Unruhen in Frankreich: Neuer Trouble in Pariser Vorstadt dehnt sich rasant aus
Bürgerkriegsähnliche Szenen: Tödlicher Schnellschuss eines Polizisten auf einen Jugendlichen löst nächste Welle von Protesten gegen Polizeigewalt aus. Was das mit Segregation zu tun hat.
"Völker der Welt, schaut auf diese Stadt": Der berühmte Ausspruch von Ernst Reuter, damals (1948) auf Westberlin bezogen, findet derzeit und in naher Zukunft in doppelter Weise auf Paris – die Vor- und Trabantenstädte eingeschlossen – Anwendung.
Mulmig wird es schon seit längerem
Zum einen beginnen sich die Blicke der übrigen Welt allmählich auf die französische Hauptstadtregion zu richten, weil dort die nächsten Olympischen Spiele 2024 ausgetragen werden. Berlin hatte sich ja vor zehn Jahren ebenfalls beworben, auch dabei wurde an den Reuter-Ausspruch erinnert, doch Paris erhielt den Zuschlag.
Zunehmend wurde es einem Teil der französischen Öffentlichkeit dabei in letzter Zeit mulmig. Im Zusammenhang mit dem zunehmend miesen Funktionieren vieler öffentlicher Verkehrsmittel (Personalmangel, Materialverschleiß, lange unzureichende Investitionen) wurde jüngst darauf verwiesen, dass aber nur noch ein Jahr Zeit sei, bis sich Hunderttausende zusätzliche Fahrgäste dort drängeln könnten.
Dazu kommt die scharfe Opposition gegen Regierung und Rentenreform dieses Frühjahrs sowie neue Proteste gegen Arbeitsbedingungen im Zusammenhang mit den für die Zeit der Spiele angebotenen Zeitverträgen, etwa Boykottaufrufe aufkamen.
Der neue Flächenbrand in ganz Frankreich
Nun kommt jedoch neuer Trouble hinzu, in Gestalt sich rasant ausdehnender Unruhen, die seit Dienstagabend und mindestens in die vergangene Nacht – mit einer Fortsetzung über den heutigen Freitag hinaus ist jedoch zu rechnen – über ganz Frankreich ausdehnten.
Diese erfassen überwiegend die städtischen Ballungsräume. Allerdings werden auch aus kleineren Kommunen inzwischen Vorfälle gemeldet wie aus Podensac in der Nähe von Bordeaux, 3.000 Einwohner.
Eine österreichische Ministerin sagte deswegen bereits überstürzt Termine im Raum Paris ab, während international die auch bei vorausgegangenen, ähnlichen Ereignissen übliche Sensationsberichterstattung einsetzte.
Auch in Deutschland gibt es unruhige Momente – wie immer man diese inhaltlich bewerten mag, sei es im Berliner Viertel Neukölln, sei es zu Corona-Zeiten in Stuttgart oder anderswo. Und doch ist daran so gut wie nichts mit den französischen Ereignissen zu vergleichen. Aber warum?
Natürlich sorgt der zentralstaatliche Charakter Frankreichs für eine erleichterte und beschleunigte Ausdehnung von Revolten oder Riots, jedenfalls dann, wenn ihnen ein politischer Hintergrund zugrunde liegt, aufgrund dessen eine Übertragbarkeit möglich erscheint. Dies war auf quasi landesweiter Ebene zuletzt bei Unruhen infolge des Todes der beiden Jugendlichen Bouna Traoré und Zyed Benna 2005 in Clichy-sous-Bois der Fall.
Aber auch die gesellschaftlichen Hintergründe des Geschehens, also – neben dem unmittelbaren Auslöser in Form von Polizeigewalt, siehe dazu unten – eine räumliche Segregation von Bevölkerungsgruppen nach Einkommen in Kombination mit Abstammung und Herkunft, die man in diesem Ausmaß und in dieser Klarheit anderswo in Europa nicht antrifft, sorgen für eine besondere Explosivkraft.
Zumal diese Realität im französischen Falle, wo die Egalité, also der Anspruch auf Rechts- und Chancen- sowie ein Mindesmaß an sozialer Gleichheit – ja zu den offiziellen Staatsansprüchen zählt und zugleich revolutionäre Ursprünge (im Zeitraum 1789 bis 1793) aufweist, in besonders eklatanter Anweise mit den von etablierter Seite her proklamierten Zielen zusammenstößt.
Dieses Mal geht es noch schneller als im Oktober/November 2005, denn damals benötigte das Feuer zwischen einer halben und einer ganzen Woche, um über die unmittelbar angrenzenden Kommunen hinaus den Rest des Landes zu erfassen.
