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"Unsere Bewusstheit zeitigt auch entschiedene Nachteile"

Gespräch mit Alexander Braidt über die Sonderstellung des menschlichen Gehirns - Teil 2

Den Ausführungen von Alexander Braidt zufolge sind die konträren Positionen der Einzelwissenschaften vom Menschen vor allem dem Umstand geschuldet, dass diese ihre Ergebnisse verabsolutieren und nicht den Entwicklungszusammenhang begreifen, der mit Hilfe von Philosophie und Evolutionsbiologie rekonstruiert werden kann. Teil 2 des Interviews mit Alexander Braidt zu seinem Buch Bewusstsein - der Abgrund zwischen Mensch und Tier.

Teil 1 [1]: Die Verbindung von Hirnforschung und Philosophie

In welcher Position befindet sich das Bewusstsein im Verhältnis zum Unbewussten?
Alexander Braidt: Das entscheidend Neue, das sich mit der entstandenen "Bewusstheit" ergibt, ist das bewusste Ich des Menschen. Über ein Ich verfügen natürlich auch Tiere, wie ihr ichbezogenes Verhalten verrät. Nur bleibt dieses Ich unbewusst, wie auch dem Menschen ein großer Teil seines Ichs nicht bewusst ist, womit Psychologie und Psychoanalyse sich dann herumschlagen. Da nun der Grund-Zustand des Bewussten so gut wie jede psychische Leistung erfassen kann, wird auch der wichtigste Teil unseres Ichs bewusst.
Die moderne Hirnforschung hat ein bewusstes Ich zur Illusion erklärt, weil sich im Hirn des Menschen kein zentraler, fixer Ort ausmachen lässt, der alles, was wir tun und denken, steuert - kein Humunkulus gewissermaßen. Doch wer behauptet eine solche Absurdität? Selbst Lieschen Müller weiß, dass zwischen ihrem Gefühl und ihrer Vernunft, zwischen ihrem Denken und Sprechen, zwischen ihrem Wollen und Können usw. gravierende Differenzen bestehen. - Wie ein bewusstes Ich entsteht und wie es mit seinem unbewussten Part kooperiert, behandle ich in einem eigenen Kapitel meines Buches.
"Neue Handlungsoptionen entstehen"
Was also bedeutet das Entstehen eines bewussten Ichs für die Gesamtpsyche? - Vor allem entsteht damit zum ersten Mal in der Geschichte des Lebens ein zentrales Oben, auch wenn diese Zentrale durchaus widersprüchlich in sich prozessiert. Die Bewusstheit des Teil-Ichs erlaubt darüber hinaus, wichtige End-Resultate des permanenten, unbewussten Denkens als Intuition, Fantasie, spontanes Verhalten und Spracheingebung - erstens - überhaupt zu registrieren, zweitens beliebig oft und gründlich zu prüfen und zu korrigieren und drittens über die weitere Verwendung zu entscheiden. Kurz: Das Gesamtverhalten des Menschen wird zwar konfliktbeladener, aber auch unendlich reicher und vielfältiger, so dass neue Handlungsoptionen entstehen.
Gleichzeitig kann unser Verhalten, wenn auch noch so geprägt vom Unbewussten, wesentlich konziser gesteuert werden. Vor allem aber wird durch Bewusstheit die ungeheure Leistungsfähigkeit des Unbewussten und sein unerschöpfliches Material für die Kreativität des Menschen erst zugänglich und kritisch verwendbar.
"Dualistische Spaltung"
Können Sie uns die Beziehung zwischen Gefühl, Vernunft, Fantasie, Kunst, Religion, und Wissenschaft erläutern?
Alexander Braidt: Die Beziehungen zwischen diesen selbst schon vielschichtigen Begriffen sind dermaßen komplex, dass sich die Frage in diesem Rahmen nicht beantworten lässt. Um wenigstens ein Beispiel zu geben, greife ich das Begriffspaar Religion - Wissenschaft heraus. Wenn wir von den Vorläufern unserer Hoch-Religionen ausgehen - von Animismus und Spiritualismus - dann stellen wir fest, dass Religion eine frühe Form der Welterklärung ist, die einen von der sinnlich erfahrbaren Welt völlig unabhängigen Geist unterstellt. Fundamental ist also die dualistische Spaltung zwischen Geist, Seele oder Gott einerseits und der materiellen Welt andererseits.
