Utopien aufsammeln und dafür Theoriefähigkeit und Phantasie entwickeln
Seite 4: Marx neu und anders lesen und ihn praktisch aufsprengen
- Utopien aufsammeln und dafür Theoriefähigkeit und Phantasie entwickeln
- Betonrealität und Ohnmachtsgefühle im Politikzusammenhang
- Die Öffentlichkeit (ver)schwindet, aber die Geschichte läuft zwangsläufig immer anders ...
- Marx neu und anders lesen und ihn praktisch aufsprengen
- Bilderlosigkeit und Urteilsvermögen: Optionen für die Zukunft?
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Sie haben vorhin Marx erwähnt, ein Stichwort, das ich jetzt gerne aufgreifen möchte. Denn gleich nach seiner Demontage durch die Massen haben Sie in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau dem Sozialismus einen Ort in der "Schädelstätte des absoluten Geistes" reserviert. Anders als die "Verabschiedungslogiker" haben Sie in den von ihm hinterlassenen Ruinen und Trümmern unausgefüllte, unausgetragene und unabgegoltene Programme entdeckt, die weiter auf ihre Lösung und Realisierung warten.
Lässt sich aber ausgerechnet am Leitfaden der negativen Glücksversprechen von Autoren wie Benjamin, Bloch und Horkheimer/Adorno die Idee einer besseren Welt weiter rechtfertigen? Gerade diese Schriften reagieren doch bereits explizit katastrophisch auf das Ausbleiben der sozialistischen Hoffnungen. Mir will nicht einleuchten, was ein nochmaliges oder erneutes Durch- und Überarbeiten der Klassiker an neuen Einsichten und offenen Fragen uns bringen könnte?
Oskar Negt: Gemessen an der Komplexität des Objektüberhangs, von dem wir vorhin gesprochen haben, sind bestimmte Lebensfragen doch recht elementarer Natur. Menschen stellen sich selber einfache Fragen, wenn existentielle Situationen hergestellt werden. Sie fragen: Wie kann ich würdig überleben? Wie sieht eine sinnvolle Arbeit aus? Wofür lohnt es sich, sein Leben zu opfern? Was ist Pflicht, was ist Recht? Alle diese Fragen sind Grundthema der Philosophie, seit es sie gibt.
Schon bei den Vorsokratikern treten sie auf und sind dort verknüpft mit dem Problem: Welches Gemeinwesen führt zum Glück oder Unglück? Welche Verfassung ist stabil und welche nicht? In der großen Theorie und Philosophie - dazu rechne ich Benjamin, Bloch, Adorno, Habermas - werden in verschiedenen Verkleidungen, die wiederum durch bestimmte Theoriestränge und neue Erfahrungen bestimmt werden, diese zentralen existentiellen Probleme wiederaufgenommen und unterschiedlich diskutiert. Bei Adorno zum Beispiel in der Frage: Was ist Autonomie? Was bedeutet Mündigkeit und Entmündigung? Wie lässt sich dem Individuum, das innerlich so zerstört ist, die Treue halten?
Er formuliert das nicht positiv. Indem er das Einengende, Zerstörende, Fragmentierende öffentlich macht, beschreibt er für jeden erkennbar: Das Leben lebt nicht. In diesem Sinn bieten diese Theorien - und ich beziehe mich auf einen bestimmten Theoriezusammenhang: Aristoteles, Kant, Marx, Freud, Adorno/Horkheimer - sehr verschiedene Lösungsvorschläge für eine Reihe menschlicher Probleme an. Diese sind nicht veraltert. Sie sind nicht gelöst. Sie harren noch der Lösung und müssen weiter bearbeitet werden. Möglich wird ihre Lösung für mich, wenn sie im Zusammenhang begriffen werden, wenn im geschichtlich- gesellschaftlichen Zusammenhängen ein Begriff von ihnen gewonnen wird, der die ganze Trostlosigkeit, aber auch die Hoffnung auf Besserung beinhaltet.
Solche Probleme durch mein eigenes Tun zu lösen, das motiviert mich, an diesen Traditionen festzuhalten. Wenn die akademische Tradition heute sich darüber hinwegsetzt und solche Probleme für überholt erklärt, werden sie nicht automatisch entwertet. Es bleibt "das Unabgegoltene" (E. Bloch). Für mich ist das Unabgegoltene ein Geltungsanspruch an die Gegenwart. Ich sehe keinen Sinn darin, immer die Gegenwart als den fortgeschrittensten Zustand des Bewusstseins und des Denkens zu betrachten.