Dieses Mal dauerte es nur Stunden, bis es nach dem Ausgangsort der Ereignisse, Nanterre in der Nähe von Paris, am Dienstagabend auch etwa Bordeaux erreichte, am Mittwoch dann Lille und Toulouse. Wozu auch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologie beitrugen, die in Sekundenschnelle die Bilder vom einen an den anderen Ort tragen, wo man vor zwanzig Jahren oft noch die Abendnachrichten im Fernsehen abwarten musste.
In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag knallte und brannte es an vielen Orten, unter anderem auch an innerstädtischen Punkten in Paris und Marseille. Insgesamt 667 Menschen wurden in der Nacht zum heutigen Freitag, laut Angaben des Innenministeriums vom frühen Morgen, festgenommen.
Die Staatsmacht hat in der Nacht zum Freitag insgesamt 40.000 Uniformierte zur "Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung" auf die Straßen geschickt. Doch dies goss noch eher Öl ins Feuer. Zumal ja polizeiliches Handeln den unmittelbaren Auslöser für die Revolten und Riots abgab.
Am Dienstagmorgen gegen acht Uhr erschoss ein 38-jähriger Polizist, der zuvor einer Motorradeinheit – wie sie ab März 2019 zum harten Vorgehen gegen die Gelbwesten-Proteste neu aufgestellt wurden – angehörte und durch seine Vorgesetzten ausgesprochen gut benotet worden war, einen 17-Jährigen aus einer algerischstämmigen Familie. Dessen Vorname lautet Nahel, nachdem am Dienstag zunächst einen Tag lang die falsche Namensvariante "Naël" durch die Medien kursierte.
Der Heranwachsende saß ohne Führerschein am Steuer eines Miet-Mercedes, in dem sich zwei seiner Freunde befanden. Dies ist zu beanstanden, doch darauf steht nicht die Todesstrafe. In den Videos zum Todesfall, die längst überall kursierten, hört man unter anderem einen den Polizisten zu dem jungen Fahrer sagen: "Du wirst Dir noch eine Kugel in den Kopf einfangen!"
Und man hört einen weiteren Polizeibeamten etwas ausrufen, was "Coupe!" (Dreh den Zündschlüssel ab) bedeuten könnte, aber auch "Shoot!" Jedenfalls die Opferfamilie bezeichnet es als Aufforderung zum Schusswaffengebrauch durch einen Kollegen.
Die Angaben der beteiligten Polizeibeamten lauteten zunächst, diese hätten in Notwehr gehandelt, sei doch der Wagen auf sie zugefahren. Doch dann tauchte das erste Handyvideo auf, das diese Version klar widerlegte und zeigt, dass sich keiner der beteiligten Beamten vor dem Fahrzeug, etwa vor dessen Motorhaube befand und sich dadurch in Lebensgefahr befunden hätte. Überdies hätten die polizeilichen Schützen selbstredend etwa auf die Reifen zielen können.
"Wie viele Nahel gibt es, die nicht gefilmt werden?", fragte eine junge Frau gestern in Nanterre auf einem von ihr mitgeführten Schild. Dort versammelten sich zehn- bis fünfzehntausend Menschen (die polizeiliche Zahl lautet 6.500) zu einem Trauer- und Protestzug, für die Protestzeit – an einem Wochentag um 14 Uhr – eine höchst beachtliche Zahl.
Junge moslemische Frauen mit tiefrot Henna-bemalten Hände, blondbärtige Fußballfans mit Messi-T-Shirts und in Turnschuhen, algerische Großmütterchen mit babouches (Straßenpantoffeln), Linke und einzelne Politiker/innen – in der Menge erkannte man die Abgeordneten Danièle Obono und Eric Coquerel – mischten sich zu einer kompakten, dichtgedrängten Menge. Beim Eintreffen an dem Ort, an dem die tödlichen Schüsse fielen, warteten bereits Polizeieinheiten, die kurz darauf massiv Tränengasgranaten verschossen.
Auch dies ist ein Unterschied zu 2005, denn damals fanden keine breiten Demonstrationen statt, sondern fast nur Riots. Es könnte auch einen Keim der Hoffnung in sich bergen, dass die frei werdenden Energien der Revolte doch noch für gesellschaftliche Ziele in produktivem Sinne kanalisiert werden könnten, statt sich in der Zerstörung von – oft für die Bevölkerung nützlichem – städtischem Mobiliar und einigen Plünderungen zu erschöpfen.
Der 2002 verstorbene Soziologe Pierre Bourdieu gab wenige Monate vor seinem Tod in einem ihm gewidmeten Film zu Protokoll: "Es geht nicht darum, Autos zu verbrennen. Es geht darum, eine Bewegung zu haben, die Autos verbrennen kann, aber ein Ziel aufweist."