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Unmaßgeblicher Versuch über die Abschweifung

Citizen Kane, dem besten Film der Welt, zum 70ten

Citizen Kane, bei Umfragen regelmäßig zum "besten Film der Welt" gewählt, ist 70 geworden. Ins Museum für alte, friedlich und unbemerkt dahingeschiedene Meisterwerke der Kinematographie gehört er aber nicht. Dafür ist er zu frisch und zu widerständig geblieben. Hier ein paar Überlegungen, woran das liegen könnte.

Als Orson Welles nach Hollywood kam, war er schon das Wunderkind des Theaters und des Radios, wo er mit dem Hörspiel The War of the Worlds eine Massenpanik ausgelöst hatte. Dann unterschrieb er bei der RKO einen Vertrag, der bei den Etablierten für Empörung sorgte. Er sollte Drehbuchautor, Regisseur und Produzent sein, ließ sich die künstlerische Kontrolle zusichern, so lange er das vom Studio genehmigte Budget einhielt, und Hauptdarsteller wurde er bei seinem Erstling auch noch.

Hollywood war seinem Wesen nach ein Dorf. Es gab klare Hierarchien und Leute, die sich von ganz unten langsam nach oben gearbeitet hatten. Welles galt als Emporkömmling und hatte sehr schnell einen schlechten Ruf. Das lag vielleicht an seiner Persönlichkeit und an seinem Lebensstil, bestimmt aber daran, dass die Alteingesessenen keine Überflieger leiden konnten und ihr Ressentiment in Begriffe wie Größenwahn, Egomanie und Verschwendung gossen. Bis heute hängt ihm das Gerücht an, er habe bei Citizen Kane den Kostenrahmen atomisiert und das Studio an den Rand des Ruins getrieben, obwohl das nachweislich nicht stimmt.

Was wird so einem Selbstdarsteller wie Welles die liebste Szene im Film gewesen sein? Die, wo er mit den Showgirls tanzt? Die Szene, wo er als Charles Foster Kane seine "Declaration of Principles" verkündet, als gelte es, die Unabhängigkeitserklärung neu zu erfinden? Das berühmte Frühstück von Kane und seiner ersten Gattin, wo mit wenigen Schuss-Gegenschuss-Einstellungen das Scheitern einer Ehe, der Zusammenbruch der Kommunikation, das Verstreichen von 16 Jahren und das Altern dokumentiert werden? Kanes umjubelter Auftritt als Wahlkämpfer? Die Spiegelszene, wo sich das Abbild eines zum Greis gewordenen Kane vervielfacht wie später Rita Hayworth in The Lady from Shanghai? Alles falsch. Welles’ liebste Szene war eine, in der er gar nicht vorkommt, weder im Bild noch im Dialog, in der keine filmästhetischen Bravourstücke zu bewundern sind, eine Szene mit zwei Männern, von denen der eine etwas erzählt, das der andere nicht hören will.

Rosebud dead or alive

Allseits anerkannte Meisterwerke stehen unter dem Generalverdacht, langweilig und unverständlich zu sein. Deshalb werden auch diejenigen, auf die das gar nicht zutrifft, viel seltener gesehen, als sie es verdient hätten. Es scheint also angebracht, kurz zu rekapitulieren, worum es in Citizen Kane geht, um Welles’ Lieblingsszene einordnen zu können. Der Film beginnt mit einer Grenzüberschreitung. "Betreten verboten" warnt ein Schild, und die Kamera gleitet geisterhaft über den Drahtzaun, an dem es hängt. In einer Reihe von Überblendungen sehen wir den verblassten Glanz früherer Zeiten, die Zeichen des Verfalls: Affen in einem Privatzoo, zwei Gondeln, eine Zugbrücke, einen verwaisten Golfplatz. Jede der Überblendungen führt uns näher an die finstere Burg auf dem Hügel heran, die über allem thront. In einem der Fenster brennt ein Licht, von dem die Kamera magisch angezogen wird.