Viele Probleme, die Kant in der "Kritik der reinen Vernunft", wie auch in der praktischen Philosophie und der Ästhetik aufgeworfen hat, stellen für mich nach wie vor theoretische Herausforderungen für ein Begreifen dieser Welt dar und, vor allen Dingen, auch für ein praktisches Handeln. Ohne Kategorien und Probleme für zeitlos zu definieren, halte ich sie für nicht überholt. Sie haben ihren zeitlichen Erfahrungskern, wie Benjamin sagt. Wir müssen aber auch fragen: Sind wir in der Gegenwart dem gewachsen, was die Alten bereits begriffen haben bzw. was sie wollten? Wo sind die Maßstäbe? Ich beziehe sie aus der kritischen Tradition der Philosophie. Ihr fühle ich mich zugehörig.
Wird mit der Parteinahme für "das Unabgegoltene" die Geschichte und die evtl. sieschreibende Freiheit nicht auf den St. Nimmerleinstag verschoben? Übereignen Sie mit Ihrem Plädoyer für eine "Aufarbeitung der Ausgrenzungsgeschichte des Marxismus", Ihrem Eintreten für eine "Wiederbelebung des utopischen Gehalts, des Anarchismus und des Individuums" nicht den posthistorisch gewordenen Marx dem postmodernen Gestus der Revisionen? Muss eine solche Trauerarbeit nicht misslingen, weil sie für sich die Utopie in Anspruch nimmt, in der wiederholten Überprüfung und Durcharbeitung des Erreichten, die Geschichte neu schreiben, umschreiben und wiedergutmachen zu können, so dass am Ende ein in der Sprache der Öko-Ökonomie, recycelter, geläuterter und damit unsterblich gewordener Marx steht?
Oskar Negt: Dazu kann ich nur sagen: Alles was ich bisher gemacht und gedacht habe, widerstrebt diesem Gedanken. Für mich ist die Hauptaufgabe nicht eine Revision oder ein Zurechtrücken vergangener Theorien. Die Gegenwart ist der eigentliche Gegenstand meiner Tätigkeit, die eine politische ist. Um mich orientieren zu können, bediene ich mich allerdings eines bestimmten Theoriebestands, der eng mit meiner eigenen Bildungs-und Erziehungsgeschichte verknüpft ist und den ich nicht einfach abstreifen kann. Deshalb finde ich, weil Sie das erwähnen, die Reflexionen von Lyotard über Kant witzig, auch geistreich, aber sie verfehlen Kant.
Es gibt einen Richter bei Kant. Die Zentralbegriffe bei Kant sind Würde, Autonomie, Selbstgesetzgebung, natürlich Verbindlichkeit. Selbst in der reflektierenden Urteilskraft, die, im Unterschied zur bestimmenden Urteilskraft, in der Allgemeines und Besonderes nicht zwangsläufig zusammengehören, einen kommunikativen Zusammenhang der Vereinbarungen herstellt, gibt es Verbindlichkeit, die jedem Vernunftwesen zuzumuten ist. Ich lese Kant sehr viel, immer wieder und wörtlich.
Ich versuche zu verstehen, was gemeint ist und versuche nicht, ihn auszulegen. Wenn Kant von Gerichtshof spricht in der "Kritik der reinen Vernunft", dann meint er, dass ein Urteil möglich ist, das für Dritte bindend ist und nicht Urteile offen bleiben.
Ich lese auch Marx nicht in der üblichen Systematik, also vom schwersten Brocken, der Wertformanalyse ausgehend. Dort wollte er die große Tradition der Kritiken von Kant und der dialektischen Logik Hegels fortsetzen. Er hat sich an der Wertformanalyse buchstäblich zu Tode gearbeitet. Ich halte sie aber nicht für das geglückteste Stück. Im ersten Band des Kapitals gibt es, was den Begriff der Zeit angeht, eine geniale theoretisch-empirische Analyse des Arbeitstages.
In diesem Sinn benütze ich den Begriff des Aufsprengens des Marxschen Werkes. Brecht ist für mich ein guter Wegweiser im Umgang mit Klassikertexten. Von der Einschüchterung durch Klassizität hat er gesprochen und dabei die Frage gestellt, ob am Ende der Lernende nicht doch wichtiger sei als die Lehre. Es hat nichts mit einer Dekonstruktion von Texten zu tun, wie das in der französischen Philosophie der beginnenden Postmoderne gemeint war. Die praktische Dimension der Philosophie wieder sichtbar zu machen und zurückzugewinnen ist eher mein Programm.
