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Unter Weißen: "Rassismus gibt es überall"

Mohamed Amjahid. Bild: Götz Schleser

Jeder hat rassistische Vorurteile - es kommt darauf an, sie zu erkennen und zu korrigieren, meint der Journalist Mohamed Amjahid

Wie fühlt es sich an, als nichtweißer Mensch "Unter Weißen" zu leben, wie geht man mit dem alltäglichen mal mehr, mal weniger subtilen Rassismus um? Wie erkennt man Vorurteile, wie kann man sie korrigieren? Die Geschichte der Ressentiments ist auch eine Frage der Privilegien, also der Stellung eines Menschen in der Gesellschaft, meint der Journalist Mohamed Amjahid, der marokkanische Wurzeln hat und jetzt ein Buch zu dem Thema vorgelegt hat: "Unter Weißen. Was es heißt, privilegiert zu sein" [1].

Wann hast Du Dich zuletzt bei einem rassistischen Vorurteil ertappt? Und wie hast Du reagiert?
Mohamed Amjahid: Einmal, als ich in den USA war, habe ich an einem Busbahnhof mein Handy aufgeladen. Als der Bus kam, stöpselte ich es aus. Neben mir stand ein junger schwarzer Mann und sagte: Du denkst, dass ich dein Handy klauen will. Ich verneinte und rannte zum Bus. Und fragte mich, warum ich eigentlich so sicher bin, dass ich nichts Derartiges gedacht habe, ob ich nicht unbewusst doch Vorurteile hatte. Das hat mich tagelang umgetrieben. Ich bin überzeugt, dass wir alle solche Ressentiments in uns haben.
Ein anderes Beispiel: Kurz nach der Silvesternacht recherchierte ich in Köln fürs Zeit-Magazin. Ich war in der Taunusstraße in Köln-Kalk. Die Gegend gilt als "Marokkanergetto". Unter einer S-Bahn-Brücke kam mir ein junger Mann entgegen, der nordafrikanisch aussah. Da hatte ich ein mulmiges Gefühl. Er lief einfach vorbei. Ich hatte vorher all diese Berichte über Silvester gelesen, auch in der Bild, dem Express, das gehörte zu meiner Recherche. Dabei sehe ich selbst ja auch so aus, dieses Gefühl war völlig irrational und unbegründet. Aber Gefühle kann man nicht immer kontrollieren. Deshalb ist es so wichtig, sich selbst immer zu hinterfragen und zu reflektieren.

"Man denkt immer, Rassisten sind die anderen"

In Deinem Buch geht es explizit nicht um rechtsradikale Gruppierungen wie die Anhänger von NPD, AfD oder Pegida, sondern um Rassismus in der Mitte der weißen Gesellschaft. Was sind typische Beispiele für diesen Alltagsrassismus? Und wie oft erlebst Du selbst so etwas?
Mohamed Amjahid: Das beginnt schon mit schiefen Blicken, wo mir dann viele sagen: Sei nicht so weinerlich. Aber es ist unangenehm, wenn sich Menschen im Bus wegsetzen, Frauen ihre Tasche umklammern. Und es geht bis zu konkreten rassistischen Ausfällen wie dem Racial Profiling. Kürzlich war ich in Budapest. In einem Bus kam ein Mann auf mich zu und schrie mich an. Ich verstand ihn nicht. Eine junge Frau übersetze mir dann, dass der Mann meinte, ich solle mich im Bus nach hinten setzen, wo ich seiner Meinung nach hingehöre.
Man denkt immer, Rassisten sind die anderen, sind jene, die als Neonazis erkennbar sind. Aber damit machen wir es uns zu einfach. Rassismus gibt es überall im öffentlichen Raum. In der Verwaltung, an der Uni, im Supermarkt. Wir alle haben das in uns, weil es uns so beigebracht wurde.
Du schreibst im Buch, dass Du Hassmails mitunter auch von Professoren erhältst. Bildung allein scheint also keine Voraussetzung zu der Fähigkeit, eigene Vorurteile zu reflektieren, zu sein ...
Mohamed Amjahid: Ich habe zum Buch sehr viel Feedback bekommen. Eine Ethnologin fragte, was mir einfalle, mich so zu äußern. Solche Mails bekomme ich regelmäßig von gut gebildeten und ausgebildeten Personen: Geh zurück nach Hause, kritisiere deine eigene Religion. Dabei kennen mich diese Leute gar nicht.
Nein, Bildung ist kein Heilmittel gegen Ressentiments. An der Uni erklärte mal ein Professor, dass Migration und Kriminalität monokausal zusammenhängen, dabei gaben die Statistiken, die er dazu anführte, diese Interpretation gar nicht her. Trotzdem hat ihm niemand widersprochen. Sowas hatte ich nicht erwartet, als ich anfing zu studieren. Vielleicht war ich einfach naiv.

