Unter dem selben Himmel

Die beeindruckendsten Bilder, die gesellschaftliche Missstände anklagen, aus chinesischen Chatrooms

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Die chinesischen Chatrooms und Foren sind stark politisiert. Wenn auch in vielen Chatrooms und Foren (wie in der Masse der Gespräche von Angesicht zu Angesicht) doch meist nur triviale oder beiläufige, alltags- und situationsbezogene Inhalte dominieren, sind gerade auch dort immer häufiger brisante Themen anzutreffen.

Seit 2003 kursieren in großen und kleinen chinesischen BBS-Plattformen etliche Fotos, von denen man einige zu den zehn bemerkenswertesten oder erschütterndsten Internet-Bilder im Jahr 2003 kürte. Zu jedem Bild gibt es tausend und abertausend Kommentare, und die Diskussionsteilnehmer fügen manchmal die von ihnen selbst gemachten Bilder hinzu. Die zehn Bilder des Jahres 2004 werden gerade heftig kopiert. Dazu lautet die Anmerkung einer Website: "Die Bilder und Texte sind nicht von uns geschaffen, sie sind aus einer anderen Website kopiert. Aber wir denken, dass das Urheberrecht dieser Werke dem chinesischen Volk gehört."

Die "zehn Bilder" (oder auch mehr), die als die erschütterndsten kursieren, sind nicht immer identisch, aber ihnen ist gemeinsam, dass sie vor allem den Kontrast zwischen Arm und Reich vor Augen führen. Die Kritik an der Regierungspolitik ist offensichtlich, wenn das auch ab und zu nur zwischen den Zeilen spürbar ist. Damit haben nicht wenige "Netizen" eins der größten Probleme im gegenwärtigen China zur Debatte gestellt. Zugleich scheint hier auch ein Aspekt der populären Massenpsychologie auf, die so genannte chou fu xinli oder "feindliche Einstellung gegenüber den Reichen", die durch ihre Beziehungen, Steuerhinterziehungen oder andere illegale Methoden (oft "über Nacht") ihren Reichtum angehäuft haben und einen ausschweifenden Lebensstil pflegen. Die Parteinahme für die "Unteren" und der Ruf nach einem sozialem Gewissen bilden einen roten Faden, der sich durch die Menge der betreffenden Bilder und die dazu abgegebenen Kommentare zieht.

Jeder stellt inzwischen die von ihm favorisierten Top Ten ins Netz; die inzwischen berühmt gewordenen Fotos erscheinen aber überall. Die hier vorgelegten Fotos stammen aus den vergangenen zwei Jahren und gehören zu den bekanntesten. Untertitel und Kommentare zu den Fotos sind alle aus dem Original übersetzt, wobei manche Zitate nur aus stilistischen Gründen gekürzt wurden. Die Auswahl sowie die Bestimmung der Reihenfolge der Bilder hat der Verfasser dieses Textes getroffen.

Nach einem Wärmeeinbruch wurde es wieder kalt - im Norden Chinas

An einem Aprilmorgen schweben Schnellflocken in der Luft. Mit der Steppdecke, die das Gemüse vor Kälte schützt, deckt ein Gemüseverkäufer mittleren Alters hin und wieder seinen kleinen Sohn gut zu, der auf dem Gemüse-Karren sitzt. Der Fotograf sagte: "Vor einem düsteren Hintergrund und bei dem Schneewetter bilden das kleine rötliche Gesicht und das gealterte Gesicht des Vaters einen starken Kontrast. In der Härte der Situation leben Vater und Sohn für einander. Seine rauhen "Gemüse!, Gemüse" Rufe und sein Gesichtsausdruck sind ergreifend."

Vater und Sohn in einer armen Gebirgsregion

Sie wissen nicht, wie die Welt jenseits des Horizonts aussieht. Sie haben nie eine Treppe betreten, sind nie Taxi gefahren, sind niemals ins Kino gegangen. Aber sie sind Menschen, die Generation für Generation uns ernähren, jedoch keine richtige Erwiderung [ihrer nützlichen Praxis] "vom Himmel" [in China oft ein Synonym für den Kaiser, hier: für die Regierung] erfahren haben. Liebt sie! - Mindestens müssen wir sie respektieren. Wie könnten wir sonst noch von Menschlichkeit sprechen?

