"Unsere Corona-Fehler"
Eine Hamburger Wochenzeitung zieht Bilanz. Wenn die selbstkritische Aufarbeitung des größten Ausnahmezustands in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so beginnt, dann steht noch viel Arbeit bevor.
"Unsere Corona-Fehler" titelt die aktuelle Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit und lässt 20 Menschen, "die in der Pandemie eine wichtige Rolle spielten", eingestehen, "wo sie falsch lagen – und was sie heute nicht mehr so machen würden".
Wenn dies der Beginn einer selbstkritischen Aufarbeitung des größten Ausnahmezustands in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sein soll, dann steht noch sehr viel Arbeit bevor.
Die Ankündigung auf der Titelseite der Zeit-Printausgabe klingt vielversprechend:
Wo waren sie zu ängstlich, wo zu leichtsinnig? Wo haben sie übertrieben, wo weggeschaut? Bekenntnisse von Wissenschaftlern und Medizinern, Politikern und Journalisten – auch aus unserer eigenen Redaktion.
Die Zeit, Ausgabe Nr. 5 vom 26. Januar 2023
Doch wie immer die Fragen genau formuliert waren, die veröffentlichten Antworten lassen bei vielen Akteuren nur eine sehr bescheidene Selbstkritik durchblicken. 20 Antworten stehen in der gedruckten Zeitung, zusammen mit fünf weiteren sind sie kostenpflichtig auch online zu finden.
Fehler, Meinungen, Fakten – und Modellierer
Am besten zum Beitrags-Titel "Da habe ich mich geirrt" passt ausgerechnet der zu Corona sehr selbstbewusst polternde Frank Ulrich Montgomery (gerne fälschlich als "Weltärztepräsident" vorgestellt). Denn der Ärzte-Lobbyist schreibt:
Mein zweiter Fehler war der Glaube, mit Impfungen Herdenimmunität erzeugen zu können und dass Impfungen frei von Nebenwirkungen wären.
Prof. Frank Ulrich Montgomery, Radiologe
Auch wenn es sich um zwei Fehler handelt, aber hier gibt jemand tatsächlich zu, Unfug geredet zu haben. Wie immer er zu dem Glauben kam, ein Arzneimittel könne nur und genau eine gewünschte Wirkung entfalten, ohne jede weitere Folgewirkung, aber es ist ein klares Eingeständnis.
Das Problem freilich war nicht Montgomerys Glaube – der ist in Deutschland frei –, sondern die Darstellung dieses Glaubens als Wissenschaft, als Tatsache. Und diese Verwechslung zieht sich durch viele der 25 angeblichen Fehlergeständnisse.
Natürlich ist das Wissen zu Corona im Laufe der Zeit gewachsen und das Virus hat sich verändert. Mit gewachsenem Wissen kann man zu anderen Bewertungen kommen. Doch so viel hat sich in der biologischen Welt gar nicht getan und das Geschehen einer Pandemie hat sich bei Corona auch nicht neu erfunden.
Das Problem vieler Fehler ist, dass Meinungen für Fakten gehalten und Tatsachenvermutungen als Tatsächliches ausgegeben wurden (siehe: "Tatsachen als Problem der Verständigung").
Deutlich bringt das Viola Priesemann auf den Punkt:
Mir war es als Modelliererin wichtig, Faktengrundlagen zu liefern – deren politische Bewertung ist nicht meine Aufgabe.
Dr. Viola Priesemann, Leiterin Max-Planck-Forschungsgruppe Theorie komplexer Systeme
Modelle bieten keine Fakten, sie versuchen, Fakten zu erklären und, in Priesemanns Fall, für die Zukunft vorherzusagen. Es ist eine Tatsache, dass Priesemann Prognosen abgegeben hat; aber diese Zukunftsvermutungen selbst sind eben keine Tatsachen.
"Dass wir Politiker auch irren würden, war klar"
Dass es auch über die Verantwortung für diese Fehlinterpretation noch viel Streit geben könnte, legt eine Aussage von Michael Kretschmer nahe:
Im ersten Jahr der Pandemie, 2020, war alles neu für uns. Damals gab es den eindeutigen Rat aus der Wissenschaft, die Schulen zu schließen. Ich denke, das war angesichts dessen, was wir damals wussten, auch in Ordnung.
Michael Kretschmer, CDU, Ministerpräsident Freistaat Sachsen
Während Wissenschaftler wie Priesemann oder Christian Drosten (der in der Zeit-Sammlung nicht vorkommt) immer betonen, keine politischen Entscheidungen vorgeben zu wollen, haben sich Politiker von Anfang an genau auf solch konkrete Empfehlungen der Forscher berufen.
Dass Kretschmer die Verantwortung übernimmt, ist seiner Aussage nicht zu entnehmen, zumal er die entstandenen Kollateralschäden mit dem damaligen Wissensstand wegzuwischen scheint: Wir wussten wenig, da ist die Wahrscheinlichkeit falsch zu liegen halt hoch, kann man nichts dran machen. Oder in anderen Worten:
Dass wir Politiker auch irren würden, war klar. So eine Pandemie haben wir ja nie erlebt.
Bodo Ramelow, Die Linke, Ministerpräsident Thüringen
Dirk Brockmann, Physik-Professor an der Humboldt-Universität Berlin, meint, "in der Kommunikation ist bei uns Modellierern viel Luft nach oben gewesen". Und er war überrascht, wie stark die Bevölkerung "auf die Modelle und Debatten reagieren". Mehr Fehler benennt er nicht.
Jonas Schmidt-Chanasit, Professor für Arbovirologie an der Uni Hamburg, meint bei der Veröffentlichung eines Positionspapiers den falschen Zeitpunkt gewählt zu haben.