Aus heutiger Sicht ist diese Sichtweise gut erklärbar: Die Frühmenschen waren noch so sehr eingebunden in die Natur, hatten noch so wenig Wissen über deren inneren Aufbau und Funktionieren, dass sie eine fundamentale Eigenerfahrung auf die gesamte Natur übertrugen: Die Eigenerfahrung nämlich, dass sie selbst und ihr Körper von Bedürfnissen, Trieben, Ahnungen, Stimmungen, Eingebungen usw. beherrscht wurden, die sie weder sehen noch fassen und denen sie auch keinen Ursprung zuordnen konnten.
"Entstehungskern der Religionen bleibt gleich"
Es waren für sie deshalb je nach ihrer Erscheinungsweise verschiedenste Geister - vor allem gute oder böse -, die einer völlig anderen, jenseitigen Welt angehören. Da die Natur, belebte wie unbelebte, unerklärliche und staunenerregende Phänomene zeigt, lag nahe, dass auch die Erde und alles Leben auf ihr von verschiedensten Geistern beherrscht würden. Obwohl aus den Geistern im Laufe der Zivilisationsentwicklung äußerst spezielle Götter und aus den Göttern der eine, total abstrakte Gott wurde, aus fantastischen Geschichten und Mysterien Mythen und Legenden und aus diesen wiederum ausgeklügelte Theologien wurden - der Entstehungskern blieb sich gleich.
" Vage Gesamtresultate des Unbewussten werden als Gefühle bewusst"
Alle Religionen wurzeln in dem Grunddogma, dass dem Gefühl von der Existenz einer überirdischen Macht auch eine Wirklichkeit entspreche. Das Gefühl hat nun die verführerische Eigenschaft, dass es eine stärkere Überzeugungskraft als die Vernunft besitzt und niemand weiß, wo es herkommt und wie es entsteht. Es ist einfach da. Welchen Wirklichkeitsgehalt und welche Sicherheit können Gefühle, Intuitionen und Ahnungen aber beanspruchen?
Dazu muss man eine Vorstellung haben, wie sie entstehen. Die Hirnforschung hat sich bisher außer mit den spezifischen Erscheinungsformen von Gefühlen (wie Wut, Trauer, Mitleid usw.) nur mit ihrer Beziehung zum Körper beschäftigt. Was wir grundsätzlich zu ihrem Entstehen sagen können, ist dies:
Unser Gehirn bekommt über die Sinnesorgane und sein Gedächtnis wesentlich mehr Informationen zugeleitet, als selbst nach deren Verarbeitung zu mehr oder minder stabilen Informationsmustern bewusst werden können. Schon der Körper höherer Tiere und selbstverständlich auch unserer muss aber wissen, wie spezifische Farben, Geräusche, Tasteindrücke und Gerüche, wie komplexe Geschehnisse und deren Erinnerung zu bewerten sind: als gefährlich oder ungefährlich, als unangenehm oder angenehm, als trostlos oder hoffnungsvoll usw. Großhirne sind dermaßen leistungsfähig, dass all diese milliardenfachen Teilinformationen wechselwirkend, selbstregulierend und selbstorganisierend auf mehr oder minder bestimmte Ergebnisse zu prozessieren.
Da es sich um einen hyperkomplexen, evolutionären Prozess mit puren Informationsmustern handelt, kann er nicht logisch und kausal nachvollzogen oder gar bewusst werden. Nur seine vagen Gesamtresultate werden uns bewusst als - Gefühle. Gefühle sind daher unverzichtbar fürs Überleben, aber keineswegs ein Garant für absolute Richtigkeit.