Maßvollere Formen und Gefäße für die Zukunft erfinden
Einige Intellektuelle sehen Zukunft nur noch als "negativen Horizont". Sie sprechen vom "Wachsen der Wüste" (F. Nietzsche), von einer "Wüste der Ungewissheit" (P. Virilio), ja sogar von einem "Bösen der Zukunft" (H. Müller). Auch in Ihrem intellektuellen Begriffsinstrumentarium beherrscht eine lange Kette von Verlustrechnungen das textuelle Feld. Sie sprechen von Wirklichkeits-, Erfahrungs-, Substanz-, Steuerungs- und Politikverlust, vom "Arsenal gebrochener Anfänge", von "unerledigten und verdrängten Lebensproblemen", die im Gleichschritt mit den wachsenden "Schrott- und Abfallbergen des industriellen Fortschritts" zunähmen. Trotz alledem zitieren Sie den Hölderlin Satz: "So viel Anfang war nie!"
Verbirgt sich dahinter bloßer Zweckoptimismus oder der fortwirkende Utopiegehalt, den Sie als einer der wenigen Intellektuellen gegenwärtig nicht preisgeben wollen?
Oskar Negt: Ich halte am Utopiegehalt in der Realität fest. Mir hat die Kenntnis der geschichtlichen Welt die Überzeugung vermittelt: Wer entweder in positiver oder negativer Weise an die Stabilität der Welt glaubt, hat sich in der Regel geirrt. Darum gehe ich von der Veränderbarkeit der Welt, von der Möglichkeit des prinzipiell Besseren aus. Ginge ich nur vom Schlechteren aus, müsste ich eine eschatologische oder sonstige Konstruktion der Geschichte vornehmen. Ich verhalte mich als Materialist zur Geschichte. Die Geschichte kann nicht auf die Logik von Ideen, Entwicklungsgesetzen oder Apokalypsen reduziert werden. Zwar können Ideen, materielle Verhältnisse und Verdinglichungen aufeinander stoßen und großes Unglück wie Kriege, Massenmord etc. bewirken, aber ich sehe darin keine Logik nach unten.
Auch nicht wie Adorno?
Oskar Negt: Nein! Die "Negative Dialektik" Adornos versucht sich noch einmal am ganzen Verdinglichungszusammenhang, am "Gehäuse der Hörigkeit" im M. Weberschen Sinn. Dort bricht noch nichts zusammen. Die verwaltete Welt ist eine stabile, stillstehende Welt. Sie ist ein Posthistoire, ein monolithisches Gebilde wie "der eindimensionale Mensch". Schon fünf Jahre später ist Adornos Entwurf nicht mehr zu halten. In der Erfahrung der Protestbewegung, deren Anfänge er nur mehr miterlebt hat, zerbröseln und zerbrechen diese Strukturen.
Bei Adorno ist es aber ein anderer Aspekt als bei Bloch. In der Frage des politischen Engagements habe ich immer größere Neigungen zu Bloch gehabt als zu Adorno. Adorno ist vielleicht der größere, präzisere und konsistentere Philosoph, wie die immanente Struktur der Auseinandersetzung mit der Tradition, seine Kritik an Heidegger und Husserl beweisen, aber nicht in Bezug auf die praktischen Potentiale. Ich glaube an die Besserungspotentiale auch in der Gegenwart. Darum auch der Hölderlin Satz, der nicht bloß taktisch gemeint ist. Das war der eine Grund.
Der andere Grund für den Hölderlinsatz hat etwas mit der jetzt "offenen Geschichte" zu tun. Der Zusammenbruch der militärischen Ost-West Konfrontation ist doch ein gewaltiges Ereignis mit großer Reichweite. Vierzig Jahre hat es Kämpfe und bedrohliche Situationen gegeben. Bei der Berlin-und Kuba-Krise bestand die tödliche Gefahr eines Vernichtungsschlages mit unabsehbaren Folgen für die Bewohnbarkeit des Erdballs. Die Ausbalancierung der Spannung ist nur gehalten worden, weil es eine exakt arbeitende gegenseitige Sensibilität für die Wahrnehmung dieser Gefahren gab. Mit diesem gewaltigen Bruch - dem Ende der Nachkriegsgeschichte - brechen imperiale Territorien, Terrorsysteme innerhalb weniger Jahre zusammen. Für mich ist das ein Akt der Befreiung, ein revolutionärer Vorgang beträchtlichen Ausmaßes. Es besteht die Möglichkeit der Reorganisierung der Welt ohne diese tödliche Drohung.
