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Urteile in beschleunigten Verfahren: Mehr Tempo um jeden Preis?

Von Beate Klarsfeld bis "Letzte Generation": Manchmal geht es vor Gericht schnell. Doch warum dieser Turbo-Fälle? Und warum beschleunigte Verfahren rechtsstaatlich fragwürdig sind.

Die Mühlen der Justiz mahlen langsam – so zumindest die allgemeine Auffassung. Und in der Regel stimmt das auch: Prozesse ziehen sich in die Länge, und gerade in aufsehenerregenden Fällen lassen handfeste Entscheidungen oft lange auf sich warten. Derart lange, dass bis dahin längst jüngere Ereignisse die unstete öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.

Ermittlungen, Anklage, Verhandlung, Rechtsmittelverfahren – all dies nimmt oft Jahre in Anspruch. Anders in den sogenannten "beschleunigten Verfahren". Ein Urteil ergeht hier schon innerhalb weniger Wochen, zum Teil sogar Tage.

Das Land Berlin führt hierzu aus [1]:

In diesem Verfahren folgt die Strafe auf dem Fuß; es dient der Verfahrenseffizienz und der Vermeidung von Untersuchungshaft. In der Regel handelt es sich um Laden- oder Taschendiebstähle, aber auch um Wohnungseinbrüche und Urkundenfälschungen und betrifft Personen, die sich nur vorübergehend in Berlin aufhalten und die deshalb für die Strafverfolgungsbehörden nicht ohne weiteres greifbar sind.

Solche Verfahren "im Schnelldurchlauf" sind keine neue Erfindung. Schon Beate Klarsfeld wurde nach ihrer "Kiesinger-Ohrfeige" im beschleunigten Verfahren [2]verurteilt. Später fiel die Wahl auch im Verfahren um Protestierende gegen die Castor-Transporte auf das beschleunigte Verfahren. Aus den 1990er-Jahren sind gar mehrere Fälle bekannt [3], in denen Beschuldigte im beschleunigten Verfahren nur wenige Tage nach der Tat zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt wurden.

Nun genießt das beschleunigte Verfahren, so scheint es, neue Beliebtheit. Angesichts der zahlreichen Vorwürfe, die gegen die Mitglieder der Aktivistengruppe Letzte Generation erhoben werden, stehen die Gerichte vor neuen Herausforderungen. Die schiere Zahl der Verfahren ist erdrückend. Da scheint das beschleunigte Verfahren eine willkommene Möglichkeit zu sein, einmal ordentlich aufs Gas zu drücken.

So hat die Berliner Staatsanwaltschaft kürzlich entschieden [4], Klimaaktivisten der Letzten Generation künftig bevorzugt im beschleunigten Verfahren zu verurteilen. Zu diesem Zweck sollen sich bis zu fünf Abteilungen des Berliner Amtsgerichts Tiergarten gezielt Verfahren dieser Art annehmen, wie aus dem frisch angepassten Geschäftsverteilungsplan des Gerichts hervorgeht.

Täglich müssen nun die entsprechenden Akten von der Polizei an die Staatsanwaltschaft übermittelt werden, damit über die Verurteilung im beschleunigten Verfahren je nach Einzelfall entschieden werden kann.

Praktisch, könnte man meinen. Man kann in der Anwendung beschleunigter Verfahren an sich und ihrem gezielten Einsatz bei der Verurteilung von Aktivisten jedoch auch ein Problem sehen. Denn wenn man das Verfahren und die Effekte seiner Beschleunigung einmal genauer in den Blick nimmt, wird deutlich, dass sein Einsatz nur in den wenigsten Fällen – wenn überhaupt – legitim sein kann.

Gesetzliche Grundlagen – Wie läuft das beschleunigte Verfahren ab?

Das beschleunigte Verfahren ist in den §§ 417 ff. der Strafprozessordnung (StPO) geregelt. Gemäß § 417 StPO kann die Staatsanwaltschaft dann beantragen, eine Verurteilung im beschleunigten Verfahren herbeizuführen, wenn "die Sache auf Grund des einfachen Sachverhalts oder der klaren Beweislage zur sofortigen Verhandlung geeignet ist."