"Ein stets bestärktes Gefühl überprüft nicht, es glaubt"
Und so wie die Frühmenschen etwaige Gefahrensituationen und andere Menschen zuallererst durch Gefühle beurteilten, so wurde auch die Welterfahrung als Ganzes gefühlsmäßig beurteilt; und dieses Gefühl sagte unbedrängt von jeder Wissenschaft: Überirdische Geister beseelen und beherrschen die Welt und den Menschen. Ein stets bestärktes Gefühl überprüft auch nicht, es glaubt und zwar absolut.
Die Logik und Vernunft, die mit den fantastischen Kreationen jedes Aberglaubens zweifellos verbunden sind, vor allem dann in den Hochreligionen, sind dagegen stets nachträglich in diese Gefühle, Intuitionen und Ahnungen hineingetragen und - konstruiert, keineswegs aus Fakten abgeleitet worden. Aus der Religion ist im Laufe der Kulturentwicklung die Philosophie, aus der Philosophie die denkende Wissenschaft und aus ihr die experimentelle Wissenschaft hervorgegangen. Warum, würde hier zu weit führen.
"Keine Erkenntnis wird als absolut und unhinterfragbar gesetzt
Uns muss die Beobachtung genügen, dass die Welterklärung der modernen Wissenschaft exakt umgekehrt vorgeht: Sie überträgt nicht Gefühle ungeprüft auf die Welt der Tatsachen, sondern sie gewinnt Ordnung und Regeln, ja Gesetze aus empirischen Tatsachen; ein Prozess der stets von neuem wiederholt und verbessert werden kann. Bereits hier spielen Intuition, Fantasie und Ahnung eine unverzichtbare, ja entscheidende Rolle - aber als Mittel zum Zweck eines verstandesmäßigen Ergebnisses und nicht als vorausgesetzte Gewissheit.
Aus diesem Vorgehen und seinen immer wieder zu bestätigenden Ergebnissen gehen dann erst ein höheres Gefühl der Gewissheit, der Sicherheit und der Überzeugung hervor. Die moderne Wissenschaft hat also die allgemeinste Eigenschaft der Welt, die Wechselwirkung in und zwischen all ihren Teilen, zu ihrer ureigensten Methode gemacht: Zwischen Empirie und Theorie, zwischen Vernunft und Gefühl besteht eine unaufhörliche Wechselwirkung aufgrund von Kritik und Experiment. Keine Erkenntnis wird als absolut und unhinterfragbar gesetzt, nur die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit elementarer Aussagen steigt.
"Religion und Wissenschaft sind gänzlich unvereinbar"
Gerade entgegengesetzt verhält es sich mit der Religion: Sie geht aus von dem bloßen Grundgefühl, dass eine unhinterfragbare, weil von tiefstem Gefühl getragene Wahrheit gelte: die Existenz einer überirdischen Macht. Doch diese Wahrheit wird für absolut und unüberprüfbar gehalten. Die fantastischen Eingebungen auf dieser Grundlage - die im Unbewussten eine unerschöpfliche Quelle finden - werden erst im Nachhinein mit Konstruktionen aus Vernunft, Logik und Geboten überzogen. Da die Wahrheit des Grundgefühls absolut zu sein scheint, findet nie eine echte Wechselwirkung zwischen höherer Eingebung und vernunftgeprüfter Erfahrung statt. Religion beginnt mit einem absolut gesetzten Gefühl und endet bei ihm. Sie kreist trotz aller mannigfaltigen, ideologischen Entwicklung in sich selbst.
Daher sind Religion und Wissenschaft gänzlich unvereinbar: Religion wurzelt in einem Glaubensgefühl, dessen Gehalt durch kein einziges, weltliches Faktum bestätigt werden kann - und setzt es absolut. Wissenschaft setzt weder ein Gefühl für Sachverhalte noch Vernunft und Logik absolut, sondern nähert sich Wirklichkeit und Wahrheit asymptotisch durch das unbegrenzte Wechselspiel zwischen Hypothese und Experiment an. Wenn in jüngerer Zeit die Religion immer widerstandsloser alle Erkenntnisse der Wissenschaft anerkennt, gleichzeitig aber für eine friedliche Koexistenz der immer offenkundiger sich ausschließenden Welterklärungen plädiert, so kündet dies nur von einem: dem schmerzhaften Todeskampf der Religion zumindest in vielen hochtechnisierten Ländern.

