Vegas, virtuelle Stadt

In der Illusionsarchitektur von Las Vegas kündigen sich die entwickelten Virtualitäten und augmentierten Postrealitäten der digitalen Epoche an

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Als das 20. Jahrhundert begann und Paris noch mehr oder weniger das globale Monopol aufs organisierte Vergnügen hielt, beherbergten die wenigen grünen Wiesen am Rande der Mojave-Wüste - Las Vegas - eine einsame Postkutschenstation. Heute steht an derselben Stelle eine Millionenstadt, in der sich im Schnitt täglich 6000 Neubürger niederlassen, in der es praktisch keine Arbeitslosigkeit gibt und die dank über 30 Millionen Touristen, die jährlich gut 25 Milliarden Dollar in die Stadt bringen, 8,5 Prozent Wirtschaftswachstum vorzuweisen hat - mehr als jede andere Region der westlichen Welt. Der Anfang dieses verblüffenden Booms, der nicht nur in der buntgescheckten Geschichte von Las Vegas seinesgleichen sucht, ist leicht zu datieren: Alles begann 1989 mit der Eröffnung eines Hotelkasinos namens Mirage.

Das Wort bezeichnet eine Luftspiegelung, ein Trugbild, eine Fata Morgana. Die Absicht, die Sinne zu verwirren und die Nerven zu reizen, war nun an sich nichts Neues. Über die Verdrängung des schnöden Alltags betreibt man in allen Spielerstädten traditionell die finanzielle Enthemmung des Publikums. Gänzlich neu aber waren die Mittel, zu denen das Mirage und die zahlreichen Hotelkasinos griffen, die ihm folgten: eine High-Tech-Illusionsarchitektur, die jegliche Sorte von imaginativ aufgebesserten Realitäten - ferne Orte, ferne Zeiten - sowie Irrealitäten - historische und popkulturelle Mythen - Stein werden ließ. "Indem die Kasinos ‚Attraktions-Ferienorte' errichten, in deren Zentrum Fantasieerfahrungen stehen", schreibt Howard Rheingold über die eskalierende Entrealisierung von Las Vegas, "übernehmen sie von Filmemachern und Themenparks das Spitzen-Illusions-Geschäft."

Der aufwendig-chaotische High-Tech-Themenpark, zu dem das einst eher neonschäbige Vegas binnen weniger Jahre mutierte, hat die Kulturkritiker, insofern sie vor ihm nicht ohnehin die Augen verschlossen, primär verwirrt. Und in der Tat lässt sich das historisch einmalige Phänomen der High-Tech-Illusionsarchitektur unter den überkommenen Kategorien der analogen Epoche, ihrer Ästhetik, ihrer Massenkultur und deren Kritik kaum begreifen. Las Vegas ist nicht länger Stadt im modernen Sinne. Wie nirgendwo sonst wird hier versucht, schon heute analog zu produzieren, was Virtual-Reality-Techniken zwar in Aussicht stellen, sie aber beim technischen Stand in erträglicher Qualität noch nicht liefern können: die Erfahrung entfernter Räume oder imaginärer Welten sowie von Mythen und Fiktionen, die sich betreten lassen und in denen Partizipation möglich ist.

Ganz Las Vegas ist insofern eine Fata Morgana, eine ästhetische Illusion, ein utopisches Modell, in dem sich sowohl entwickeltere Virtualitäten wie die augmentierten Postrealitäten der digitalen Epoche ankündigen.

Las Venice

Alle weiteren Fotos: Gundolf S. Freyermuth

Der Professor steht, von rot blinkenden Alarmleuchten gespenstisch illuminiert, auf einem Aluminium-Balkon über dem Eingang zum Theater of Sensations. Sein zotteliges weißes Haar hängt über Augen und Ohren, sein Mund grinst zahnlos. Auf dem Monitor neben ihm erscheint ein aufgeregter Roboter. In Form und Farbe erinnert er an einen Stapel blauer Smarties. Der Pilot! Er stammelt von unvorhersehbaren Gefahren ... Bevor irgendwer nachfragen kann, hat ihn der Professor zum Schweigen gebracht, mit verdächtig ruckartigen Bewegungen. Kein Zweifel: nicht nur das elliptische Dosenwesen, auch sein vermeintlicher Konstrukteur ist aus Blech und Silicon. Eilig verteilt eine weiß bekittelte Assistentin Schutzbrillen, dann wird das Publikum in eine schwarze Zelle bugsiert, halb Kinosaal, halb Passagierraum.