Stellt die Staatsanwaltschaft einen solchen Antrag, so wird die Hauptverhandlung sofort oder nach kurzer Frist durchgeführt, ohne dass es einer Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens bedarf. Zwischen dem Eingang des Antrags bei Gericht und dem Beginn der Hauptverhandlung sollen insgesamt nicht mehr als sechs Wochen liegen, so § 418 Abs. 1 StPO. Die Erhebung der Anklage erfolgt dann erst bei Eröffnung der Hauptverhandlung (§ 418 Abs. 3 StPO).

Das bedeutet, dass für ein Ermittlungsverfahren, das in der Regel die Grundlage für eine Anklageerhebung schafft, nur wenig bis keine Zeit bleibt. Zwischen der Ladung des Beschuldigten und der Verhandlung müssen nicht, wie sonst, sieben Tage liegen, sondern nur 24 Stunden. Sich in dieser kurzen Zeitspanne innerlich auf einen Prozess einzustellen, dürfte schwerfallen. Wenn der Beschuldigte inhaftiert war, muss er überhaupt nicht gerichtlich geladen werden.

Normalerweise setzt der Eröffnungsbeschluss außerdem eine ausformulierte Anklage, gerichtliches Gehör und die Annahme hinreichenden Tatverdachts durch das Gericht voraus – im beschleunigten Verfahren kann der Richter über diesen auch nach Aktenlage und ohne unabhängige Prüfung durch das Gericht entscheiden.

Eine höhere Freiheitsstrafe als Freiheitsstrafe von einem Jahr oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf im beschleunigten Verfahren nicht verhängt werden. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist aber zulässig (§ 419 Abs. 1 StPO). Unabhängig davon, zu welchem Strafmaß der Angeklagte letztlich verurteilt wird, hat er in einem ordentlichen Verfahren immer das Recht, eine Verurteilung noch abzuwenden, indem er Anwälte mit seiner Verteidigung beauftragt.

Niemand muss schlicht hinnehmen, angeklagt und verurteilt zu werden, sondern kann sich gegen die Vorwürfe zur Wehr setzen, sich wahlweise auch selbst verteidigen. Nicht nur in Art. 6 Abs. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (MRK) ist dieses elementare Recht verankert, es findet sich aber auch in § 137 StPO wieder.

Im beschleunigten Verfahren hingegen wird dieses Recht des Beschuldigten ausgehöhlt. Erst ab einer drohenden Freiheitsstrafe von sechs Monaten stellt das Gericht dem Angeklagten einen Verteidiger an die Seite, § 418 Abs. 4 StPO. In den anderen Fällen steht ihm niemand bei. Es gibt keine Vorschrift, die regelt, dass der Beschuldigte zwischen Anklage und Vernehmung Zeit haben muss, seine Verteidigung zu organisieren.

Daher muss so eine Vorschrift auch niemand befolgen. In der Praxis kommt es also durchaus vor, dass der Beschuldigte eine halbe Stunde nach Verlesung der Anklage bereits verurteilt wird und so überhaupt keine Zeit hat, sich um eine angemessene Verteidigung zu bemühen.

Die Wahl des Verteidigers will aber wohl überlegt sein. Handelt es sich bei dem Menschen, der die Tat begangen haben soll, nicht gerade um einen Juristen oder jemanden, der über entsprechende Kontakte in seinem sozialen Umfeld verfügt, dürfte die Suche in dieser kurzen Zeit noch schwieriger werden. Wer befasst sich schon aus Lust und Laune regelmäßig mit strafrechtlichen Verteidigungsstrategien und damit, wie ein Strafprozess abläuft?

Selbst wenn ein Pflichtverteidiger eingesetzt wird, führt die Zeitknappheit oft dazu, dass Verteidiger eingesetzt werden, die nicht für, sondern entgegen den Interessen des Beschuldigten entscheiden. Denn eine erfolgreiche Verteidigung basierte darauf, eine Verurteilung im beschleunigten Verfahren zu verhindern.