Man kann da an das verfallene Haus von Miss Havisham in Dickens’ Great Expectations denken, an das Schloss von Graf Dracula (Welles hatte Bram Stokers Roman 1938 als Hörspiel inszeniert), an den Anfang von Hitchcocks Rebecca, wo die Heldin träumt, sie sei wieder in Manderley gewesen (auch das Buch von Daphne du Maurier hatte Welles für das Radio adaptiert) oder an das Schloss der bösen Stiefmutter in Walt Disneys Snow White and the Seven Dwarfs. Was wird hinter diesem Fenster auf uns warten? Plötzlich geht das Licht aus. Auch Bernard Herrmanns suggestive Gruselmusik (seine erste Filmmusik und so genial wie das, was er später zu den Hitchcock-Thrillern beitrug) bricht abrupt ab. Kein anderer im auf glatte, unmerkliche Übergänge geeichten Hollywood hätte das damals so gemacht oder so machen dürfen. Hätte Welles nicht das Recht auf die letzte Schnittfassung gehabt, hätte es die RKO bestimmt geändert.

Als es wieder Licht gibt, haben wir die Seiten gewechselt. Wir sind jetzt im Turmzimmer, dem wir uns vorhin genähert haben und sehen durch das Fenster, wie draußen die Sonne aufgeht. Damit hat der Film sein Struktur- und Erzählprinzip verraten. Alles wird mindestens von zwei Seiten aus betrachtet. Das Ergebnis ist so mehrdeutig und widersprüchlich wie das Leben auch. In Hollywood, das so tat, als bilde es dieses Leben ab (und es doch nach Kräften harmonisierte), war das eine Provokation. Citizen Kane ist mehrdeutig und gibt so viele Informationen wie nur möglich, fordert das Publikum auf, sich selbst eine Meinung zu bilden und macht auch kein Hehl daraus, dass er gern öfter gesehen werden möchte. Das ist sehr lohnend, weil jedes Sehen und Hören (der Ton ist extrem wichtig) zu einer neuen Entdeckungsreise wird.

Kein Studioboss hatte etwas dagegen, wenn Leute einen Film öfter sahen und mehrfach Eintritt bezahlten. Aber fest im Visier hatte man doch den Zuschauer, der das Kino schon beim ersten Mal mit dem Gefühl verließ, gut unterhalten worden zu sein und einen Film gesehen zu haben, der keine der wesentlichen Fragen offen ließ. Hollywood hatte sich dem Ideal der sofortigen Bedürfnisbefriedigung verschrieben. Bei den großen Studios herrschte deshalb das Gesetz der dreifachen Informationsvergabe: die wesentlichen Informationen werden dreimal gegeben, und möglichst auf drei verschiedene Weisen, weil das Publikum sonst merken könnte, dass es gegängelt wird. "Wesentliche" Informationen sind solche, die man braucht, um eine in sich stimmig wirkende Geschichte erzählen zu können, die am Schluss eine eindeutige Lösung des verhandelten Konflikts präsentiert (der Held kriegt die Heldin, der Böse wird bestraft). Citizen Kane unterläuft solche Erwartungen. Beim zweiten Anschauen erkennt man dann, was alles wesentlich gewesen wäre und was man nicht bemerkt hat, weil man zu sehr durch Hollywood konditioniert ist.

Kaum im Turmzimmer angekommen, scheint uns der Film in eine Winterlandschaft mit Blockhütte zu versetzen. Die winterliche Szenerie erweist sich als der Inhalt einer Schneekugel in der Hand eines alten Mannes. Es folgt eine der berühmtesten Großaufnahmen der Kinogeschichte: die Lippen des Mannes formen das Wort "Rosebud", dann lässt er die Schneekugel fallen. Die Kugel zerbricht, der Mann stirbt. Eine Krankenschwester betritt den Raum und zieht das Laken über das Gesicht des Toten. Die Leinwand wird dunkel. Das nächste Licht kommt vom Strahl eines Projektors. Wir sind in einem Filmvorführraum. Welles hat jetzt schon so viel selbstkritische Reflektion über das Medium eingebaut, mit dem er arbeitet, wie manch anderer Regisseur in seiner ganzen Karriere nicht. Dabei ist das alles weder abstrakt noch akademisch verkopft, sondern ein Fest für die Augen, weil Welles von Gregg Toland unterstützt wurde, einem der besten Kameramänner Hollywoods.

