden Zeitlinien heute noch nicht abschätzbar".
Tagesschau.de, 28.6.2023