Viele Pflichtverteidiger lassen sich jedoch unter der Voraussetzung beordern, dem beschleunigten Verfahren nichts entgegenzuhalten [5], womit einer erfolgreichen Verteidigung von vorneherein der Boden entzogen ist.

Die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten darf im beschleunigten Verfahren durch Verlesung von Protokollen über eine frühere Vernehmung sowie von Urkunden, die eine von ihnen erstellte Äußerung enthalten, ersetzt werden (§ 420 Abs. 1 StPO).

Das heißt, dass bei der Verhandlung keine Zeugen vorgeladen werden müssen – ein Widerspruch zu dem in den §§ 250 ff. StPO verankerten Unmittelbarkeitsgrundsatz des Strafverfahrens. Dieser Grundsatz besagt, dass das Gericht immer das tatnächste Beweismittel in einem Strafverfahren heranziehen, sich also ein möglichst unverfälschtes Bild von einem Beweis machen muss.

Nicht so im beschleunigten Verfahren. Auch das kann sich nachteilhaft für den Angeklagten auswirken, weil dem Richter etwa der persönliche Eindruck von einem Zeugen entgeht. Der Beschuldigte hat zudem kein Beweisantragsrecht – das ist insofern problematisch, als gerade in Fällen, in denen die "Sache schon klar zu sein scheint", also eigentlich bereits alle Beweise vorliegen, die notwendig sind (das ist der Ausgangspunkt für das beschleunigte Verfahren) das Beweisantragsrecht besonders wichtig wäre. Denn gerade hier ist die Versuchung sonst groß, auf Basis eines Vorurteils zu urteilen.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass im beschleunigten Verfahren erhebliche Abstriche bei den Verfahrensrechten des Beschuldigten gemacht werden. Es bleibt die Frage, mit welcher Rechtfertigung es nun dennoch systematisch auf bestimmte Beschuldigte angewendet werden soll.

Einordnung – was ist das Problem am beschleunigten Verfahren?

Zunächst einmal dürfte die Verurteilung eines Angeklagten zu einem Jahr Freiheitsstrafe, ohne ihm ausreichend Gelegenheit zur Organisation seiner Verteidigung zu geben, wie bereits angemerkt, gegen Art. 6 Abs. 3 MRK verstoßen. Sogar das Zurechtlegen einer eigenen Verteidigungsstrategie kann in so kurzer Zeit kaum gelingen.

Nicht selten stehen die Beschuldigten so kurz nach der Tat ohnehin noch unter Schock und können das Geschehene noch nicht richtig reflektieren. Unüberlegte Reaktionen des Beschuldigten, die Folge dieser unbefriedigenden Ausgangslage sein können, sind jedoch zum Teil sogar erwünscht.

Denn fehlt dem Angeklagten der Überblick über die Situation und konnte er sich noch nicht mit den ihm entgegengebrachten Vorwürfen auseinandersetzen, ist es leichter, ihn zu verunsichern und zu überwältigen. Er macht Fehler, und das beschleunigt seine Verurteilung.

Das steht dem in der MRK verankerten Recht, sich besonnen und ruhig auf ein Verfahren vorbereiten und dafür in angemessenem Umfang Hilfe in Anspruch nehmen zu können, ganz klar entgegen. Damit der Beschuldigte ausreichend Zeit hat, seine Verteidigung vorzubereiten, wie es Art. 6 MRK gebietet, soll ein kurzes Verfahren vielmehr vermieden werden [6].

Gerade bei Straftaten, die die Gemüter insgesamt erhitzen, die viele Menschen bewegen, bedarf es einer ausgeglichenen und rationalen Prozesssituation mit einer ruhigen Ausgangslage. Das übereilte Verurteilen des Angeklagten kann sogar zu einem "Mehr" an Strafe führen, als sie bei einem gestreckten Prozess verhängt worden wäre, was wiederum nicht im Interesse des Rechtsstaats liegen dürfte.