Minenarbeiter

Wang Zhizhong, 17 Jahre alt, lebt vom Kohlentransport. Jeder Korb: 40 kg. 100 m aus der Kohlengrube gekrochen, schleppt er die Last dann noch 1000 m weiter, um für seine Leistung ein yuan (ca. 10 Cents) zu bekommen. Ob wohl die Muzimei, die im Internet ihre Tagebücher über das Ausleben ihres Sexualtriebs veröffentlichte, noch so viel Fleischeslust verspürte, wenn sie 20 kg Kohlen tragen, 50 m nach oben kriechen und die Last noch 500 m schleppen müsste?

Ich dachte, nichts mehr könnte mich noch bewegen, vielleicht nur noch die Sachen, die mich selbst betreffen, oder auch Familienangehörige. Aber ich lag offensichtlich falsch. Heute hat mir ein Freund ein paar Fotos geschickt: einige waren mir bekannt, die anderen sehe ich heute zum ersten Mal. Auf einmal liegen so viele Fotos vor mir, ja, ich spüre sofort eine visuelle Betroffenheit und eine lange nicht mehr erfahrene, tiefe Erschütterung. Ich empfinde einen Schmerz, und die Augen sind wärmer geworden.

Bergarbeiter von heute

Für die white collars ist die heutige Gesellschaft eine hedonistische. Für sie ist die momentane Genusssucht das letzte Ziel des Lebens, als ob Pietät, Geben und Toleranz nur Dummheiten seien; und Schönheit stiehlt sich aus der Familie fort: Die Hübschen wollen entweder Ausländer heiraten, um einen westlichen Lebensstil zu genießen, oder sie geben sich einem Neureichen hin - als Mätresse. Ich habe nichts dagegen, wenn die Reichen nun behaupten, dass sie mehr Wert auf's "Leben" legen. Ich bin aber eher davon überzeugt, dass das Leben jener Menschen, die etwas zum Wohl der Gesellschaft, der Familie und der Freunde beitragen, mehr Wert hat. Das Leben der Egoisten ist letztendlich wertlos.

Schuhe putzen, oder: Leben unter dem selben Himmel

Das ist ein Foto, das ziemlich bekannt ist im Internet und rege Diskussionen im Cyberspace ausgelöst hat. Ich denke, dass die größte Bedeutung dieses Fotos nicht darin liegt, wie es den starken Kontrast zwischen Armut und Reichtum im heutigen China zeigt. Was uns schwermütig macht, ist: Wie können wir garantieren, dass, wenn die zwei im Foto gezeigten Kinder aufgewachsen sind, die zwei Klassen, denen sie angehören, noch harmonisch zusammen in einer Gesellschaft leben?

Musik im Regen

Unsere Gesellschaft entwickelt sich in einem atemberaubenden Tempo; wir haben aber eine nie da gewesene Leere empfunden. Wir haben auf alte Wertschätzung verzichtet und versuchen, unsere Lebens- und Verhaltensweise zu ändern und ein neues Wertesystem zu kreieren. Doch unser Leben wie das unserer Nachkommen wird immer weniger erinnernswert. Ich will euch damit nur dies sagen: Nur wenn einer selbst das Leiden des Lebens gekannt und das Leiden der anderen verstanden hat, kann er auch die eigene Existenz und den letzten Sinn des Lebens begreifen.

"Ich habe starken Hunger."

Wo ist unser Mitgefühl geblieben? Wo ist die Regierung? Allerdings kann man das Armutsproblem nicht von heute auf morgen lösen. Was die Regierung jetzt tun kann und muss, ist, landesweit konsequent gegen die Korruption kämpfen. Es reicht nicht, wenn man nur einige wenige korrumpierte Kader zur Schau stellt.

Viele von uns tun so, als ob sie woanders lebten; wir machen die Augen zu und denken, dass wir nichts sähen. Vor diesen Fotos aber können wir einen schmerzvollen, inneren Dialog wahrnehmen, so dass die Empfindungslosigkeit langsam sich auflöst. Hast Du wirklich zum ersten Mal diese Seite Chinas gesehen? Glaubst Du wirklich, dass in dieser Gesellschaft jeder gleichberechtigt ist? Auf keinen Fall! Ohne das Böse gäbe es nicht das Gute. Wenn Du meinst, dass Du ein guter Mensch bist, musst Du ja jenen Schlechten danken, die Dich erst zu einem solchen machen.

"Ich wollte nur meinen Lohn für dieses Jahr einfordern."