Menschenähnliche Bewusstheit als Nadelöhr für jede weitere Höherentwicklung von Leben

Worin besteht die Sonderrolle des menschlichen Bewusstseins innerhalb der Evolution? Welche Funktion fällt hierbei der menschlichen Sprache zu?
Alexander Braidt: Dem gewaltigen Primat selbstregelnder Natur- und dann auch Geschichtsprozesse steht mit dem Auftreten von Homo sapiens erstmals ein dauerhaft steuerungsfähiges Oben gegenüber: in Form der Bewusstheit. Den qualitativen Gehalt dieser Bewusstheit machen allerdings keineswegs höhere, kognitive Leistungen aus, sondern lediglich ein weitgehender Grad an Autonomie des bewusst gewordenen.
Dieser einzigartige, neurophysiologische Zustand hat zwei simple Eigenschaften mit revolutionärer Wirkung: Jede Information, also jedes neuronale Muster kann im Prinzip - erstens - beliebig verändert, kombiniert, zerlegt und vor allem immer wieder überprüft und korrigiert werden; und zweitens beliebig oft und lange. Diese elementaren Folgen der Bewusstheit kann eigentlich jeder bei sich selbst testen. Sie garantieren nicht automatisch hohe, kognitive Leistungen, aber sie bergen ein gewaltiges, innovatives Potenzial.
"Wechselwirkung zwischen dem Unbewussten und den bewussten Denkinhalten"
Wie also entstehen immer komplexere, kognitive Leistungen, wie die schier unglaublichen Resultate kultureller und zivilisatorischer Entwicklung? (Dass es hier nur um die entscheidende biologische Voraussetzung geht, nicht um die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die erst das kognitive Potential der Bewusstheit stimulieren, ist hoffentlich akzeptiert.) Denn unsere Bewusstheit zeitigt durchaus entschiedene Nachteile:
Erstens ist sie viel langsamer wie das Unbewusste; zweitens behandelt sie höchstens drei bis vier Größen gleichzeitig, während das Unbewusste Tausende von beteiligten Faktoren simultan verarbeitet; drittens prozessiert die Bewusstheit nicht, sondern sie gestattet nur kausal, Schritt für Schritt, grobschlächtige Schlüsse zu ziehen, da Gedanken und erst recht Begriffe auch nur krude Annäherungen an die volle Wirklichkeit sind; viertens verleitet sie dazu, unausgegorene, starre Vorstellungen einer dynamisch-komplexen Wirklichkeit überzustülpen.
Der tiefere Erklärungsgrund für die fantastischen, kognitiven Leistungen der Menschheit liegt nicht in der Bewusstheit und ihrem Autonomiemodus per se. Wesentlich ist vielmehr die mannigfaltige Wechselwirkung zwischen den gigantischen, kognitiven Leistungen des Unbewussten und den mit dem Menschen neu entstandenen, bewussten, aber noch sehr bescheidenen Denkinhalten. Die substanzielle, die qualitative, vor allem die innovative Leistung liefert dabei nach wie vor das Unbewusste - und kann seiner Prozessform nach nur das Unbewusste leisten.