Die Geschichte ist offen. Sie kann sich aber sehr schnell wieder schließen, wenn es uns nicht gelingt, Formen und Gefäße zu finden, in denen Verhältnisse angemessen existieren können. Die Sowjetunion war ein zu großes Gefäß, eine für den einzelnen nur schwer nachvollziehbare Abstraktion. Dieses Imperium musste zerfallen. Offensichtlich ist es die Politik von Gorbatschow gewesen, den Zerfall in Stammesidentitäten durch die Aufrechterhaltung eines Rahmens zu verhindern. Die Tragödie liegt darin, dass diese Politik nicht gelungen ist. Gorbatschows Scheitern zeigt, mit welchem Problem wir es in den nächsten Jahrzehnten zu tun haben.
Darum auch kein Zweckoptimismus. Geschichtliche Prozesse verlaufen nicht linear und sind auch nicht voraussehbar. Chancen und Tragödien liegen häufig eng beieinander wie bei der deutschen Einheit. Dieses zerrissene Bewusstsein jetzt bei vielen Deutschen, Chance und Tragödie zugleich zu sein, produziert neue Tragödien. Aber es müsste nicht so sein. Darauf Aufmerksamkeiten zu richten, ist auch die Frage meines Politikverständnisses.
Im Anhang zu den "geschichtsphilosophischen Thesen" weist W. Benjamin auf das "Bilderverbot" hin, das sich bekanntlich auch die Gründerväter der Kritischen Theorie zu eigen gemacht haben. Allein im Erinnern, im Blick auf Vergangenes und in der Arbeit am Vergangenen könnte demnach die Anwesenheit der Zukunft gedacht und prospektiv angegangen werden. Dennoch war für Benjamin die Zukunft nicht leer. In jedem Augenblick und in jeder Aktion konnte sich die Pforte der Zukunft öffnen, durch die der Erlöser treten könnte.
Können wir heute noch mit so einem rückwärtsgewandten Zukunftsbild operieren? Wird durch diesen Rückgriff auf die schicksalshaften Bahnen der Vergangenheit nicht das vielfältige Feld künftiger Möglichkeiten blockiert, weil die Zukunft zur Geisel des Vergangenen gemacht wird? Käme es nicht darauf an, Benjamins "Engel der Geschichte" umzudrehen und sich auf diese Weise von den aufgehäuften Trümmern abzuwenden und neu zu beginnen?
Oskar Negt: Es wäre schön, wenn wir von der Vergangenheit durch einen bloßen Willensakt wegkämen. Leider geht es nicht. Je mehr Bestand an ungelösten oder halbgelösten Problemen in der Vergangenheit vorhanden ist, desto weniger ist es möglich. Erst wenn tatsächlich alles problemlos geworden, alles erledigt ist, arbeitet es nicht mehr im Dunkeln weiter. In Deutschland, aber auch in ganz Europa haben wir es mit einer Geschichte zu tun, die sehr viele Gefühle, auch kollektive Gefühle verletzt hat.
Denken Sie an die Kollaborationsgeschichte des Vichy-Regimes in Frankreich, eine verdammt schmutzige Angelegenheit, die vor einigen Jahren hochgekommen ist. Viele Franzosen waren ganz offensichtlich froh, dass Juden abtransportiert wurden. Oder denken Sie an die Racheakte der Serben an Kroaten und umgekehrt. Es handelt sich dabei um Verletzungen, die sehr weit zurück gehen. Wo solche Gefühlsbetroffenheiten nicht bearbeitet und eine Anerkennung öffentlich nicht erfolgt ist, ist dieses Abtrennen, dieses "Strich-drunter und Schwamm-drüber" nicht möglich. Ein aktiver Blick in die Vergangenheit in Richtung einer aktiven Bewältigung ist daher die am wenigsten aufwendige Form.
Was nun die Sache mit dem "Engel der Geschichte" angeht, die Sie erwähnt haben, so meine ich: Fortschritt bedeutet heute im Wesentlichen, die liegengebliebenen Probleme der Vergangenheit menschlich zu bewältigen und zu lösen. Es geht nicht mehr um den Entwurf nach vorne, immer nach vorne und immer besser, sondern es geht um die Erweiterung der Sensibilität für geschichtlich-gesellschaftliche Probleme. Sie aufzugreifen, sie zu bearbeiten und sie lösbarer zu machen - vielleicht nicht zu lösen, wir sind endliche Menschen -, ist augenblicklich die Aufgabe für die Zukunft. Der Tod, selbst ein würdiger Tod, wird für uns bedrohlich und schmerzlich sein und Stillstand bedeuten. Das Ende der Geschichte, das Ende der Bewegung der Geschichte halte ich jedoch für undenkbar. Aber die Geschichte in Richtung auf ein größeres Bewusstsein dafür zu verändern, was der bisherige Fortschrittsbegriff an den Rändern und schließlich auch im Zentrum für die neue Generation übriggelassen hat, halte ich für unabdingbar möglich.
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