Urteil gegen Marine Le Pen: EU-Millionenbetrug fällt ihr auf die Füße

Bernard Schmid
Screenshot: Marine Le Pen bei den Abendnachrichten des Senders TF1

Screenshot: Marine Le Pen bei den Abendnachrichten des Senders TF1

Frankreich: Umfrage-Favoritin für Präsidentschaftswahlen verliert passives Wahlrecht. Wie das Urteil begründet ist und warum die Rede von der "Hinrichtung der Demokratie" falsch ist.

Die große Aufregung über das Urteil gegen Marine Le Pen hat eine sehr interessante Vorgeschichte. Auch hier zeigt sich, dass Moral in der Politik oft hinter Interessen zurücktritt.

Gestern, am 31. März, machte in Frankreich ein Video in den sozialen Netzwerken die Runde. Es zeigt eine gut zehn Jahre jüngere Marine Le Pen, die eifrig gegen politische Mandatsträger wettert.

Le Pens Forderung

Häufig unter dem ironischen Titel "Sie redet gut, die Dame" verbreitet, zeigt die kurze Videosequenz von knapp zwanzig Sekunden – basierend auf einer Radiosendung vom 05. April 2013 – die Tochter des im Januar dieses Jahres verstorbenen Jean-Marie Le Pen, wie sie gegen Mandatsträger wettert.

Einen "lebenslangen Ausschluss von Wahlen" forderte damals die Politikerin, seinerzeit Parteivorsitzende des neofaschistischen Front National (FN), heute Fraktionsvorsitzende des seit 2018 umbenannten Rassemblement National (RN, "Nationale Sammlung") in der Nationalversammlung – und zwar für Politiker, die "dank ihres Mandats oder bei Gelegenheit der Ausübung ihres Mandats" Verfehlungen begangen hätten.

Die Cahuzac-Affäre

Anlass war damals die sogenannte Cahuzac-Affäre. Der Rechtssozialdemokrat Jérôme Cahuzac war unter dem damaligen Staatspräsidenten François Hollande zum Haushaltsminister (ministre du budget) ernannt worden, einem Amt, das dem übergeordneten Wirtschafts- und Finanzminister unterstellt ist und dessen Inhaber oder Inhaberin unter anderem für die Steuerpolitik und die Vorbereitung der Haushaltsgesetze zuständig ist.

Damit war ein kapitaler Bock zum Gärtner gemacht worden, denn Cahuzac hatte Millionen Euro an Steuern vorbei illegal in die Schweiz geschafft – mindestens 3,5 Millionen Euro, Schweizer Medien sprachen von bis zu 15 Millionen.

Am Ende wurde Cahuzac dafür 2018 zu zwei Jahren Haft, einer vergleichsweise geringen Geldstrafe (300.000 Euro) und fünf Jahren Entzug des passiven Wahlrechts verurteilt.

Das Urteil gegen Le Pen

Marine Le Pen ihrerseits kann von Glück sagen, dass ihr eigener Vorschlag von vor zwölf Jahren – für einen Entzug des passiven Wahlrechts auf Lebenszeit – vom Gesetzgeber nicht befolgt worden war, da sie nun selbst für die Dauer von fünf Jahren die Wählbarkeit verlor, infolge eines gestern verhängten Urteils mit sofortiger Wirkung.

Die anderen Passagen des Urteils, etwa die Verurteilung der 56-Jährigen zu vier Jahren Haft, davon zwei auf und zwei ohne Bewährung – d.h. mit elektronischer Fußfessel –, sind hingegen noch nicht rechtskräftig, sondern finden aufgrund der angekündigten Berufung keine Anwendung.

Der Ausschluss von den Wahlen: ein beinahe zwangsläufiger Mechanismus

Der Gesetzgeber hatte zwar infolge des Cahuzac-Skandals eingegriffen und ein Gesetz zur Strafbarkeit von Mandatsträgern sowie zur Bekämpfung von Finanzdelikten, Geldwäsche und Korruption verabschiedet, das "Loi Sapin II" vom Dezember 2016, benannt nach dem damaligen Finanzminister Michel Sapin.

Dieses sieht keine lebenslängliche Wirkung von Verurteilungen im Zusammenhang mit seiner Materie vor, wohl aber einen quasi-obligatorischen Mechanismus: Wird eine Politikerin oder ein Politiker, die oder der ein öffentliches Amt im Wählerauftrag ausübt, wegen Unterschlagung öffentlicher Gelder verurteilt, dann muss das Gericht, als Zusatzsanktion zur Haft- oder Geldstrafe, zwingend einen Ausschluss von der Kandidatur bei Wahlen ins Auge fassen.

Zwar können die Richterinnen und Richter von der Regel abweichen und diese Zusatzstrafe nicht verhängen, müssen dies aber dann gesondert begründet.

Bis dahin war es umgekehrt so, dass eine solche Zusatzstrafe verhängt werden konnte, dann aber ihrerseits eines eigens begründeten Beschlusses bedurfte. Der Begründungszwang wurde also umgekehrt.