Im Vorführraum läuft ein Nachruf auf Charles Foster Kane, als Wochenschau (der Reporter mit dem Mikrofon ist Gregg Toland). Was hier "News on the March" heißt, ist eine witzig-verspielte Parodie auf das Nachrichtenformat The March of Time, das damals im Vorprogramm der Kinos gezeigt wurde. Und was wie ein radikaler Stilbruch wirken mag (dokumentarische Bilder nach dem gruselig-phantastischen Auftakt), ist das höchstens zur Hälfte, denn präsentiert wird uns ein Wiedergänger: der Mann, dessen Tod wir soeben miterlebt haben. So wird an das fundamental Unheimliche der Kinematographie erinnert, die Leichen zu einem Anschein von Leben erwecken kann. Die Szene im Vorführraum wird denn auch von harten Hell-Dunkel-Kontrasten dominiert und würde jedem Horrorfilm gut zu Gesicht stehen.

Der Nachruf bietet einen aus bereits vorhandenen Filmschnipseln zusammengestellten Abriss von Kanes Leben und somit alles, was man von der Wochenschau erwarten durfte (darin enthalten ist auch ein Kommentar zu den in den 1930ern sehr populären Biopics, nach Schema F erzählten Spielfilmen über die Biographie berühmter Persönlichkeiten). Welles gestattet sich einen Moment der Utopie und lässt einen Chefredakteur namens Rawlston auftreten, dem die üblichen Archivbilder zu wenig sind. Er will etwas über den Menschen hinter der öffentlichen Person erfahren und hält die Wochenschau vorerst zurück. Der Schlüssel, meint er, könnte das letzte Wort des Verstorbenen sein. Also schickt er den Reporter Jerry Thompson los, der herausfinden soll, wer oder was diese Rosenknospe ist: "Rosebud, dead or alive."

Film ohne Helden

Von "bester Film der Welt" sollte man sich nicht abschrecken lassen. Citizen Kane funktioniert wie ein guter Krimi (in einer frühen Drehbuchfassung war sogar ein Mord geplant), dessen Konventionen er zugleich hinterfragt (so erfährt man erst kurz vor dem Ende, wer Kanes letztes Wort eigentlich gehört hat). In guten Krimis geht es nicht in erster Linie darum, am Schluss den Täter zu benennen. Vielmehr sammelt der Detektiv Indizien, die ihn zu diesem führen, und weil alles wichtig sein könnte, lassen sich interessante Beobachtungen zu der Gesellschaft unterbringen, in der das Verbrechen geschehen ist. Thompson befragt fünf Zeugen, die Kane gekannt haben und wissen könnten, was mit "Rosebud" gemeint ist. Dabei wird das Leben des Verstorbenen, mehr oder weniger chronologisch, vor uns aufgeblättert: vom Aufstieg zum Zeitungstycoon über die an Hybris und einer Liebesaffäre gescheiterte Politkarriere und den Verlust der Kontrolle über das Medienimperium bis zum einsamen Sterben in einem nie fertig gewordenen Palast. Jede der fünf Personen erzählt von einer Lebensphase, und es gibt einige Überlappungen, damit wir nicht vergessen, dass wir es mit fünf verschiedenen Perspektiven zu tun haben (man kann Citizen Kane gut mit Akira Kurosawas Rashomon vergleichen).

Die erste auf Thompsons Liste ist die alkoholkranke Susan Alexander Kane, die im Nachtclub El Rancho eine Zombie-Existenz als schlechte Sängerin und Ex-Gattin eines berühmten Mannes führt. Das ist jetzt schon der dritte Anfang (nach der Sterbeszene und dem Newsreel), und als wäre das noch nicht Ironie genug, verweigert Susan dem Reporter zunächst ein Interview. Welles nützt jede Gelegenheit, sich über die von Hollywood geheiligte Zahl Drei lustig zu machen. Die für die Aussage des Films sehr wichtige Schneekugel taucht insgesamt dreimal auf - am Anfang, in der Mitte und am Schluss -, aber wie aus dem Lehrbuch ist das trotzdem nicht. Man muss ein sehr scharfer Beobachter sein, um sie beim zweiten Mal zu entdecken, und wie die Schneekugel mit Rosebud zusammenhängt, weiß man da noch lange nicht. So hatten sich die Autoren der Leitfäden für richtiges Drehbuchschreiben die Regel der dreifachen Informationsvergabe nicht vorgestellt.