Kaum sind alle in den Sitzen angeschnallt, führt die Hetzjagd schon aus Las Vegas hinaus und schallschnell hinein in feuerspeiende 3-D-Schluchten. Aus dem wirbeligen Nichts, einer furchterregenden Ursuppe aus Zeit und Raum, tauchen fantastische Konturen auf. Sie formen sich zu nächtlich glitzernden Kanälen und mittelalterlich-finsteren Fassaden. Das Gefährt stürzt auf sie herab und bremst scharf, die Passagiere zurück in die Sitze schleudernd. Mit einem harten Ruck kommt die Zeitreise vor dem Dogenpalast zum Stehen. Fackeln flackern, wilde Fratzen starren, die kostümierte Menge heult und grölt trunken, die übelsten Gestalten stoßen mit Hellebarden nach den Besuchern.

Wer daraufhin benommen und mit leicht flauem Magen von der computergesteuerten Bewegungsplattform und aus dem Theater of Sensations schwankt, gerät freilich nicht ins Freie, nicht in die heiße Wüstennacht von Las Vegas. Statt dessen öffnet sich der Notausgang auf vollklimatisierte Kopfstein-Gassen und wie von Kerzenlicht erleuchtete Palazzi. Unter dem 21 Meter hohen mild-blauen Himmel schlendern Touristen und in ihrer Mitte bunte Gestalten. Dort Marco Polo, hier Casanova, da drüben am Kanal ein paar Kurtisanen. Den Markusplatz umkreist glucksend eine Hundertschaft trainierter Tauben. Langsam senkt sich die Sonne am filigranen Firmament. Ein Gondoliere hat die Rundfahrt über den halben Kilometer Kunstkanal hinter sich gebracht. Er schmettert, während er das sanft wiegende Gefährt mit den roten Samtsitzen zur Anlegestelle bugsiert, eine letzte Arie.

An exakt der Stelle, an der nun dieses Venedig 2.0 steht, besangen einst Frank Sinatra, Dean Martin und Sammy Davis jr. die Bosse der Mafia und ihre Bräute. Das Sands, 1943 auf dem Las Vegas Boulevard eröffnet, war Stammsitz des legendären rat pack. Mitte der neunziger Jahre kaufte dann Sheldon Adelson, nachdem er die Comdex zur größten Computermesse der Welt gemacht hatte und damit Milliardär geworden war, das Hotelkasino und ließ es implodieren. An seine Stelle zauberte er aus Marmor, Fiberoptik und Licht das Venetian: kunstgeschichtlich exakt und im Maßstab 1:1. "Was wir versucht haben", sagt Adelson, "war eine Nachschöpfung der Romantik des italienischen Venedigs, so authentisch wie möglich." Die erste Baustufe wurde im Mai 1999 von Sophia Loren eingeweiht. Als sie unter Adelsons begeisterten Blicken die obligatorische Champagnerflasche an einer Gondel zerschmetterte, waren für das Venetian bereits anderthalb Milliarden Dollar in den Wüstensand gesetzt worden.

Aufs Konto des Realismus dieser Gegenrealität ging davon einiges. Zwei Jahre lang schufen 300 Künstler, Kunsthandwerker und Restauratoren unter der Aufsicht renommierter Kunsthistoriker aus viel Gips, feuersicherem Kunststoff und 55 000 Quadratmetern Marmor - geschlagen aus dem Steinbruch, der einst die Dogen belieferte - exakte Kopien von Statuen, Basreliefs, Kapitälen und Kragsteinen. In der Luxus-Lobby des Venetian läuft man daher nun zu Vivaldi-Muzak auf derselben Sorte Marmorboden, wie sie in venezianischen Kirchen des 17. Jahrhunderts ausliegt. Einspielen müssen diese Kosten 2500 einarmige Banditen und 120 Spieltische.

