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VW. Das Auto. Der Betrug. Die Paten

VW-Markenhochhaus. Bild: Vanellus/CC BY-SA-4.0

In diesen Tagen hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass der Einbau von Manipulationssoftware in einem straff geführten Konzern wie VW der Konzernführung anzulasten ist. Sie habe arglistig Käufer und staatliche Aufsichtsbehörden getäuscht

Über fünf Jahre hat die VW-Konzernspitze allen Ernstes und seelenruhig behauptet, dass sie davon nichts gewusst habe und aus einem gnadenlos hierarchisch geführten Konzern einen führerlosen Haufen mit konspirativen Zellen gemacht. Man muss hinzufügen, dass mit Piech jemand an der VW-Konzernspitze war, dessen Führung so beschrieben und geschätzt wurde: "Er hat (…) eine Unternehmungskultur geschaffen, die als 'Nordkorea minus Arbeitslager' bezeichnet wurde." (FR vom 18./19. März 2017)

Die Vollverschleierung eines Wirtschaftsverbrechens

Der offiziellen Erzählung zufolge flog die systematische Manipulation von Diesel-Abgaswerten erst auf, als 2014 ein Forschungsinstitut in den USA die angegebenen Prüfwerte mit den tatsächlichen Werten verglich und in der Folge ihrer Untersuchungen eine eigens dafür geschaffene Software ausfindig machen konnte, die diese Manipulation serienmäßig garantierte. Dabei handelte es sich um keine kleinen Abweichungen: "Als die Sache schließlich in den USA aufflog, stellten die Prüfer fest, dass VW-Diesel im Alltagsbetrieb die festgelegten Emissionsgrenzen um das bis zu 40-Fache überschritten." (SZ vom 30./31. Januar 2016)

VW verhandelte daraufhin offensichtlich ganz diskret mit den US-Behörden und unterließ bis September 2015 die Unterrichtung der Kunden und Aktionäre. Erst als diese diskreten Verhandlungen zur Abwendung eines Klageverfahrens scheiterten, äußerte sich die VW-Spitze dazu. Man zeigte sich erschrocken ob dieser Beweise und erklärte sich für ahnungslos. Nicht ganz, denn die VW-Führungsspitze will hingegen ganz genau wissen, dass sie diese systematischen Manipulationen nie und zu keinem Zeitpunkt angeordnet habe. Aber selbstverständlich werde sie, rechtschaffen wie sie ist, diesem Vorwurf nachgehen und mit allen dafür zuständigen Behörden zusammenarbeiten. Als Zeichen äußerster Kooperationsbereitschaft verfasste die VW-Konzernführung ein internes Schreiben an alle untergebenen VW-Mitarbeiter, ihr mögliches Wissen preiszugeben.

Das "schwarzen Schaf" und der Hirte in Blütenweiß

Der Aufruf zu "internen Ermittlungen" hatte den vorhersehbaren Erfolg. Seitdem wissen wir, dass sich ein Mitarbeiter aus der mittleren Führungsebene als Zeuge bei der Braunschweiger Staatsanwaltschaft gemeldet und dabei sich und weitere Kollegen belastet habe. Das meldete zumindest der Medienverbund aus Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR.

Ob man die Aussagen dieses Kronzeugen von der Staatsanwaltschaft zugespielt bekommen oder dieser sich selbst gegenüber dem Medienverbund geäußert hat, verschweigt die Pressemeldung. Wortreicher ist sie hingegen, was der Kronzeuge als Insider des Manipulationskartells gesagt haben soll: Man habe auf der Führungsebene der Abteilung "Motorenentwicklung" im Alleingang entschieden, diese Manipulationssoftware zu entwickeln. Das habe man ganz konspirativ gemacht, ohne andere Abteilungen darüber zu informieren. Dazu gab man sich ein "Schweigegelübde". Auch die Führungsebene des Konzerns wurde nicht eingeweiht, geschweige denn, dass von dieser die Anweisung zur Entwicklung und Verbauung dieser Manipulationssoftware gekommen wäre.

Warum sollten aber Führungskräfte der Abteilung "Motorenentwicklung" etwas tun, was sie sonst nie tun würde - ohne Anweisung, ohne Auftrag handeln? Warum sollten sie der Konzernspitze etwas abnehmen, wofür sie verdammt gut bezahlt wird (ca. 17 Millionen Euro im Jahr für Konzern-Chef Winterkorn)?