Üblicherweise wäre der Reporter Thompson, wie David Thomson in seinem Buch Rosebud bemerkt, der Held des Films. Kane könnte eine Tochter haben, in die Thompson sich verlieben würde, um dann ein finsteres Geheimnis in der Vergangenheit des Vaters zu entdecken, und somit wäre ein Konflikt etabliert, wie Hollywood ihn mag. Diesen Film gibt es sogar. Er heißt Mr. Arkadin, und Welles hat mit ihm Citizen Kane auf sehr spannende Weise in die Nachkriegszeit verlegt (aus der Schneekugel wird das winterliche, unzureichend entnazifizierte München, vormals "Hauptstadt der Bewegung"). Thompson aber ist als Held ungeeignet, eine Tochter Kanes gibt es nicht, die Liebesgeschichte entfällt.

David Thomson hält das für einen Mangel, weil er die ständig wiederholten Erzählmuster der amerikanischen Filmindustrie zugrunde legt. Viel weiter kommt man, wenn man dem Vorschlag folgt, den Jonathan Rosenbaum in Discovering Orson Welles macht (die beste Einführung in ein extrem vielschichtiges Werk): Citizen Kane nicht als einen Hollywoodfilm zu betrachten, sondern als einen Nicht-Hollywoodfilm, der in Hollywood und mit den Ressourcen eines etablierten Studios entstanden ist, ohne sich an die dortigen Regeln zu halten. Das befreit einen auch davon, Welles’ Karriere fast zwanghaft mit dem kometenhaften Aufstieg und dem langen Fall des Charles Foster Kane gleichsetzen zu müssen, wie es Buch um Buch gemacht wird.

Schneetreiben

Thompson ist fast nur von hinten oder als Schatten zu sehen, ist mehr schemenhafte Gestalt als körperliche Präsenz. Das passt gut zu einem, der in der Welt der Untoten unterwegs ist, doch hollywoodkompatibel ist es wieder nicht. Weil Kanes erste Ehefrau gestorben ist und die zweite nichts sagen will, sucht der Reporter die gruftähnliche Thatcher Memorial Library auf. Auch der Bankier Walter Parks Thatcher ist tot, hat allerdings ein autobiographisches Manuskript hinterlassen. Während Thompson die Passagen über Charles Foster Kane liest, sehen wir die Bilder dazu. Es ist das Jahr 1871. Erste Verbindungen zur Schneekugel: eine Winterlandschaft, ein kleiner Junge mit seinem Schlitten, ein Blockhaus. Mary und James Kane betreiben eine Pension. Ein Gast konnte die Rechnung nicht bezahlen und hat Mary eine Mine hinterlassen, in der ein riesiges Goldvorkommen gefunden wurde. Mary hat beschlossen, ihren Sohn Charles in die Obhut des Bankiers zu geben. Thatcher soll bis zu Charles’ 25. Geburtstag dessen Vormund und Treuhänder sein und ihn darauf vorbereiten, dass er eines der größten Vermögen in den USA besitzen wird. Er ist gekommen, um das vertraglich zu fixieren und den Jungen abzuholen.

Agnes Moorehead (Mary) und George Coulouris (Thatcher) waren Mitglieder von Welles’ Theatertruppe, des Mercury Theatre, wie die meisten anderen Darsteller in Citizen Kane auch. Das erlaubte ihm eine ästhetische Strategie, die ganz anders ist, als in Hollywood eigentlich erlaubt. Zur Konvention gehört(e) es, den Blick des Zuschauers durch eine Abfolge von Einstellungen oder durch die Hervorhebung bestimmter Elemente innerhalb einer Einstellung zu lenken. Welles stellt dem Gregg Tolands Weitwinkelaufnahmen und die von Toland revolutionierte deep focus cinematography entgegen, die Tiefenschärfe. Statt der zu erwartenden Bildmontagen mit Großaufnahmen als visuellen Ausrufezeichen gibt es lange, ungeschnittene Einstellungen und Kamerafahrten. Das wurde möglich, weil die Schauspieler Bühnenerfahrung hatten und daran gewöhnt waren, lange Dialoge zu sprechen, statt ein oder zwei Sätze zu sagen, um dann auf die nächste Einstellung zu warten wie die Akteure beim Film. Es gab auch kein Gefeilsche wegen der Großaufnahmen, die sich etablierte Filmstars oft vertraglich garantieren ließen.