Nach den Begriffen von Las Vegas geriet das Venetian allerdings eher klein. Nur 3000 Zimmer, wenn auch samt und sonders Marmor-Suiten von 70 Quadratmetern und ausgestattet mit der modernsten Technik, vom Faxgerät bis zum LAN-Anschluß - das beeindruckt hier niemanden. Daran ändern weder die 6000 Quadratmeter Spa mit eigener Felskletterwand etwas noch der 20 000 Quadratmeter große Pool-Bereich, und auch nicht das Theater of Sensations oder die 20-Millionen-Dollar-Filiale Madame Tussauds mit ihrem animatronischen Elvis, von dessen Lebensechtheit die Produzenten des Professors noch einiges lernen könnten.

Doch die zweite Baustufe kommt bestimmt. Sie soll zusätzlich den Sommerpalast des Dogen samt Lido-Strand in die Wüste von Nevada transportieren. Sheldon Adelson wird dann das mit 6000 Zimmern größte Hotel der Welt besitzen und seine kondensierte Venedig-Kopie, die er selbst "Las Venice" nennt, ästhetisch komplett sein.

Neon an der Wand

Kultur- und Architekturkritiker pflegt angesichts solch High-Tech-gesteuerter Illusionsarchitektur meist das geschichtsphilosophische Grausen zu packen - weil sie diese "Ästhetik der Entrealisierung" eben für mehr als eine isolierte Verirrung halten. Das theoretische Fundament für die beliebten Attacken wurde bereits in den sechziger und siebziger Jahren gelegt. In seiner Studie The Image: A Guide to Pseudo-Events in America (1961) prophezeite der Historiker Daniel Boorstin eine Entwirklichung der bürgerlichen Existenz durch Medialisierung und die mit ihr einhergehende theatralische Inszenierung des öffentlichen Lebens. Später brachte dann Umberto Eco von einer Amerikareise die Theorie der "Hyperrealität" zurück: Die Imitation von Kunstwerken und der komplette Nachbau von Gebäuden, wie er in US-Themenparks üblich wurde, produziere ein Zuviel an Realität; eine Über-Wirklichkeit. Sie enthrone die bescheidenere "originale" Realität und betreibe Entwirklichung.

Ecos Kritik geschah aus der damals noch ungebrochenen Perspektive analoger Moderne. Ihren Glaubenssätzen, dem seit Adolf Loos erklärten und mit dem Bauhaus Lehrmeinung gewordenen Programm, alles Ornamentale und Dekorative wegzurationalisieren, widersprach der Bau fantastischer Gegenwelten. Illusionäre Architektur entstand daher im 20. Jahrhundert kaum und wenn in geringgeschätzten Randbereichen populärer Unterhaltung; außer in Vergnügungsparks etwa beim Bau kleinbürgerlicher Ausflugslokale, die ältere rustikale Bauweisen imitierten, bei der Errichtung früher Lichtspieltheater, deren Gips-und-Plüsch-Opulenz orientalischen Palästen nachgebildet war, oder in den Freizeitwelten von Erholungsorten, deren Architekten sich gelegentlich - wie Morris Lapidus im Miami der fünfziger Jahre - extravagante, meist historistische Experimente erlaubten.

Der Grund für derlei auffällige Verstöße gegen die herrschende Ästhetik funktionaler Kargheit war jeweils derselbe, der schon seit Jahrtausenden für den Bau von "Weltwundern" oder auch spektakulären Glaubenshäusern gesorgt hatte: Dreidimensionale, physisch erlebbare Fantasieräume sind materialisierte Wunschstrukturen. Sie stimulieren und stabilisieren die Produktion der avisierten alternativen Erfahrung, sie initiieren in der Trennung des Fantasieraums vom Alltag psychische Entrückung.