Jeder versteht das Leiden oder die Armut anders. Armselig sind die Reichen! Was hat das Geld euch gebracht? Nervenschwäche, erhöhten Cholesterinspiegel, fette Körper bis zum geht nicht mehr, Sorgen um das Eigentum, Entfremdung in der Ehe, gefühllose Kinder, leere Seelen, unerhörte Arroganz, mangelndes Ehrgefühl...

Inszenierter Kontrast

Eine Star-Schauspielerin spielt gerade eine kleine Imbissverkäuferin; sie grillt Lammfleisch bei einem Straßenhändler. Ein Neureicher kauft derweil gerade für 17.888 yuan fünf Spieße und gibt sie seinem Kind. (17.888: im Chinesischen ist das ein Homophon für "Ich esse, werde reicher, reicher und reicher." Der Preis für den "Leckerbissen" entspräche übrigens zwei Jahreseinkommen für die meisten Arbeiter.)

Ihr alle, die ihr nur an Bilder der Filmstars gewöhnt seid, kommt nun und weint hier!

Altpapier sammeln, um damit ihr Leben zu fristen, oder: Dadurch ist Mutter alt geworden

Hat eigentlich irgendjemand in der Zeit,

in der wir unsere Jugend und Geld verschwenden,

sentimentale Gedichte schreiben,

so oft das Leben langweilig finden,

im Chatroom darüber debattieren, ob die Freundin

noch eine Jungfrau ist,

an Menschen wie diese alte Frau gedacht?

Unsere Mutter
Reis kochen

Wenn jemand erst heute diese Seite von China kennen gelernt haben sollte, würde ich ihm raten, dass er einmal in die Bibliothek geht, um dort derartige Bilder, wie es sie immer wieder seit dem Anbruch der chinesischen Moderne gibt, zu entdecken. Ihn erwartet ein schrecklicher Anblick! Die ganze Welt weiß, dass China sich gerade in einer rapiden Entwicklungsphase befindet. Eine endgültige Veränderung der Situation der Bauern hängt von der weiteren Entwicklung und der Bauernpolitik ab. Aber was noch wichtiger ist: Können wir selbst auch etwas tun?

Heizung? Unfassbar. An einem sonnigen Tag gibt es noch so viel Trauer

Gestern Vormittag habe ich diese Fotos gesehen, einige davon nicht das erste Mal. Trotzdem empfinde ich nach wie vor dieselbe Erschütterung. In BBS haben wir genügend Gefühlsduselei gelesen, in den Städten sucht man überall nach Vergnügungen. Die Melodramen aus Hongkong sind ein Aperitif für die Liebelei. All diese Bemühungen! - und nur wegen der eigenen Sucht nach Macht und Geld und Sex. Wer hat noch die Zeit, an Menschen wie in diesen Bildern zu denken? Vergesst aber nicht, dass es unter demselben Himmel noch zu viel Leid gibt.

Das arme blinde Ehepaar

Ein blinder Bettler sprach bettelnd Victor Hugo an. "Ich bin auch sehr arm, kann dir leider nichts geben", sagte Hugo und schrieb anschließend auf das vor dem Bettler aufgestellte Pappschild: "Der Frühling kommt bald, aber ich kann ihn nicht sehen." Die davon angerührten Passanten gaben dann, einer nach dem anderen, ihre Münzen in die kleine Büchse des Bettlers. Wie Hugo veröffentlichen wir nun diese Bilder, um das Gewissen der Menschen wachzurütteln.

Die kleine Geigenspielerin: Ob sie ein paar Münzen bekommen kann?

Eigentlich ist das Leben an sich sehr grausam! Wir können manchmal helfen, aber die meiste Zeit beobachten wir nur teilnahmslos. Unter dem gleichen blauen Himmel sehen wir uns nur gleichgültig die Menschen an, die noch mehr leiden als wir. Wer hat diesen Menschen tatsächlich geholfen, wenn auch wir immer wieder bloß zur Hilfe aufrufen? Kann die Barmherzlichkeit in der Tat so schwer zum Ausdruck gebracht werden? Stimmt es, wenn Menzius sagt, dass die Natur des Menschen von Geburt an gut ist? Wie viele unter uns sind gutherzig? Hat die Gesellschaft uns Gerechtigkeit gegeben? Nein! Wir beschweren uns die ganze Zeit, wir sind empört. Aber diese Menschen hier haben uns erschüttert, wir haben nie so einen Schlag bekommen. In welche Richtung sollen wir nun noch denken?

In Papas Armen. "Meine lieben Töchter, womit kann ich euch glücklich machen?"