Hier eine dieser mit Bildinformationen angefüllten Einstellungen, über die man lange nachdenken kann (und soll), statt sich vorschreiben zu lassen, wie man sie zu verstehen hat: Im Vordergrund sitzen Kanes Mutter Mary und Thatcher. Mary ist dabei, den Vertrag mit der Bank zu unterschreiben. Etwas nach hinten versetzt steht der Vater. In der Tiefe des Raumes, auf der anderen Seite des Fensters, ist der kleine Charles zu sehen, der draußen im Schneetreiben spielt, während im Haus über seine Zukunft bestimmt wird. Toland hat dafür gesorgt, dass alle Charaktere dieselbe Bildschärfe erhalten. Das ist eine der Einstellungen, die der Filmtheoretiker André Bazin als "demokratisch" bezeichnet hat, weil einem als Zuschauer die Wahl gelassen wird, wem man die größte Aufmerksamkeit schenkt und wie man die vier Personen zueinander in Beziehung setzt.

Konzentriert man sich auf die Mutter, der es sichtlich schwer fällt, ihren Jungen wegzuschicken? Auf den Bankier, der gerade ein gutes Geschäft macht? Auf den Vater, der das Geschäft ablehnt? Oder doch auf das Kind mit den zwei Vätern, die beide eine Bedrohung darstellen: der leibliche, weil er ein Prügler ist (ein Grund für Mary, Charles wegzugeben) und der Ersatzvater, weil er den Sohn von der geliebten Mutter trennen wird. Während die Erwachsenen noch die Formalitäten festlegen, macht der Knabe hinter dem Fenster mit sich selbst eine Schneeballschlacht. Damit ist das Leben von Charles Foster Kane auf den Punkt gebracht. Der einsame kleine Junge wird als alter Mann einsam sterben. Ein psychoanalytisch leicht deutbares Motiv für Kanes Handeln wird ebenfalls gegeben: es ist die Rebellion gegen den Ersatzvater, der ihn vom Bereich der Emotionalität (die Mutter) trennt und nicht nur der Repräsentant des Rationalen ist, sondern auch der Wall Street, der Prädestinationslehre und der protestantischen Arbeitsethik, was die Sache weiter verkompliziert. Die Kindheitsszene endet damit, dass Charles dem Bankier den Schlitten in den Bauch rammt (die erste von - natürlich - drei Konfrontationen zwischen ihm und Thatcher).

Frau in Weiß

Von der Thatcher Memorial Library führt der Weg zu Mr. Bernstein (einen Vornamen hat er scheinbar nicht), der für Kane die Geschäfte führte. Vielleicht kann er Aufschluss über Rosebud geben. Aber bevor Mr. Bernstein (Everett Sloane) sagt, dass er leider auch nicht weiß, was damit gemeint ist, muss sich Thompson eine Geschichte aus dessen Jugend anhören:

Leute erinnern sich an Dinge, von denen Sie das nicht glauben würden. Ich zum Beispiel. Eines Tages, es war im Jahr 1896, fuhr ich mit der Fähre hinüber nach Jersey, und als wir gerade losfuhren, erreichte eine andere Fähre den Anlegeplatz - und auf ihr war ein Mädchen und wartete darauf, aussteigen zu können. Ein weißes Kleid hatte sie an - und sie trug einen weißen Sonnenschirm - und ich sah sie nur eine Sekunde lang, und sie sah mich überhaupt nicht - aber ich wette, dass seither nicht ein Monat vergangen ist, in dem ich nicht an dieses Mädchen gedacht habe. Verstehen Sie, was ich meine?