Das Motiv für dieses nicht autorisierte Handeln einer konspirativen Zelle innerhalb des VW-Konzerns hat etwas von "Tausend und eine Nacht": Die Konzernspitze, so der "Insider", hätte Vorgaben bei den Diesel-Abgaswerten gemacht, die sie nicht - legal - umsetzen konnten. Um das Versagen zu vertuschen und den Chefs zu gefallen, habe man auf eigene Rechnung diese Software entwickelt:

Die Motoren-Entwickler sahen sich damals von der Konzernspitze heftig unter Druck gesetzt, vor allem für den US-Markt eine schnelle und kostengünstige Lösung für einen sauberen Diesel-Motor zu präsentieren. Statt dem Vorstand zu offenbaren, dass man dies nicht schaffe, habe man sich für einen Betrug entschieden. Nach Angaben eines der Mitwirkenden habe es sich um eine Art "Verzweiflungstat" gehandelt.

SZ vom 23.1.2016

Dieses Geständnis rührt zu Tränen und ruft nach therapeutischer Hilfe … und einer völligen Neuaufstellung des Konzernes.

Wenn man diese rührselige Geschichte von Mitarbeitern liest, die alles für ihren Konzern geben, dann kann man der Konzernspitze zu solchen Mitarbeitern nur gratulieren: Zuerst begehen sie systematischen Betrug, ganz uneigennützig und hingabevoll, und dann stellen sie sich freiwillig, um die Folgen dieses Betruges ganz aufopferungsvoll auszubaden?

Weniger episch könnte man sagen: Ein solcher "Kronzeuge" kam wie gerufen. Wie gemalt. Er macht sich und ein paar weitere aus seiner Abteilung zu "schwarzen Schafen", damit die Herde weiterziehen und der Oberhirte ungeniert verkünden kann:

Wir werden nicht zulassen, dass uns diese Krise lähmt, wir nutzen sie als Katalysator für den Wandel, den Volkswagen braucht.

VW-Vorstandschef Matthias Müller am 10. Dezember 2015

Staatliche Aufsicht - Teil des Problems oder Teil der Lösung

Lassen wir fürs Erste einmal die Frage ruhen, ob es über zehn Jahre hinweg eine konspirative Zelle im VW-Konzern gegeben hat, die ohne Wissen und Zustimmung der Konzernführung zu deren Wohl gehandelt hat.

Die nächste Frage, die sich bei der Deutschen Bank wie bei VW stellt: Handeln Konzerne gegen die staatliche Aufsicht oder kann dies nur mit Billigung staatlicher Behörden - über so viele Jahre hinweg - unaufgedeckt geschehen.

Glücklicherweise lässt sich dies im Fall VW recht eindeutig beantworten.

Ganz sicher ist dokumentiert, dass der ADAC bereits 2010 auf mangelhafte, also manipulierte Mess- und Prüfergebnisse (nicht nur) bei Diesel-Fahrzeugen aufmerksam gemacht hatte. Sie führten eigene Tests durch und kamen durchweg zu dem Schluss, dass die Ergebnisse auf dem Prüfstand eklatant von den Abgaswerten abweichen, die ein Fahrzeug im normalen Fahrbetrieb erreicht. Die Kritik am gegenwärtigen Prüfverfahren und die Forderung, Abgaswerte nicht im simulierten Testverfahren, sondern im wirklichen Leben zu überprüfen, blieben den dafür zuständigen staatlichen Stellen nicht verborgen. Der ADAC richtete Anfang Juni 2010 einen zweiseitigen Brief ans Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Berlin. Der Brief, die Aufforderung, diese Trickserei abzustellen, blieb folgenlos.

Und es stellt sich, mit Blick auf die in den USA angestellten Untersuchungen und Ergebnisse, die Frage: Gibt es in Deutschland keine Institute, die damit beauftragt wurden, das Herzstück eines Motors, die elektronische Steuerung, auf ihr "Innenleben" zu überprüfen? Würde das nicht zu einem staatlichen Prüfverfahren gehören, wenn neue Autos zugelassen werden? Warum wurde nie die Software untersucht, die entscheidend Auskunft darüber geben könnte, ob die vorgeschriebenen Diesel-Abgaswerte auch eingehalten werden?

