"Väterlich in die Wangen kneifen"
Ägypten: Mithilfe des Militärs und des Establishments konsolidiert das Regime seine Macht
Statt die Zügel aus der Hand zu geben, organisiert sich das „System Mubarak“ neu und konsolidiert, dabei vom Westen unterstützt, seine Macht. „Game over“, wie es in der vergangenen Woche auf Plakaten immer wieder voller Zuversicht geheißen hatte – dieser Spruch ist von Ägyptens Straßen verschwunden. Gleichzeitig wirkt ein erster "Terroranschlag" im nördlichen Sinai beunruhigend.
Zum „Day of Departure“ war der Freitag ausgerufen worden. Aber aus dem Tag, am dem Hosni Mubarak zurücktreten und vielleicht sogar das Land verlassen würde, wurde nichts. Zwar feierte eine Viertelmillion Menschen am Tahrir-Platz, beschützt vom Militär, ein Volksfest. Man ließ ägyptische Fahnen im Wind wehen und beschwor singend und klatschend den Rücktritt Mubaraks. Ähnliches erfolgte am Samstag, wenn auch unter geringerer Beteiligung, geschätzten 100.000 Menschen. Aber die „Revolution“ wird langsam müde, während auf der anderen Seite die ausgewechselte Regierung unter Hosni Mubarak und seinem Vizepräsidenten Omar Suleiman mit westlicher Unterstützung auf „ordentlichen Übergang“ machen.
Wohin ihre „Revolution“ nach 13 Tagen Bewegung gehen soll und vor allem, gegen wen und was sie sich konkret richtet, darüber sind sich die Demonstranten am Befreiungsplatz allmählich nicht mehr so sicher, zumindest, wenn die Frage nach der Rolle der ägyptischen Armee beim anvisierten Regimewechsel auftaucht. Soldaten und Panzer haben den Sicherungsring um den Platz und die Demonstranten enger geschlossen, während alle, die dazustoßen wollen, strengen Sicherheitskontrollen unterzogen werden.
Die Armeespitze am Platz der Befreiung
Den Platz inspizierten laut Medienberichten am Samstag gleich mehrere Vertreter der Armeespitze. Die New York Times berichtet vom Besuch des Brigadegenerals Hassan Al-Rawaini, der die seit fast zwei Wochen in der Nähe des Nationalmuseums ausharrenden Demokratiekämpfer aufforderte, ihre Barrikaden abzubauen, angeblich, um den Verkehr wieder passieren zu lassen.
Dabei trat er „demokratisch“ auf, offerierte ihnen sein Mikrophon, damit sie ihre Sorgen lauter aussprechen konnten, küsste einige aufs Haupt und kniff sie väterlich in die Wangen. Einige Demonstranten formierten aus Furcht, die Armee würde den Platz übernehmen, eine Menschenkette. Andere wiederum stellten sich schützend um den General:
“He wants to tear down these barricades, so that the tanks can come through!” shouted Sayyid Eid, a 20-year-old protester, as he tried to block his way. “We’re going to die here!” yelled Magdi Abdel-Rahman, another protester. “Listen to him! Listen to him!” others shouted back.
Von der Begebenheit existiert neben dem Bericht der New York Times auch ein Youtube-Video. Der legendäre britische Nahost-Journalist Robert Fisk beobachtete vor Ort, dass die Armee die Demonstranten so schnell wie möglich von der Straße haben wollte. Fisk sah am Freitag am Tahrir-Platz den Generalstabschef Mohammed Hussein Tantawi aus einer abgedunkelten Limousine steigen, sofort umringt von Bodyguards.
Here was a visitor to take the breath away, waving briefly to the protesters who crowded the military cordon to witness this extraordinary arrival. The crowd roared. "The Egyptian army is our army," they shouted in unison. "But Mubarak is not ours."