"Teilweises Bewusstwerden verändert beim Menschen alles"
Denn dieses Unbewusste besteht in einem permanenten, selektiven Optimierungsprozess sehr vieler Informationsmuster, deren relativ stabile Zwischenresultate zu Verhaltensoptionen werden. Beim Menschen bildet ihr wichtigster Teil die bewusste Wahrnehmung, während wir der mehr oder minder zufälligen Zwischenresultate unseres gewaltigen, unbewussten Denkens in Form von Einfällen, Intuitionen und Fantasien bewusst werden. Während solche Zwischenresultate - das sind relativ stabile, neuronale Muster - beim Tier das spontane Verhalten und folglich nur einen vorübergehenden Teil einer ununterbrochenen Reiz-Reaktionskette ausmachen, verändert ihr teilweises Bewusstwerden beim Menschen alles:
Erstens wird die ungeheure Leistungsfähigkeit selbstregulativer und optimierender, informationsverarbeitender Prozesse und ihr Reichtum teilweise verfügbar; zweitens können diese fixierten Ergebnisse im relativ autonomen, neuronalen Raum der Bewusstheit beliebig seziert, miteinander kombiniert, kritisch geprüft und korrigiert werden; drittens kann dieser Denkprozess beliebig unterbrochen, wieder aufgenommen und verlängert werden und viertens geraten all diese bewussten Denkresultate, wie gelungen auch immer, erneut in den kreativen Mahlstrom und evolutionären Optimierungsprozess des Unbewussten.
Mit einem Wort: Erstmals in der Evolution des Lebens kann das fantastische Potenzial des kreativen Unbewussten von Oben - von einem bewussten Teil-Ich - erfasst, überprüft, korrigiert und so gesteuert werden. Dieses gesteigerte, kreative Potenzial bewussten Denkens in Wechselwirkung mit den immer neuen Erfahrungen kooperativen Handelns löst die biologische Evolution durch die immer mehr gerichtete zivilisatorische Entwicklung der Menschheit ab. (Dass das denkerische Potenzial der Bewusstheit bzw. seine Erschließung weitgehend abhängig ist vom gesellschaftlichen Entwicklungsniveau und seinen jeweiligen Motiven, ist ein ganz eigenes Thema.)
Es ist hier nicht der Platz, die umstürzenden Folgen zu zeigen, die sich für die menschlichen Denkformen durch die Bewusstheit ergeben. Ich nenne nur die Stichworte Vergleichen, Abstrahieren, Verallgemeinern und Analysieren sowie ihr jeweiliges Pendant. (Näheres dazu in meinem Buch.) Entscheidend ist, dass ihrer Anwendung aufgrund der Bewusstheit keine Grenzen gesetzt sind. In Wechselwirkung mit dem kreativen Material des Unbewussten und mit der gesellschaftlichen Praxis gibt es daher - entgegen Kant - keine prinzipielle Schranke für die Erkenntnis- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen.
Die einzige Schranke für die Weiterentwicklung der Zivilisation ist der Mensch selbst. Daran zeigt sich: Die biologische Evolution hat viele Möglichkeiten an Sinnesorganen und ihrer variablen Kombination durchexerziert. Eine komplexere Höherentwicklung von Leben ist nur möglich, wenn die elementarsten Eigenschaften der Materie und die Entwicklung ihrer Möglichkeiten rein informationell erfassbar werden. Menschenähnliche Bewusstheit erweist sich somit als das Nadelöhr durch das jede weitere Höherentwicklung von Leben hindurch muss - wo auch immer.
Sprechen und Denken
Sinnvollerweise haben Sie die Frage nach der Funktion der menschlichen Sprache bei der Menschwerdung angefügt, denn viele Hirnforscher und Anthropologen sehen in der komplexen Sprache das stärkste Charakteristikum des Menschen. Diese Wissenschaftler irren, indem sie sich in die kritiklose Folge von Wilhelm von Humboldt und Ludwig Wittgenstein begeben, die Denken und Sprache weitgehend gleichsetzten - ein schier unglaublicher Fehler. Denn jeder, der schon versucht hat, seine einigermaßen komplexen Gedanken sprachlich zu formulieren, wird festgestellt haben, dass dies große Schwierigkeiten bereitet, weil unsere Sprache zu armselig ist, um die vielschichtige Bedeutung von weiterreichenden Gedanken adäquat auszudrücken.
"Denken unverzichtbare Voraussetzung der Sprache"
Warum korrigieren wir ständig unser Sprechen und Schreiben? Schon die schlichte Tatsache, dass unser Denken unentwegt weiterprozessiert, während wir beim Sprechen und erst recht beim Schreiben ein fixes Resultat liefern müssen, macht die qualitative Differenz deutlich. Sprache drückt unser Denken aus - nicht umgekehrt. Dass wiederum die Schwierigkeiten beim Formulieren von Gedanken uns rückwirkend auf Schwächen unserer Gedanken aufmerksam machen, sei unbestritten.