Nicht nur dieser Brief lag den staatlichen Aufsichtsbehörden vor: "In den Akten des Umweltministeriums finden sich dazu neben dem ADAC-Brief noch weitere erhellende Unterlagen. Sie dokumentieren, wie schwer es in Deutschland und Europa ist, gesetzliche Grenzwerte zum Schutze der Umwelt durchzusetzen, wenn es gegen die Interessen der einflussreichen und mächtigen Autoindustrie geht. Gegen BMW und Daimler, gegen Fiat und Volkswagen." (s.o.)

Man braucht keine Miss Marple, um einen Zusammenhang zwischen systematischer Manipulation und unterlassener staatlicher Aufsichtspflicht herzustellen.

Mit der ganzen Härte des Gesetzes?

Was in Deutschland hätte schon lange passieren müssen, ist hingegen in den USA geschehen. Zähneknirschend machen sich nun auch deutsche Staatsanwälte an die "Aufklärung". Mal wird bekannt, dass die Braunschweiger Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen VW-Chef Winterkorn ermittle, was wenig später dementiert wird.

Ob die Braunschweiger Staatsanwaltschaft willens oder bereit ist, unstrittige Rechtsbrüche zu verfolgen, ist nicht nur eine Frage des Wollens. Denn sie kann nur das verfolgen, was das Strafrecht für sanktionsfähig hält.

Das deutsche Strafrecht kennt keine Konzernführung, die für das verantwortlich ist, wofür sie fürstlich bezahlt wird

So kurios es anmutet, so wahr ist es: Die Staatsanwaltschaft kann kein Ermittlungsverfahren gegen die VW-Konzernführung einleiten. Der VW-Konzern, wie jedes andere Unternehmen auch, ist kein "sanktionsfähiges Subjekt". Im existierenden Strafrecht, das sich auf Straftaten in und durch Unternehmen bezieht, herrscht Mittelalter. Man kennt dort nur "natürliche Personen", denen man individuell nachweisen muss, dass sie die mögliche Straftat begangen haben.

Dass ein Unternehmen nicht aus "natürlichen", also gleichen Personen besteht, sondern aus Hierarchien, in denen Menschen Anweisungen ausführen und ganz wenige Anweisungen erteilen, ignoriert das Strafrecht. Dass in einem Unternehmen weisungsgebundene Organisationsstrukturen vorherrschen und private, persönliche Motive konstitutionell keine Rolle spielen, weiß eigentlich jedes Kind - nur das Strafrecht nicht.

Wenn z.B. Deutsche Bank-Mitarbeiter über Jahre Libor-Zinssätze (zugunsten ihrer Bank) manipuliert haben, dann suggeriert das deutsche Strafrecht, dass diese Mitarbeiter aus "Untreue", also gegen ihr Unternehmen gehandelt hätten. Dass das absurd ist, dass die Manipulation der Libor-Zinssätze einzig und alleine dem Unternehmen zugutekam, stört nicht. Dieses deutsche Strafrecht sanktioniert also nicht Rechtsbrüche von Unternehmen, sondern imaginiert mit dem Vorwurf der Untreue ein "schwarzes Schaf", das die "weiße Weste" des Unternehmens beschmutzt haben soll.

Nun werden viele auf dem Gebiet der Rechtspflege Versierte einwenden, dass das Strafrecht keine Handhabe gegen Unternehmen vorsieht, dass der Staatsanwaltschaft also die Hände gebunden seien. Seit Jahrzehnten. Genauso lange wird dieses "Manko" mit breitem Wohlwollen und großer Gelassenheit durch alle Regierungsparteien hindurch hingenommen.

Organisierte Kriminalität (OK) in Verbindung mit organisierter Untätigkeit staatlicher Behörden

Wolfgang Hetzer ist promovierter Rechts- und Staatswissenschaftler und war von 2002 bis 2013 Abteilungsleiter im Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF/Office Européen de Lutte Anti-Fraude). Man kann folgender Einschätzung also profundes Wissen unterstellen. Was Wolfgang Hetzer mit Blick auf die Deutsche Bank ausführt, lässt sich strukturell auch auf den VW-Skandal übertragen:

Sicher: Banker (männlich wie weiblich) sind regelmäßig gepflegt und hübsch angezogen. Sie ähneln kaum Drogen- und Menschenhändlern, Rockern oder anderen zwielichtigen Gestalten. Damit sind die Akteure der Finanzwelt aber noch nicht aus dem Schneider. Nach dem in Deutschland vorherrschenden Verständnis reicht für die Annahme Organisierter Kriminalität im Wesentlichen die planmäßige Begehung von Straftaten aus. Nach einer anderen Auffassung bezieht sich der Begriff auf kriminelle Organisationen, also Gruppen mit "formaler Struktur". Schließlich könnte man auch die Ausübung von Macht als das zentrale Element Organisierter Kriminalität sehen, ausgeübt durch Kriminelle alleine oder in Allianz mit anderen Kriminellen und/oder Angehörigen der gesellschaftlichen "Eliten". Im Hinblick auf die zweite genannte Variante erscheint Organisierte Kriminalität als ein systemischer Zustand, gekennzeichnet durch die Korrumpierung der verfassungsmäßigen Ordnung im Zusammenwirken von Unterwelt, Wirtschaft und Politik.

Wolfgang Hetzer: Ist die Deutsche Bank eine kriminelle Vereinigung? Die Kriminalpolizei, Ausgabe März 2014

Selbst ohne die Einführung eines Unternehmensstrafrechts wäre es also möglich, dem Irrwitz von Einzeltätern und schwarzen Schafen ein Ende zu bereiten. Wenn man in Erinnerung ruft, wie schnell Gesetze verschärft oder "Lücken" geschlossen werden, wenn man denn will, der ahnt, dass genau diese "Lücke" gewollt ist.

Die (Teil-)Privatisierung des Rechtstaates

Während bei jeder (anderen, also passender) Gelegenheit die ganze Härte des Gesetzes eingefordert wird, macht der Rechtstaat im Fall VW erst einmal eine große Pause. Selbst Ermittlungen einzuleiten, dauerte eine halbe Ewigkeit. Erst als in den USA mehrere VW-Manager festgenommen wurden und ausgepackt hatten, erinnerte man sich am Standort Deutschland an die Rechtsgrundsätze und nahm ganz langsam und ganz behutsam Ermittlungen auf. Nun kann man nicht sagen, dass in der Zwischenzeit gar nichts passiert sei - abgesehen von den Vertuschungen und Ehrenerklärungen der Politik für VW.

Der VW-Konzern hatte gegen sich selbst ermittelt. Nun, das klingt ein bisschen hart und schonungslos. Genauso sollte es zumindest aussehen. Die VW-Bosse hatten sich eine Rechtsanwaltskanzlei gesucht und gefunden: die Großkanzlei Jones Day.

Diese sollte mit dem Segen und mit noch mehr Geld vom VW-Konzern die Schuldigen für die Diesel-Gate-Affäre finden. Sie bekamen die betreffenden Unterlagen und konnten beliebig viele Mitarbeiter befragen. Sie haben viel gearbeitet, viel ausgewertet und viel Papier beschrieben. Am Ende dieser aufwendigen privaten Rechtsfindung stand ein Abschlussbericht. Ich möchte die LeserInnen nicht zulange auf die Folter spannen und das Ergebnis - Sie werden vom Hocker fallen - in einem Satz zusammenfassen: Die Konzernführung hat nichts gewusst, sie hat nichts damit zu tun, sie ist sowas an unschuldig. Diese Privatjustiz hat sich rundum ausgezahlt.

Nun geht es genau um diese Akten. Die Staatsanwaltschaft II in München hat 185 Akten und elektronisches Material beschlagnahmen lassen, um die dort dokumentierten Erkenntnisse mit in ihre Ermittlungsarbeiten einfließen zu lassen. Das hat die Anwaltskanzlei und den VW-Konzern gleichermaßen sehr erzürnt, nach dem Motto: Was wir privat ermitteln, ist unsere Privatsache. Nun liegt das ganze Verfahren erst einmal auf Eis und bei Gericht, das über die Freigabe der beschlagnahmten Beweismittel zu entscheiden hat.

Was passieren würde, wenn die Kanzlei und VW Recht bekämen, hat Klaus Ott für die Süddeutschen Zeitung sehr treffend beschrieben:

Sollten VW und Jones Day obsiegen, dann hätte das verheerende Folgen. Dann wäre eine Aufklärung von großen Wirtschaftsdelikten kaum noch möglich. Dann könnten Konzerne mit eigenen Untersuchungen den staatlichen Ermittlern zuvorkommen; könnten brisante Akten in Anwaltskanzleien auslagern und vor dem Zugriff der Behörden schützen; könnten einen rechtsfreien Raum schaffen.