Tantawi sei zwar einer von Mubaraks Freunden aus alten Tagen beim Militär. Aber, so Fisk weiter, der Besuch des ägyptischen Armeechefs, der täglich mit Pentagonchef Robert Gates telefoniert, sei ein symbolischer Ausdruck für das Versprechen der Armee gewesen, dass sie auf die Regimegegner nicht schiessen werde. Nicht nur das: Auf Tantawi geht laut dem britischen Journalisten auch die Erklärung zurück, die Anliegen der Opposition seien „legitim“. Die Armee als Garant des Regimes scheint mittlerweile aber nicht mehr auf den schleunigen Rückzug der Demonstranten zu setzen, sondern auf die langsame Autrocknung der Proteste. Zumindest jetzt.
Nicht ausgeschlossen ist, dass das Militär in naher Zukunft mit Gewalt gegen Demonstranten vorgehen wird. Diese Befürchtung hegt zum Beispiel der Filmemacher und Blogger Philip Rizk. Während die staatliche Propaganda der Bevölkerung die guten Absichten der „neuen Regierung“ zu suggerieren versuche, werde möglicherweise nur ein strategisch günstiger Augenblick abgepasst, bei dem man die Straßen von jedem Anzeichen von Protest säubern werde.
Suleiman: zentrale Forderungen der Oppositon zurückgewiesen
So oder so, die „Regierung“ wird - ebenso wie die Armee - weiterhin angeführt, beziehungsweise repräsentiert von Hosni Mubarak. Die eigentlichen Regierungsgeschäfte betreibt Omar Suleiman, einer der wichtigsten „Broker“ bei den nahöstlichen Machtspielen der letzten Jahrzehnte. Von Massenaufläufen an zentralen Plätzen fühlt sich das Regime offenbar nicht mehr bedroht, so wenig, dass – zumindest in Kairo - sogar Umarmungsversuche stattfinden.
Tatsächlich verhandelt der von Mubarak als sein Vizepräsident eingesetzte Suleiman sowohl mit der Muslimbruderschaft wie mit den kleinen Oppositionsparteien, die vom Regime zugelassen waren, um die von den USA in die Wege geleitete „orderly transition“ fortschreiten zu lassen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz betonte US-Aussenministerin Hillary Clinton dieses Motto erneut. „Das braucht Zeit, es gibt einiges, das zur Vorbereitung unternommen werden muss“. Dazu zählen eine Verfassungsreform und die „Kontaktaufnahme mit Oppositionsgruppen“.
Aber bisher erzielte Suleiman dabei keine Erfolge. Bei Treffen mit der Muslimbruderschaft wie mit der kleinen liberalen Wafd-Partei wies der von westlichen Diplomaten als Mubarak-Nachfolger behandelte Ex-Geheimdienstchef zentrale Forderungen der Oppositon zurück, etwa den sofortigen Rücktritt Mubaraks oder die Beseitigung der Notstandsgesetze. Auch die Aufgabe des Quasi-Einparteiensystems lehnte Suleiman ab.
Zwei Treffen gab es in den vergangenen Tagen auch mit einem selbst ernannten „Rat der Weisen“, der aus einem Dutzend Prominenten, Anwälten und Geschäftsleuten aus der ägyptischen Elite besteht. Der Rat will Mubarak alle politische Macht entziehen, ihm aber zum „Übergang“ eine symbolische Rolle in der Regierung zugestehen. Ausserdem fordert er die Auflösung des Parlaments und das Ende der Notstandsgesetze.
Die Verwandlung der Demonstrationen in eine politische Opposition
Die auf dem Tahrir-Platz vertretenen Mitglieder der Opposition haben sich laut Fisk dagegen am Freitag auf ein 25-köpfiges Gremium geeinigt, das mit Suleiman über eine neue Regierung und eine neue Verfassung verhandeln soll. Dazu gehören Amr Mussa, der Generalsekretär der Arabischen Liga, Achmed Suwail, ägyptisch-amerikanischer Nobelpreisträger und Obama-Berater, Mohammed Selim Al-Awa, der Muslimbruderschaft nahe stehender Professor für Islamstudien, Said Al-Badawi, Präsident der Wafd-Partei, Nagib Suez, Geschäftsmann im Bereich Telekommunikation, Nabil Al-Arabi, ägyptischer UNO-Delegierter und Magdi Yacoub, Herzchirurg.