Auf sie, die Vernichtung des Kontinuums alltäglicher Normalität, baute Las Vegas im Wortsinne von Anfang an. Ihrer ökonomischen Basis entsprechend zielte die Stadt stets auf die Verwirrung der Sinne durch illusionäre (Innen-) Architektur - beginnend bei den luxuriösen Faux-Western-Saloons, die entstanden, als 1905 eine Eisenbahnlinie die ersten Spieler in die Wüste karrte. Existierte die Kleinstadt in den Jahrzehnten ihrer provinziellen frontier-Phase gewissermaßen außerhalb der Moderne, so zog in den vierziger und fünfziger Jahren mit der Mafia und dem rapiden Ausbau zur Glücksspielmetropole auch der dominierende Zeitstil ein. Auf ihn, die Betonmoderne, konnte Las Vegas freilich angesichts seines finanziellen Interesses an der kollektiven Halluzination nicht anders als mit Subversion reagieren. Kennzeichnend für sie war der Gegensatz zwischen dem nächtlichen Neon-Mythos und dem schäbigen Stadtbild, das sich bei Tag bot; zwischen schmucklosen Betonbauten also und ihrer verschwenderischen Ornamentierung durch eine kunterbunte Neonflut, durch flackernde Wasserfälle, grelle Lichtblitze und wirbelnde Hula-Hoop-Reifen.

In den fünfziger und sechziger Jahren wurde die typische Las-Vegas-Kombination aus einem vollständigen Entzug alltäglicher Normalität bei gleichzeitigem sensorischem Bombardement perfektioniert. Tom Wolfes klassische Reportage "Las Vegas (What?) Las Vegas (Can't hear you! Too noisy) Las Vegas!!!!" (1964) dokumentiert diese "wunderbare Wirkung von Las Vegas auf die Sinne": jenen "unglaublichen Spießrutenlauf aus elektrischen Zeichen auf dem Las Vegas Strip, U.S. Route 91, wo der Neon und die Parabollampen - blubbernd, in Spiralen aufsteigend, raketengleich aufjagend, zehn Stockwerke hoch in Sonneneruptionen explodierend bis weit hinaus in die Mitte der Wüste - einstöckige Kasinos verherrlichen."

Das Mix aus Funktionalität und Illusionierung analysierten wenig später Robert Venturi und seine Mitarbeiter als enträumlichte Infostruktur, als ein semiotisches System, das die Strukturen der Geografie überlagerte: "Diese Architektur des Stils und der Zeichen ist anti-räumlich; sie ist eine Architektur der Kommunikation über Raum; die Kommunikation dominiert Raum als ein Element in der Architektur und in der Landschaft." Den Verstoß gegen die Dogmen der Moderne rechtfertigte Venturi in seiner revolutionären, 1977 überarbeiteten Studie Learning from Las Vegas als Adaptation an gewandelte Lebensverhältnisse: "Komplexe Programme und Einrichtungen erfordern komplexe Kombinationen der Medien jenseits der reinen Architektur-Triade von Struktur, Form und Licht im Dienste des Raums. Sie animieren zu einer Architektur der starken Kommunikation statt zu einer subtiler Andeutungen."

Dies natürlich war der Rekurs auf eine grundlegende Dualistik von Gegenstand und Bedeutung, die an die Landschaften des Traums erinnerte. Mark C. Taylor meint daher, im aktuellen, zunehmend neonfreien Stadtbild von Las Vegas, in seiner fantastischen Hyperrealität, eine "Wiederkehr des Verdrängten" zu erkennen. Und zweifelsfrei haben die Zeichen, da sie Architektur geworden sind, den vollständigen Sieg über jene gewöhnliche Alltagsrealität erlangt, die sie einst nur des Nachts neu interpretierten. Ungeniert appellieren sie nun ganztägig an die Sehnsüchte, die wir von alternativen Wirklichkeiten hegen.

Insofern die Moderne solche Fantastik ausschloss, hat Las Vegas sie erst de- und dann neukonstruiert. Heute schert sich seine avancierte Illusionsarchitektur nicht länger um Rationalität und Funktionserfüllung. Sie will nur eins: immersive Gegenwelten fabrizieren; und zwar verschwenderischer, technisch besser und ästhetisch spektakulärer, als es zu analogen Zeiten möglich war.