Klaus Ott: Akten her! SZ vom 22.12.2017

Deshalb fordert der Kommentator die Herausgabe der Akten und schließt mit einem blitzgescheiten Satz:

Alles andere liefe, zumindest teilweise, auf eine Privatisierung des Rechtsstaats hinaus. Konzerne, die gelogen und betrogen haben, könnten sich geschickt aus der Affäre ziehen. Könnten Top-Verdiener (besser gesagt: Top-Kassierer) wie den früheren VW-Chef Martin Winterkorn weiter schonen. Könnten Leute wie Stadler, die nicht gewusst haben oder nicht wissen wollten, was im eigenen Haus geschah, weiter im Amt belassen. Während andere, die aus den mittleren Etagen, ihre Köpfe hinhalten müssen.

Klaus Ott

Andauernde Intransparenz als Grundrecht des VW-Konzerns

Der VW-Konzern geht noch einen Schritt weiter: Er will vom angerufenen Bundesverfassungsgericht bestätigt bekommen, dass es - für einen führenden Autokonzern - ein Grundrecht auf "andauernde Intransparenz" gibt. Genau dies hat das Oberlandesgericht (OLG) in Celle im November 2016 festgestellt,und der Klage von VW-Aktionären stattgegeben, die die Einsetzung eines Sonderprüfers gefordert haben: "Der Sonderprüfer hat den Auftrag herauszufinden, was Vorstand und Aufsichtsrat von VW wann von den Manipulationen erfahren und ob sie ihre Pflichten verletzt haben." (SZ vom 29.12.2017)

Dagegen klagte der VW-Konzern, um abermals Zeit zu schinden, die Gold wert ist. Wie das Bundesverfassungsgericht auf Anfrage mitteilte, ist ein Entscheidungstermin "derzeit nicht absehbar". Und genau das spielt dem VW-Konzern perfekt in die Karten. Ende 2017 verjähren Schadenersatzansprüche gegen die Autohändler, bei denen Diesel-Kunden Fahrzeuge gekauft haben. Und Ende 2018 verjähren Ansprüche gegen Volkswagen. In der Summe geht es um mehr als acht Milliarden Euro Schadensersatz.

Das kommentiert die SZ auf ihre Weise: "Volkswagen wehrt sich bis zum Äußersten, mit allen rechtlichen Mitteln, gegen noch mehr Aufklärung." (s.o.) Noch mehr Aufklärung? In welchem schonungslosen Aufklärungsfilm waren die SZ-Redakteure?

Was in Deutschland "schwarze Schafe" sind, verfolgt man in den USA als Verschwörung

Bevor wir über den großen Teich fliegen, noch einmal ein kurzer Blick auf die hauseigene Homestory von VW: In dieser wurde ein knallhart geführtes Unternehmen in einen Haufen autonomer Zellen verwandelt, die alle ihr eigenes Ding drehten. In ihr wird die Mär von "ehrgeizigen Einzeltätern" erzählt, die ohne Anweisung und gegen den Willen der Konzernführung eigene Produkte erfunden hatten und einbauen ließen, hinter dem Rücken einer ehrenhaften Konzernführung.

In Deutschland gibt es wahrscheinlich nicht einmal mehr Kinder, die dem Konzern diese Fantasy abnehmen. Muss ja auch nicht sein, denn VW verkauft ja im wesentlichen Autos und dieses Geschäft brummt. Zugleich kann sich der VW-Konzern auf die jeweilige Regierung verlassen, die alles unterlässt, damit kriminelle Handlungen wirksam bekämpft werden können.

Die einzige Justiz, die bis dato der VW-Konzern in Deutschland zu fürchten hatte, waren die Börse und die Aktionäre und die bestrafen keine kriminellen Handlungen, sondern ungenügende Gewinne. Und so konnte die VW-Aktie in aller Ruhe das tun, was Anleger und Investoren wirklich bewegt: steigende Aktienkurse und satte Dividenden.

2010 lag der Aktienkurs bei etwa 58 Euro. 2020 steht der Aktienkurs der VW-Aktie bei etwa 134 Euro.