Deshalb stehen Denken und Sprache in ständiger, sich gegenseitig befruchtender Wechselwirkung. Dennoch bleibt Denken die unverzichtbare Voraussetzung unserer Sprache und Sprache erweist sich als durchaus löchriges Transportmittel unserer Gedanken. Wir denken auch nicht allein in Sprache und schon gar nicht in syntaktisch korrekter. Auch wenn Sprache uns hilft, unser Denken zu vertiefen, so dient sie uns doch primär als Hilfsmittel, um unseren inneren Dialog durch den äußeren zu erweitern.
"Fähigkeit zum bewussten Denken und Entwicklung der Sprache"
Doch selbst die Sprachforscher, die zwischen Sprache und Denken klar unterscheiden, erkennen nicht, was die rudimentäre, tierische Sprachfähigkeit zur menschlichen werden lässt (abgesehen natürlich von den organischen Voraussetzungen). Zwar verweisen sie auf das, was evident ist, nämlich die höhere Komplexität menschlicher Sprache in Semantik, Syntax und Grammatik sowie den weit größeren Wortschatz. Das eigentliche Problem lautet aber nicht, worin sich der Unterschied zwischen tierischer und menschlicher Sprache zeigt, sondern wie der Mensch zu einer solch komplexen und bedeutungstiefen Sprache fähig wird? Es ist seine Fähigkeit zum bewussten Denken, die diese Entwicklung der Sprache erst möglich macht.
Wir können dies sehr leicht überprüfen, indem unser "inneres Auge" uns während des Sprechens einmal genau beobachten soll. Zwar denken wir nicht zuvor bewusst und exakt, was wir sprechen, vielmehr geht unserem Sprechen nur ein allgemeiner Gedanke voraus, manchmal auch nur ein bestimmtes Gefühl dessen, was wir sagen wollen. Auch liefert unser unbewusstes Denken sehr spontan die passenden Worte und auch die meist richtige Syntax und Grammatik - aber es ist nicht für das gesamte Sprechresultat verantwortlich.
Unser bewusstes Denken registriert nämlich mehr oder minder aufmerksam begleitend, wenn die Bedeutung eines Wortes nicht genau genug unserm Gedanken entspricht, wenn vielleicht die Zeit anders gewählt werden müsste oder ein Nebenaspekt schnell noch in einen Nebensatz zu packen wäre. Es reagiert auch grundsätzlicher, wenn die Sprache zu allgemein ausfiel oder ein wichtiger Grundsatz unerwähnt blieb usw.
"Was kann überhaupt absolut frei sein?"
Kurz: dass die Komplexität und Bedeutungstiefe unseres Denkens auch einigermaßen in unserer Sprache wiedererscheine, dafür sorgt die Prüf-, Korrektur- und Lenk- ja Steuerungsfunktion unseres bewussten Denkens. Den Großteil unserer Sprache leistet ganz automatisch unser unbewusstes Denken, doch die menschentypische Präzisierung und Zielführung unseres Denkens und seiner entsprechend differenzierten Sprache, das vermag nur der bewusste Teil unseres Denkens zu gewährleisten. dass hierbei eine ständig in ihrer Gewichtung schwankende Wechselwirkung zwischen unbewusstem Denken, bewusstwerdender Sprache und bewusstem Denken stattfindet, versteht sich inzwischen wohl von selbst.
Am Ende noch eine Frage, die bereits den alten Kant umgetrieben hat: Wie verhält sich das Bewusstsein zur Umwelt und wie frei ist der freie Wille?
Alexander Braidt: Wenn ich als Grund für die Bewusstheit des Menschen einigermaßen überzeugend den psychischen Zustand einer relativen Autonomie ausmachte, dann dürfte schon klar sein, dass ich kein strikter Determinist bin. Doch als das eigentlich Skandalöse an der Debatte über den sogenannten freien Willen empfand ich nicht so sehr, dass ein freier Wille überhaupt bestritten wurde; skandalös war, dass über die Freiheit des Willens endlos schwadroniert wurde, ohne dass je der Freiheitsbegriff geklärt wurde.