Da ist sie also nun, die Lieblingsszene von Orson Welles. "Wenn ich in der Hölle wäre", meint er im Gespräch mit Peter Bogdanovich, "und wenn sie mir einen Tag freigeben und mich fragen würden: ‚Welches Stück von einem beliebigen Film, den du irgendwann gemacht hast, möchtest du sehen?’ würde ich mir diese Szene von Mank über Bernstein anschauen. Alles andere hätte besser sein können, aber das war genau richtig." Mank ist Herman J. Mankiewicz, Welles’ Co-Autor, dem er immer die Urheberschaft an der Szene zugesprochen hat, um dann anzufügen, wie gern er sie selbst geschrieben hätte. Dazu ist festzuhalten, dass man nicht alles glauben darf, was Welles in Interviews behauptet hat und dass es ein Memo des Mercury-Presseagenten Herbert Drake vom 26. August 1940 gibt, dem zufolge Mank starke Vorbehalte gegen die Szene hatte, die angeblich von ihm und die Welles die liebste war.

Wie dem auch gewesen sein mag - wichtiger als die Urheberschaft ist etwas anderes: Mr. Bernsteins Frage - "Verstehen Sie, was ich meine?" - lässt sich für den Reporter Thompson leicht beantworten. Er hat nichts verstanden. Für ihn ist die Geschichte von der Frau im weißen Kleid nur das Gerede eines alten Mannes, eine Abschweifung vom eigentlichen Thema, und fast glaubt man, den unterdrückten Seufzer der Ungeduld zu hören, mit dem er es über sich ergehen lässt. Beim zweiten Sehen des Films kann einem hier klar werden, dass der Reporter das Ziel seiner Recherche nicht erreichen wird. Paradoxerweise wird Thompsons Suche nach Rosebud scheitern, weil sie zu sehr auf Rosebud konzentriert ist. Dadurch verengt sich der Blick, was einem Film, der uns in jeder Einstellung eine Fülle von Informationen bietet, ohne sie auf Hollywood-Art für uns zu gewichten, nicht gerecht wird.

Citizen Kane hält den, der sich auf den Film einlässt und nicht leicht konsumierbare, vorab portionierte Häppchen verlangt, in einem Zustand gespannter Aufmerksamkeit. Zu den in die Tiefe des Raumes gestaffelten Bildebenen kommen Stimmen und Klänge, die man oft erst identifizieren und zuordnen muss (Welles, der Mann vom Radio, stattete seinen Erstling schon mit einem komplexen Sounddesign aus, als man in Hollywood noch gar nicht wusste, was das ist). Durch Mr. Bernstein öffnet sich ein weiteres Fenster in die (imaginäre) Welt, weil wir aufgefordert werden, uns die Szene mit den beiden Fähren vorzustellen, sie mit den Bildern unserer Phantasie zu füllen. Das ist bedeutsam, weil sich in Citizen Kane private Befindlichkeiten und öffentliches Handeln mischen, weil sie sich gegenseitig bedingen oder weil das eine am anderen scheitert.

Hier ein Tipp für das zweite Sehen: Bei jedem Dialog, in dem Rosebud erwähnt wird, ist im Bild ein Hinweis versteckt. Sie alle zusammen führen punktgenau zum Ende. Hier ist das Feuer in Bernsteins Kamin der Hinweis. Am Schluss gibt es einen Toten, der nur noch durch die Gegenstände existiert, die er einmal besessen hat, und ein Krematorium. Die Gegenstände werden danach sortiert, was verwertbar ist und was nicht. Mit dem Wissen von heute ist dieses Finale noch gruseliger als damals, 1941.

Das Imperium schlägt zurück

Citizen Kane ist also ein Film der Abschweifungen und des angeblich Nebensächlichen. Das ist die mit ästhetischen Mitteln vorgetragene Kritik an den beiden Medienzaren, aus denen Charles Foster Kane mehrheitlich zusammengesetzt ist: an William Randolph Hearst, der Zeitungen mit großen Schlagzeilen verkaufte und an Henry Luce, dessen Wochenschau The March of Time von ebensolchen Schlagzeilen machenden Ereignissen dominiert wurde. Über die Wirklichkeit, sagt Citizen Kane, erfährt man auf diese Weise wenig.