Wer behauptet, dass sich kriminelles Handeln nicht lohne, der wird hier eines Besseren belehrt.

In Deutschland werden überall Verschwörungsphantasien aufgedeckt und bloßgestellt. In den USA wird der VW-Konzern wegen Verschwörung angeklagt

Es gibt sicherlich nicht allzu viel, was man am Rechtssystem in den USA loben kann. Dazu gehört jedenfalls ganz sicher ein Unternehmensstrafrecht, das sich nicht im Mittelalter aufhält, sondern im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts. Dank dieses Unternehmensstrafrechts können dort Konzernführungen für das verantwortlich gemacht werden, was im Konzern, unter ihrer Führung passiert. Und genau das wurde im "Fall VW" angewandt. Dort wurden nicht nur gegen VW-Manager ermittelt. Sie wurden angeklagt, nicht als "schwarze Schafe", sondern als Mitglieder einer Verschwörung.

In Deutschland muss man in diesem Kontext erst einmal heftig schlucken. Verschwörungen gelten hier seit Langem als Hirngespinste, in Form schwachsinniger Phantasien. In aller Regel befasst man sich hier mit Verschwörungen nur in Anführungszeichen - so ähnlich wie die "DDR", die es in der Bundesrepublik nur in Anführungszeichen gab.

In den USA ist eine Verschwörung keine fieberhafte Erscheinung, keine Fata Morgana, sondern eine spezifische Form der kriminellen Organisation. Deshalb lautet korrekt und treffend die Anklage der US-Behörde: "Verschwörung zum Betrug und des Verstoßes gegen Umweltgesetze".

Der dort angeklagte VW-Manager Oliver Schmidt wurde 2017 zu sieben Jahren Haft verurteilt: "Der 48-jährige Deutsche hatte seine Mittäterschaft beim 'Dieselgate'-Skandal zunächst abgestritten, im August bekannte er sich jedoch schuldig und ging einen Deal mit der Staatsanwaltschaft ein. Dadurch wurden mehrere Anklagepunkte gestrichen." (zdf.de vom 06.12.2017) Und während sich die "Ente" von verängstigten bis verselbstständigten Ingenieuren in Deutschland bis zum jetzigen Urteil gehalten hat, ist sie in den USA längst geschlachtet worden. Dort hatten sich mehrere VW-Mitarbeiter aus dem mittleren Management als Kronzeugen zur Verfügung gestellt und diesem absurden Spiel ein Ende bereitet. Und ganz plötzlich und ganz leise wusste die VW-Konzernspitze ganz genau, was sie tun musste: Sie war sofort bereit, insgesamt mehr als 25 Milliarden Euro an Kosten für Strafen und Entschädigungen für etwas zu bezahlen, wovon sie noch weniger als nichts wusste.

In Kenntnis und Billigung

Das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 25. Mai 2020 hält fest, dass in der Dieselgate-Angelegenheit nichts zufällig, nichts in absoluter Ahnungslosigkeit geschehen ist und schon gar nicht gegen die VW-Führung gehandelt wurde:

Die Beklagte (der VW-Konzern, d.V.) hat auf der Grundlage einer für ihren Konzern getroffenen grundlegenden strategischen Entscheidung bei der Motorenentwicklung im eigenen Kosten- und damit auch Gewinninteresse durch bewusste und gewollte Täuschung des KBA systematisch, langjährig (…) Fahrzeuge in Verkehr gebracht, deren Motorsteuerungssoftware bewusst und gewollt so programmiert war, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur auf dem Prüfstand eingehalten wurden.

VI ZR 252/19 vom 25. Mai 2020 [1]

Eigentlich müsste ein solches Urteil sofort strafrechtliche Schritte nach sich ziehen. Denn es geht hier um die Täuschung von Bundesbehörden (Kraftfahrt-Bundesamts/KBA), um die Täuschung von Anteilseignern, zu denen auch das Land Niedersachsen mit 11,8 Prozent zählt.

Und man darf es in Corona-Zeiten auch einmal sagen: Es geht um die Gesundheit der Menschen, um ein selbstgemachtes Virus namens Gewinnmaximierung.

Von Wolf Wetzel ist zuletzt das Buch "Der Rechtsstaat im Untergrund: Big Brother, der NSU-Komplex und die notwendige Illoyalität" im PapyRossa Verlag (2015) erschienen.


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