Das beschleunigte Verfahren klingt also nach hastigen, übereilten Entscheidungen, bei denen die Sorgfalt auf der Strecke bleibt? Nun, so muss es nicht sein. Die kurze Zeitspanne, die den mit dem Prozess befassten Verteidigern und Staatsanwälten noch bleibt, veranlasst aber durchaus dazu, an der einen oder anderen Stelle weniger genau hinzusehen. Noch dazu, wenn man in dem Fall von vorneherein eine "klare Beweislage" oder einen "einfachen Sachverhalt" erkannt haben will.

Zweifel an Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens

Die Entscheidung für das beschleunigte Verfahren muss damit letztlich immer Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens mit sich bringen. Bereits die Tatsache, dass es als der Beschleunigung dienlich wahrgenommen wird, wenn der Kläger von einem Urteil überrollt werden kann, muss nachdenklich machen.

Das beschleunigte Verfahren zudem strukturell auf bestimmte Straftätergruppen anzuwenden, ist eine problematische Entwicklung. Es ist ein Versuch, einer aktivistischen Bewegung, die regelmäßig die Grenzen des Rechts überschreitet, mit "starker Hand" zu begegnen. Dabei wird suggeriert, die Taten der Mitglieder seien sich stets ähnlich, man könne sie "über einen Kamm scheren". Stein des Anstoßes sind hier zwei Punkte.

Zum einen ist Hintergrund der geplanten Anwendung beschleunigter Verfahren auf die Letzte Generation nicht unbedingt die Ähnlichkeit ihrer Taten, sondern mangelnde Ressourcen der Justiz. Das beschleunigte Verfahren kostet weniger Personal und Zeit.

Es wäre aber dem Rechtsstaat und seinen Grundsätzen (und letztlich allen Angeklagten) dienlicher, Wege zu finden, den regulären Strafprozess zu beschleunigen, anstatt elementare Verfahrensrechte der Beschuldigten wegzurationalisieren.

Außerdem geht man mit dieser Strategie, den Aktionen der Letzten Generation zu begegnen, erneut einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit ihren (symbolträchtigen, wenn auch rechtswidrigen) Taten aus dem Weg. Eine Bewegung, die sich für den grundrechtlich verankerten Klimaschutz (nach Artikel 20a GG) [7] einsetzt, wird auf einen Zusammenschluss krimineller Störenfriede reduziert.

Die Herausforderung, sich mit einer wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung angesichts einer unzureichenden Klimapolitik auseinanderzusetzen, wird wieder gemieden. Natürlich ist diese Konfrontation nicht in erster Linie Aufgabe der Justiz, sondern der gewählten politischen Vertreter.

Dennoch ist diese prozessuale Umstrukturierung ein politisch toleriertes Signal, das in der Debatte, wie das unausweichliche Mehr an Klimaschutz durchsetzbar sein kann, keinesfalls hilfreich ist.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9224902

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.berlin.de/amtsanwaltschaft/aufgaben/besonders-beschleunigte-verfahren/
[2] https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/geschichte/den-kanzler-ins-gesicht-geschlagen-zwischenfall-wahrend-des-cdu-parteitages-taterin-im-schnellverfahren-zu-einem-jahr-gefangnis-verurteilt-6310423.html
[3] https://www.rewi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sr/krimirecht/Lehrstuhlteam/00-Uwe-Scheffler/Publikationen/Aufsaetze/41_Das-_Beschleunigte-Verfahren-in-Brandenburg.pdf
[4] https://taz.de/Berliner-Justiz-gegen-Letzte-Generation/!5937673/
[5] https://www.gubitz-partner.de/beschleunigte-verfahren-bericht-des-ndr-faktencheck/
[6] https://www.department-ambos.uni-goettingen.de/data/documents/Veroeffentlichungen/epapers/Radtke-Hohmann-Art-5-ff-EMRK.pdf
[7] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.html