Nun wurden Marine Le Pen – und mit ihr zusammen 23 weitere Angeklagten sowie ihre rechtsextreme Partei als juristische Person – am gestrigen 31. März am Gerichtssitz Paris verurteilt. Und zwar wegen Unterschlagung von Mitteln des Europäischen Parlaments. Die Höhe wurde vom Gericht auf 4,1 Millionen Euro geschätzt.

Kurz vor dem Urteil sah eine Umfrage Le Pen, erschienen in der Sonntagszeitung, Le Journal du Dimanche, "vor den Toren der Macht": "Mit 37 Prozent der Stimmen in der günstigsten Prognose liegt die RN-Kandidatin 10 Punkte über ihrem Ergebnis aus der ersten Runde von 2022."

Der Betrugsvorwurf: Worum es konkret geht

Konkret ging es darum, dass das Europaparlament die Anstellung von parlamentarischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unter Bedingungen stellt. Dazu gehört, dass deren Tätigkeit im Zusammenhang mit der Arbeit "ihrer" Abgeordneten in Brüssel oder Straßburg steht und nicht nur mit deren allgemeinpolitischer Rolle.

Bei den im Europaparlament "akkreditierten" Mitarbeitern – zu denen noch weitere im Wahlkreis hinzukommen können – gilt die Regel, dass diese in einer Entfernung von höchstens sechzig Kilometern von Brüssel wohnen müssen.

Diese Regeln wurden beim früheren FN, dem heutigen RN, im für die Strafverfolgung untersuchten Zeitraum, von 2004 bis 2016, grob missachtet.

Mehrere der parlamentarischen Fraktionsmitarbeiter des RN im EP wussten laut Vernehmungsprotokollen nicht einmal, wo sich das Büro "ihres" oder "ihrer" Abgeordneten in Brüssel befand, oder waren seit Aufnahme ihres Jobs noch nie in die belgische und EU-Hauptstadt gereist.

Vielmehr arbeiteten sie mehr oder minder ausschließlich am Parteisitz des Front National, der damals in Nanterre bei Paris lag – der jetzige RN vollzog mittlerweile einen Umzug ins vornehme 16. Pariser Arrondissement –, wo praktischerweise eine genaue Erfassung ihrer Arbeitszeit mittels einer elektronischen Stechuhr stattfand.

Die Ermittler brauchten sich also bei einer Durchsuchung nur in den dazugehörigen Unterlagen bedienen. Ein ausgedehnter E-Mail-Wechsel zwischen Funktionsträgern der Partei wurde ebenfalls ausgewertet.

Das Gericht kam deswegen zu dem Schluss, Marine Le Pen habe "im Zentrum eines Systems" gestanden, das dazu diente, Geldmittel der EU-Institutionen zweckentfremdet einzusetzen.

Massive finanzielle Probleme

Die französische rechtsextreme Partei hatte damals massive finanzielle Probleme, insbesondere aufgrund ihres relativ schwachen Abschneidens bei den Wahlen in Frankreich 2007 (damals war es dem Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy kurzzeitig gelungen, ihr einen Teil ihrer Wählerschaft auszuspannen, der Effekt hielt jedoch maximal drei Jahre vor).

Die staatliche Parteienfinanzierung in Frankreich richtet sich nach den Ergebnissen bei Parlamentswahlen. Erst der im Nachhinein skandalumwitterte, vom Putin-Regime vermittelte Millionenkredit bei einer russischen Bank von 2014 und später das hohe Abschneiden der Partei bei den Wahlen von 2022 und 2024 behoben dieses Problem. Nun muss der RN allerdings eine saftige Geldstrafe berappen.

Infolge des gestrigen Urteils, das auf nachvollziehbaren richterlichen Erwägungen und konkreten materiellen Rechtsverstößen beruht, läuft nun die rechte Medienmaschinerie im Internet und anderswo heiß.

"Hinrichtung der Demokratie"?

Von einer "Hinrichtung der Demokratie" sprach der junge RN-Parteivorsitzende Jordan Bardella, weil Marine Le Pen infolge des Urteils nun voraussichtlich nicht zur Präsidentschaftswahl 2027 antreten kann, es sei denn, das Berufungsgericht wurde sein eigenes Urteil bis spätestens in 24 Monaten fällen, was in einer komplexen Rechtssache wie dieser (das Urteil umfasst allein 152 Seiten) keineswegs gesichert ist.

Dabei kommt die Unwählbarkeit Le Pens dem 29-jährigen Bardella zugute, da er nun der wahrscheinliche Kandidat des RN ist, was er jedoch nicht aussprechen kann, weil die Partei sonst implodieren und der noch immer mächtige Familienclan Le Pen über ihn herfallen würde.

Dass der erwiesene "Rechtsstaatsfreund" Donald Trump, der Kreml in Moskau und Viktor Orban in Ungarn sich nun – laut ihren jeweiligen Erklärungen – angeblich beunruhigte Gedanken über den Zustand der französischen Demokratie machen, gehört zum Spiel.

Auch wenn es kein Aprilscherz ist, lädt es zum Schmunzeln ein.