Jetzt ist es passiert. Der Name Hearst ist gefallen. Das war unvermeidlich. Welles wusste zunächst nicht, wer das Vorbild für die Hauptfigur sein sollte. Zuerst dachte er ganz allgemein an einen Wirtschaftsboss, dann an eine zentrale Figur der Bewusstseinsindustrie. William Randolph Hearst war der Rupert Murdoch von damals, nur (vermutlich) noch schlimmer. Er war auf vielfältige Weise mit Hollywood verbunden und hatte die geballte Meinungsmacht seiner Revolverblätter im Rücken. Das Projekt war somit äußerst heikel und wurde unter bestmöglicher Geheimhaltung vorangetrieben. In Hollywood muss das nicht viel heißen, aber es gelang doch irgendwie, Hearsts Namen aus den meisten Presseberichten herauszuhalten. Als die Zeitschrift The Stage im Dezember 1940 den Abschluss der Dreharbeiten vermeldete, stand da zu lesen, Welles habe die Faust-Legende verfilmt (ganz falsch ist das nicht). Es dürfte einer der letzten Artikel über Citizen Kane gewesen sein, in dem Hearst nicht erwähnt wird.

William Randolph Hearst (ca. 1905)

Was Welles genau beabsichtigte, ist ungewiss. Vielleicht war er durch die von dem Film losgetretene Lawine tatsächlich so überrascht, wie er später tat. Vielleicht spekulierte er auf die Werbewirksamkeit eines Skandals, der dann nicht mehr zu kontrollieren war. Jedenfalls war er weder der erste noch der letzte, der dachte, sich zum eigenen Vorteil mit einer Art von Presse einlassen zu müssen, die davon lebt, Leute hoch- oder niederzuschreiben. Die beiden mächtigsten Klatschtanten der Filmmetropole waren Hedda Hopper und ihre Rivalin Louella Parsons, die Hearsts Medienimperium mit Tratsch versorgte. Beide berichteten seit seiner Ankunft in Hollywood durchaus wohlwollend über Welles und seine Pläne, und Hopper nahm ihm das Versprechen ab, Citizen Kane als erste sehen zu dürfen. Als sie von einer für den 3. Januar 1941 angesetzten Pressevorführung erfuhr, konnte Welles nicht anders, als sie auch einzuladen. Hopper sah "einen bösartigen und unverantwortlichen Angriff auf einen großen Mann", und um Parsons eins auszuwischen, rief sie offenbar noch am selben Abend bei Hearst an und teilte ihm mit, dass dieser große Mann er sei.

Einige Tage später brachte der Hollywood Reporter eine Vorabmeldung über einen in der nächsten, bereits gedruckten Ausgabe der Zeitschrift Friday (17.1.1941) erscheinenden Artikel, der die Gemeinsamkeiten zwischen Hearst und Kane auflistete und einen sich über die positive Berichterstattung durch Louella Parsons wundernden Orson Welles mit diesen Worten zitierte: "Warten Sie nur, bis die Frau herausfindet, dass der Film von ihrem Boss handelt." Welles dementierte, das je gesagt oder einen Film über William Randolph Hearst gedreht zu haben, aber das nützte ihm nichts mehr. Parsons forderte eine eigene Vorführung und brachte ein paar von Hearsts Anwälten mit (sowie ihren Chauffeur, dem der Film gefallen haben soll). Tags darauf, am 10. Januar, machte das Branchenblatt Variety mit der Schlagzeile auf, dass die Hearst-Medien ab sofort alle RKO-Produktionen totschweigen würden. Louella Parsons startete einen telefonischen Einschüchterungs-Marathon, drohte dem RKO-Chef George Schaefer mit Prozessen und der gesamten Filmindustrie mit Enthüllungen über das Sündenbabel Hollywood, die sich zur Not frei erfinden ließen.

Die angekündigten Klagen reichten die Anwälte nie ein, weil das kontraproduktiv hätte sein können. Der Bann über die RKO wurde nach zwei Wochen wieder aufgehoben. Nur Citizen Kane wurde in der Hearst-Presse erst gar nicht und dann in Verbindung mit Berichten über Organisationen wie die American Legion erwähnt, deren PR-Chef Welles unamerikanisches und subversives Verhalten vorwarf und praktischerweise für Hearst als Reporter arbeitete. Werbeanzeigen für den Film wurden nicht angenommen. Am wirkungsvollsten war die Ankündigung einer Schmutzkampagne, die bald um xenophobe und antisemitische Elemente bereichert wurde. Am 13. Januar brachte der Hollywood Reporter auf der Titelseite einen wohl vom Hearst-Lager lancierten Bericht, der sich auf "zuverlässige Quellen" stützte und eine demnächst beginnende Serie von Leitartikeln darüber ankündigte, dass Hollywood dauernd Jobs an Ausländer und Flüchtlinge vergab, obwohl genug qualifizierte Amerikaner zur Verfügung standen. Damit, so der Reporter weiter, sollten die anderen Studios dazu gebracht werden, Druck auf die RKO auszuüben und diese zu zwingen, Citizen Kane im Archiv verschwinden zu lassen.