Schnell machte die Argumentation der Deterministen in der Hirnforschung klar - vorneweg Gerhard Roth und Wolf Singer -, dass gegen die weltfremde Vorstellung einer absoluten Freiheit polemisiert wurde. Nur: Was kann überhaupt absolut frei sein? Außer einem eingebildeten Gott, der genau aus diesem Grund nicht real existieren kann, fällt mir partout nichts ein. Alles was existiert und entstanden ist - von den Atomen über die ersten Vögel bis zum frei spekulierenden Hedge-Fond - alles findet konkrete Voraussetzungen und Rahmenbedingungen vor, die seine Existenz mehr oder minder direkt bedingen und bestimmen. Es wurde also widerlegt, was es nicht geben kann und niemand behauptete. (Übrigens unterstellt auch Kant prinzipiell die Möglichkeit einer absoluten Freiheit des Willens; eine Annahme, die sich aus seiner idealistischen Position erklärt.)
"Beliebig neue Denkmöglichkeiten"
Tatsächlich sind die Bewusstseins-Inhalte des Menschen von der Wiege bis zur Bahre durch tausende Gegebenheiten bedingt: Wo und wann wir geboren wurden, welche Eltern, Freunde, Lehrer wir hatten, all die dadurch gemachten Erfahrungen bestimmen zuerst von außen dann von innen unsere Psyche. Eine relative, geistige Freiheit muss daher vor allem in verschiedenen Denkmöglichkeiten bestehen. Eine gewisse Unbestimmtheit der Psyche gewährt schon der hyperkomplexe Prozess des Unbewussten - weswegen auch höhere Tiere kein eindeutig bestimmtes Verhalten, sondern bereits Individualität zeigen.
Indem aber Teile des Unbewussten beim Menschen in den Zustand einer weitgehenden, neuronalen Autonomie geraten - wodurch sie bewusst werden -, ergeben sich für das bewusste Ich prinzipiell beliebig neue Denkmöglichkeiten. Möglichkeiten sind aber keine Wirklichkeiten und in der Tat, sind wir zwar im Wachzustand meist bewusst, nutzen aber den Spielraum unserer Denkmöglichkeiten sehr wenig. Dennoch ergeben die vielen kleineren Wahlmöglichkeiten unseres bewussten Denkens einen Hauch von Freiheit.
"Internet kein geniales Werk eines Einzelnen"
Viele, durchaus kleine Denk- und Handlungsvariationen in einer Gesellschaft summieren sich irgendwann in einem Gehirn oder vielen Gehirnen zu einer bewusst werdenden, großen Entdeckung, die den Freiheitsgrad der ganzen Menschheit vergrößert. So war das Internet weder das geniale Werk eines Einzelnen noch das geplante Ziel einer Gruppe. Über einige Jahre summierten sich jeweils kleine, autonom gewonnene Verbesserungen zu einer menschheitsumwälzenden Technologie. Denn im guten wie im schlechten vergrößert das Internet die Denk- und Handlungsmöglichkeiten ganzer Gesellschaften geradezu fantastisch, so dass es zum Zentralnervensystem der ganzen Menschheit zu werden verspricht, das irgendwann eine höhere Form menschheitlicher Bewusstheit kreiert.
Kurz: Der zusätzliche Freiheitsgrad, den die Wahlmöglichkeiten bewussten Denkens gewähren, mag noch so gering sein - in der geschichtlichen Akkumulation und Potenzierung vieler, kleiner Denkgewinne ergibt sich eine immer mehr beschleunigte Umwälzung der menschlichen Zivilisation. dass ausgerechnet die immensen Profit- und dadurch Innovationszwänge der kapitalistischen Produktionsweise den Freiheitsgrad menschlicher Bewusstheit immer stärker wirksam werden lassen, können wir unter der Ironie oder Dialektik der Geschichte verbuchen.

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