Dass er nicht häufiger zum Telefonhörer gegriffen hat, um sich mit Fachkollegen auszutauschen, sieht Prof. Hendrik Streeck, Virologe an der Uni-Klinik Bonn, als sein Corona-Versäumnis.
Aber wie steht es um die Verantwortung?
Karl-Josef Laumann, beginnt sein "Mea Culpa" ganz politikermäßig:
Ich muss voranstellen, dass ich das landes- und bundesweite Management von Corona in der Gesamtschau als recht gelungen betrachte. Ich glaube auch, dass viele Dinge, die in der Rückschau kritisiert werden, immer vor dem Hintergrund der Situation bewertet werden müssen.
Karl-Josef Laumann, CDU, Gesundheitsminister Nordrhein-Westfalen
Kritisch sieht er heute die "strikten Besuchsregelungen für Krankenhäuser und Pflegeheime und die Belastungen der Maßnahmen für Kinder und Jugendliche". Aber wie steht es um die Verantwortung, die Entschuldigung, eine Wiedergutmachung?
Es gab Menschen, die ihre letzte Lebensphase deswegen allein verbringen mussten, und Familien, die ihre Angehörigen nicht verabschieden konnten. Ich kann den Gedanken daran nur sehr schwer ertragen.
Karl-Josef Laumann
So zieht sich das durch. Wie künftig all die "Fehler" vermieden werden können, Entscheidungen, die für Leid und Elend gesorgt haben, weiß man nach den 25 Statements nicht. Wie die weitere Aufklärung gelingen soll, ist vor allem deshalb rätselhaft, weil sich eine verantwortliche Gruppe besonders rarmacht: Journalisten.
Journalisten: Verweigerung der Selbstreflexion
Zwar kommen vier Redakteure der Zeit zu Wort. Doch von den zahlreichen Fehlern ihrer Corona-Berichterstattung wird fast nichts angesprochen.
Jakob Simmank hat festgestellt, dass China doch kein Vorbild ist. Martin Machowecz unterschätzte die zweite Welle im Osten: "Diejenigen, die harte Maßnahmen anrieten, hatten – in einer Phase, in der es weder Impfungen noch großflächig Tests gab – richtiggelegen."
Elisabeth Raether revidiert ihre Prognose, Corona werde alles ändern, und lebt nun "okay mit der Erkenntnis, dass der Wunsch der Menschen, es sich gut gehen zu lassen, nicht verschwindet". Und Andreas Sentker räumt ein, die sozialen Folgen unterschätzt zu haben:
"Pest, Cholera, Spanische Grippe – ich hätte es nicht vergessen dürfen: Pandemien sind ungerecht. Sie treffen vor allem sozial Benachteiligte."
Sozial ungleich getroffen hat aber weniger die Pandemie als die Pandemiebekämpfung – und da kam der Journalismus ins Spiel.
Unter dem zwei Zeitungsseiten langen Beitrag steht:
Die Zeit hat auch Journalistinnen und Journalisten anderer Medien gefragt, wie sie heute zu bestimmten Äußerungen stehen – etwa der, dass gewisse Virologen größeren Schaden angerichtet hätten als Querdenker. Bis auf Ranga Yogeshwar wollten sie sich dazu aber nicht äußern."
Die Zeit, Ausgabe Nr. 5, 26. Januar 2023
Wir wissen zwar nicht, wie viele Politiker und Wissenschaftler von der Zeit nach einem Statement gefragt wurden, von denen dann 20 veröffentlicht wurden. Aber dass sich ausgerechnet fast alle Journalisten der Selbstreflexion verweigern, sieht nach einer weiteren sehr großen "Hürde der Aufklärung" aus.
Und die Zeit zeigt nebenbei, wie unmöglich es ihr bis heute ist, sachgerecht über Kritik an der Corona-Politik zu schreiben. Denn was sie hier "Querdenker" nennt, sind im Original "Corona-Leugner" – für die Zeit offenbar Synonyme. Die Passage, auf die damit angespielt wurde, lautete wörtlich wie folgt und verlangt allein schon nach Entschuldigung:
Einen größeren Schaden als Corona-Leugner haben im vergangenen Jahr wohl Experten angerichtet, die immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert haben, zum Beispiel Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck.
Priorität müsse es haben, die Risikogruppen zu schützen, hörte man oft aus diesem Lager. Dabei ist längst klar, dass das bei hohen Fallzahlen nicht funktioniert. Wann platzt Ihnen der Kragen?
Rafaela von Bredow und Veronika Hackenbroch, Spiegel-Interview mit Prof. Christian Drosten
Der vor allem aus dem Fernsehen bekannte Ranga Yogeshwar gibt tatsächlich Fehler zu. Das eine könnte man fehlende Recherche nennen:
[Es] hätte mich eines noch stutziger machen müssen: Wie wenig wir bei den Corona-Toten darüber wussten, wie viele Menschen wirklich an (nicht nur mit) Covid gestorben waren. Im Nachhinein frage ich mich: War die Statistik so unklar, weil Kliniken im einen Fall mehr abrechnen konnten als im anderen? Hätte ich dem energisch nachgehen müssen?
Ranga Yogeshwar, Wissenschaftsjournalist
Zum anderen war Yogeshwar Testimonial für die Impfkampagne der Bundesregierung. Nun tendiere er dazu, die "Beteiligung als Fehler zu betrachten", "weil ich mehr kritische Distanz zu einem Medizinsystem hätte wahren sollen, das sich in der Pandemie an einigen Stellen als antiquiert und überfordert erwiesen hat".