Was haben sie gesehen, Licht, Hoffnung? Allerdings ist es unmöglich, die Armut aus der Welt zu schaffen. Aber man soll nicht von klein auf schon so eine Lebensweise haben.

In einer Nebenstraße

Nicht, dass er die Straßenszene hässlich macht. Er hat Hunger. Das Foto lässt mich weinen, Du sollst es dir auch ansehen. Jedes Kind ist, wenn es gerade geboren ist, ein Schätzchen. Sie haben aber keine Fähigkeit, auf sich gestellt zu überleben. Und wenn sie betteln, ist das nicht ihre Schuld - es liegt an der eiskalten Gesellschaft. Es ist unsere Schuld! Ihr Eltern, könnt ihr nicht ein wenig von der Liebe, die ihr euren Kindern schenkt, diesem Kleinen geben, der Mutterliebe braucht?

Ich will zur Schule

Die Zunahme des Bruttosozialprodukts in China basiert darauf, dass 800 Millionen Bauern keine Garantie für ein minimales Leben, keine Rente, ja sogar keine Krankenversicherung haben! Der Kreis, in dem ich lebe, ist nicht der ärmste in China; aber jeden Tag kann ich, der ich ein Arzt bin, Kranke sehen, die wegen der hohen Kosten auf einen Arztbesuch verzichten. Jedes Mal beim Frühlingsfest oder in der Zeit, in der das Schulsemester beginnt, oder in der man Steuern zahlen muss, nimmt die Zahl derjenigen rapid zu, die Gift nehmen. Es gibt verschiedene Gründe dafür, im allgemeinen sagen sie mit dieser Handlung aber: "Wir sind zu arm!"

"Mein Schätzchen, weine nicht mehr. Oma geht nun auch arbeiten, damit Du zur Schule gehen kannst."
Die Tränen eines alten Mannes

An dem Tag, als wir endlich zur Schule gehen konnten, waren wir sehr glücklich. Aber Opa weinte.

"I want to go to school"

"Eines Tages kam eine Englischlehrerin in unser Dorf. Der erste Satz, den sie uns beigebracht hat, lautete:'"I want go to school.'" - Der erschütterndste Aufruf! Hast du's gehört? Nur aus Mitleid und Traurigkeit?"

Telefongespräch eines Wanderarbeiters nach Hause

"Hi, meine liebe Frau, mir geht's wunderbar! Kann sehr gut schlafen und mich gut kleiden. Die Großstädte sind wirklich schön..."

Mittagsschläfchen

Die Welt ist so real. Es gibt so viele Sachen, über die man klagen kann. Letztendlich ist niemand ein Heilbringer. Kann jeder so in aller Seelenruhe schlafen, ist die Welt schon gut genug.

Straßenszene

Eine Art Bitterkeit heißt: von seiner Hände Arbeit leben.

Straßenverkäufer

"Ich bin ein Analphabet, habe abgetragene Kleidung an und einen leeren Magen. Die Hände, die gerade Geldscheine zählen, sind voller Schwielen; aber ich schulde niemandem etwas. Jede Nacht, wenn ich nach Hause gehe und von der Straße aus sehe, wie das schwache Licht hinter dem kaputten Fenster leuchtet, weiß ich, dass die Familienangehörigen noch auf mich warten. Ein kleines Geschenk bringt den Kindern schon große Freude, da habe ich ein glückliches Gefühl. Ich kann mich nicht vornehm ausdrücken, aber ich weiß, ich beneide dich wirklich nicht, ich habe Mitleid mit dir."

Obdachloser, im Winter

Es schneit. Ihr alle, aufgeregt, mitleidig, traurig, empört, erschüttert... Jeder sitzt in seinem Zimmer vor dem Computer, kann ins Netz gehen, gerade nach dem Essen... vielleicht richtig versunken in Cyber-Liebe oder begeistert von nackten Frauenkörpern...

Draußen unter dem Fenster hungert vielleicht gerade jemand, und es ist kalt. Er weiß nicht, wie er morgen weiter lebt, wo er was zu essen bekommen kann...

Ich glaube, dass der Mann, der gerade im Schnee liegt, nichts empfinden kann, wenn er die Fotos hier sieht, nichts an Aufgeregtheit, Mitleid, Traurigkeit, Empörung, Erschütterung...

Bauernjunge

Wenn man jung ist, spricht man nicht von Kummer. Mindestens kannst du noch deine Mutter ernähren. Schämen müssen sich die "rich kids".