"Niemand ist vor Rassismus gefeit, egal welche Hautfarbe er hat"

Sind derartige Tendenzen durch AfD und Pegida schlimmer geworden - oder nur sichtbarer?
Mohamed Amjahid: Sie sind sichtbarer geworden. Die Leute, die bei Pegida mitspazieren, gab es schon immer. Meine Eltern haben mir Geschichten aus den Sechzigern erzählt, die sich auch heute abspielen könnten. Nur wurden da noch keine Bücher über so etwas geschrieben, es gab das Internet noch nicht und keine Journalisten of Colour. Dass ich heute für die größte Wochenzeitung Deutschlands darüber schreiben kann, ist ein Privileg, auch das macht es sichtbarer.
Bei einem Besuch bei Verwandten in Marokko wurden ähnliche Töne gegen Flüchtlinge laut wie hierzulande. War das auch rassistisch geprägt oder ging es da eher um Ressentiments gegenüber Schwächeren?
Mohamed Amjahid: Auch das ist rassistisch geprägt. Es gibt diese Hautfarbenskala, die uns seit der Kolonialzeit beigebracht wurde. Ein Algerier in Oran sagte mir: Die Europäer erklärten uns, dass wir unter ihnen stehen, aber über den Schwarzen. Es wird immer versucht, nach unten zu treten. Niemand ist vor Rassismus gefeit, egal welche Hautfarbe er hat. Rassistische Systeme funktionieren, daher werden sie immer wieder imitiert.
Um anderen bewusst zu machen, wie unterschiedlich die Positionen sind, die Menschen in der Gesellschaft haben, und um rassistische Dynamiken zu beleuchten, sprichst Du über Privilegien. Was bedeutet es, privilegiert zu sein?
Mohamed Amjahid: Ich plädiere dafür, sich zu hinterfragen. Wer die "richtige" Hautfarbe, das "richtige" Geschlecht, den "richtigen" Pass hat - alles Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben -, der ist privilegiert und seltener Diskriminierungen ausgesetzt. Ich glaube, es würde die Gesellschaft gerechter machen, wenn jeder sich selbst bewusst machen würde: Wo stehe ich, aus welcher Position heraus spreche ich?
Müsste es eine breitere gesellschaftliche Debatte über Rassismus und Ausgrenzung geben?
Mohamed Amjahid: Mein Buch ist ja ein kleiner Beitrag zu dieser Debatte. Ich glaube schon, dass wir mehr darüber sprechen sollten. Jahrelang haben wir darüber gestritten, wer und ob jemand zu Deutschland gehört. Aber die Bonner Republik ist passé. Alle, die Nichtweiße wegschicken wollen, muss ich enttäuschen. Das wird nicht passieren. Wir müssen gleichberechtigt und auf Augenhöhe miteinander anstatt übereinander sprechen. Und die Grundvoraussetzung dafür ist gegenseitiger Respekt.
Oft sind Menschen genervt, etwa wenn darüber diskutiert wird, ob Schaumküsse auch Negerküsse genannt werden dürfen. Sie haben das Gefühl, es würden Redeverbote erteilt. Fehlt da das Bewusstsein für die Problematik?
Mohamed Amjahid: Ein Grundbewusstsein fehlt, glaube ich, bei vielen, die einfach nicht verstehen wollen, warum Menschen sich beleidigt fühlen. Als Reporter gehört es jeden Tag zu meinem Beruf, mich in andere hineinzuversetzen. Klar ist das schwierig, den Blickwinkel zu ändern. Aber wenn man sich in andere hineindenkt, verliert man nicht, sondern man gewinnt etwas. Aber natürlich gibt es rote Linien. Wenn jemand sagt: Geh nach Hause, oder: Geh nach Auschwitz - das ist keine Diskussionsgrundlage.

"Für jeden Troll braucht man individuelle Lösungen"

Auch unter diesem Interview werden sich wahrscheinlich in den Kommentaren wieder mal Hass und Hetze, Rassismus und Vorurteile ins Netz ergießen. Um Facebook tobt eine Löschdiskussion, manche Medien schalten zu bestimmten Themen schon gar keine Artikelforen mehr. Wie sollte man aus Deiner Sicht mit diesem Problem umgehen?
Mohamed Amjahid: Die eine Lösung gibt es nicht. Es gibt Hetzer, deren größter Ärger es ist, wenn man sie einfach ignoriert. Mit anderen kann man sprechen. Ich kann inzwischen ganz gut einschätzen, wo die Mühe sich noch lohnt und wo nicht. In meinem Büro hängt an der Wand eine Antwort auf einen Leserbrief. Eine Leserin schrieb mir, ganz Afrika wolle nach Deutschland, wir seien nicht das Sozialamt der Welt und so weiter. Ich antworte ihr und hielt ihren Ansichten Fakten entgegen. Sie meldete sich nochmal und bedankte sich für meine Antwort, dafür, dass ich mir die Zeit genommen habe, obwohl ich sicher Besseres zu tun hätte.
Es kann sich lohnen, auf die Leute zuzugehen, sie zu fragen, wie sie zu ihren Haltungen kommen. Es gibt von Fall zu Fall unterschiedliche Optionen, mit dem Hass umzugehen. Aber klar - wer beispielsweise den Holocaust leugnet, den muss man sperren. Für jeden Troll braucht man individuelle Lösungen.
Ein Buch wie "Unter Weißen" geht das Risiko ein, nur von jenen gelesen zu werden, bei denen es offene Türen einrennt. Wie erreicht man die anderen?
Mohamed Amjahid: Meine Hand ist ausgestreckt, ich bin bereit, mit allen konstruktiv zu streiten. Ich habe ein Interesse, möglichst viele Menschen anzusprechen. Und zwar gerade jene, die nicht meiner Meinung sind und die nicht jeden Tag mit dem Thema in Berührung kommen, auch die FAZ- und Bild-Leser möchte ich erreichen. Jene, die nur noch auf rechten Blogs unterwegs sind, kann man vermutlich kaum noch erreichen, aber ansonsten ist das Potential, miteinander ins Gespräch zu kommen, groß in Deutschland. Diskurs kann ja auch Spaß machen - konstruktiv streiten, sich selbst hinterfragen, sich alle Argumente anhören.

URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3658969

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/unter-weissen/978-3-446-25472-5/