Das konnte man als eine Aufforderung verstehen, jetzt zu handeln, und die Botschaft kam an. Louis B. Mayer und andere Studiobosse versprachen Schaefer, ihm den größten Teil der angefallenen Kosten zu ersetzen, wenn er das Negativ und alle Kopien von Citizen Kane vernichten würde. Schaefer lehnte ab, musste aber den geplanten Kinostart mehrfach verschieben und fand sich landesweit als Bösewicht auf den Titelseiten von Hearsts Skandalblättern wieder: die an sich unbedeutende, von einem Autor gegen die RKO eingebrachte Klage wegen Vertragsbruchs wurde zu einer großen Geschichte über skrupellose Hollywood-Kapitalisten aufgebauscht, die verdächtig oft jüdischer Herkunft waren und unschuldige Amerikaner ausbeuteten.

Mit der Einschüchterung von Entscheidungsträgern kannten sich Hearst und seine Leute aus. Den meisten Schaden richtete nicht das an, was sie taten, sondern das, wovon viele dachten, dass sie es tun würden, wenn man ihren Wünschen nicht nachkam. Die Premiere von Citizen Kane sollte am 19. Februar in der den Rockefellers gehörenden Radio City Music Hall in New York stattfinden. Als das Management von dieser Vereinbarung plötzlich nichts mehr wissen wollte, waren schnell Gerüchte darüber im Umlauf, dass Louella Parsons Nelson Rockefeller gegenüber angedeutet habe, dass die American Weekly, eine von Hearsts Wochenzeitungen, einen Enthüllungsbericht über seinen Großvater plane. Da nun sogar die mächtigen Rockefellers einzuknicken schienen, verließ auch andere Kinobesitzer der Mut.

Citizen Hearst

Uraufgeführt wurde Citizen Kane schließlich am 1. Mai 1941 im RKO Palace am Broadway in New York. Trotz seines Namens war dieses Kino eher klein und auf Premieren nicht eingerichtet, weshalb es notdürftig umgebaut werden musste. In Chicago und Los Angeles war es nicht besser. Eine Kette mit mehr als 500 Kinos, die Citizen Kane im Paket mit anderen Filmen gekauft hatte, weigerte sich, ihn zu zeigen, um Hearst nicht zu verärgern. Die RKO traf so ein Boykott härter als andere Studios, weil sie im Gegensatz zu den großen Vier kaum über eigene Kinos verfügte. Citizen Kane lief deshalb in unabhängigen Lichtspieltheatern oder gar nicht. Der finanzielle Misserfolg war damit garantiert. Das begründete Welles’ Ruf, Filme zu machen, die niemand sehen wollte.

Den von Hearsts Leuten angedrohten Prozess strengte ein paar Jahre später einer von dessen erbittertsten Gegnern an. Der investigative Journalist Ferdinand Lundberg hatte in seiner 1936 erschienenen und mehrfach neu aufgelegten Biographie Imperial Hearst viele unschöne Details über sein Studienobjekt zutage gefördert und reichte eine Klage ein, weil das Drehbuch zu Citizen Kane seiner Meinung nach ein Plagiat war. Das Gerichtsverfahren blieb ergebnislos, weil sich die Juroren nicht einigen konnten, festigte jedoch im allgemeinen Bewusstsein die Verbindung zwischen Hearst und Kane. Citizen Kane lässt sich aber nicht auf eine Abrechnung mit Hearst reduzieren. Die von ihm übernommenen und in die Filmfigur Charles Foster Kane eingegangenen Eigenschaften sind der Ausgangspunkt für weiterführende, politische und gesellschaftliche Überlegungen.

Teil 2 [1]: Rosebud ohne Klitoris: Citizen Kane und das amerikanische Jahrhundert


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