Fisk bezeichnet das – noch nicht bestätigte Kommittee – als “ersten ernsthaften Versuch, die massiven Strassenproteste...in eine politische Maschine zu verwandeln, die für eine politische Zukunft über den Sturz des verhassten Präsidenten hinaus sorgen kann”. Die kommenden Tage und Wochen werden zeigen, ob diese reformwilligen Kräfte, angefeuert von der Macht der Straße, genug Schubkraft entwickeln können.
Rücktritt der Prateifunktionäre – Gewinner Suleiman und Schafik
In der Parteimaschine Mubaraks, der Nationalen Demokratischen Partei, mussten die - vom Diktator abgesehen - am meisten verhassten Figuren am Samstag abtreten. Zu den bekanntesten in der sechsköpfigen Parteiführung zählten ihr Generalsekretär Safwat Al-Scharif und der Präsidentensohn Gamal Mubarak, der als eine Art Politkommissar fungiert hatte. Einer der neuen Parteifunktionäre Mohammed Kamal sagte gegenüber der Presse, es handele sich „um einen begrüßenswerten Wandel. Er spiegelt die veränderte Stimmung wieder, die unser Land durchzieht“.
Der schnelle Wechsel in der Parteispitze bedeutet dagegen vor allem, dass Vizepräsident Suleiman und der Premierminister Achmed Schafik, die beide aus dem Militär stammen, die unzufriedenen Parteischafe vom Überlaufen zur Opposition abhalten wollen. Ausserdem soll damit Teilen der Opposition ein Brocken hingeworfen werden: akzeptiert Mubarak bis September an der Macht - im Gegenzug muss die alte Partegarde abdanken.
Die Suggestion der Normalität
Unterdessen setzte die Regierung darauf, „Normalität“ zu suggerieren. Das staatliche Fernsehen kündigte an, dass am Sonntag Banken und Gerichte, frühestens ab Dienstag auch wieder die Börse die Geschäfte wieder aufnehmen würden. Diese Normalität begrüsst vermutlich eine schweigende Mehrheit vieler eher unpolitischer Bürger und Mitläufer, die rein finanziell am „Chaos“ der vergangenen beiden Wochen kein Interesse haben und Existenzängste wegen erlittener Verdienstausfälle haben.
Diese vergleichsweise schmale Mittelschicht besteht aus mittleren und unteren Regierungsbeamten und aus Unternehmen, die von der Tourismusindustrie abhängig sind. Oft sind ihre wirtschaftlichen Interessen direkt mit dem Regime verknüpft. Für nicht wenige davon ist Mubarak eine Vaterfigur, der sich zudem als außenpolitischer Friedensbewahrer profiliert hat.
Für diese Schicht ist Mubarak bis September, wenn er, wie selbst angekündigt, abtreten wird, durchaus zu verkraften, solange er “Stabilität“ wiederherstellt. Vom Regime - mit oder ohne Mubarak - profitieren zudem die Sicherheitskräfte und Neureiche sowie Unternehmer, die ihre Kassen mithilfe von staatlichen Aufträgen füllen.
Letztendlich sei die Zustimmung zum herrschenden Regime aber doch sehr dünn, meint dagegen Fawaz Gerges vom Middle East Centre an der London School of Economics.
Denn es habe sowohl die junge als auch die ins mittlere Alter kommenden soziale wie politische Generation entfremdet. Es stütze sich auf etwa 10 Prozent der Bevölkerung und bestehe aus einer „strategischen Allianz aus der Schicht der Geschäftsleute und der herrschenden Elite, mit Unterstützung des staatlichen Sicherheitsapparats“. Der entscheidene Faktor beim Ausgang der „Revolution“ liege beim Militär. Die älteren Ränge würden zu sehr am Regime hängen, aber verheißungsvolle Ansprechpartner für die Opposition sehe er bei den jüngeren Offizieren.